Rz. 12
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der EuGH hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden (EuGH vom 18.11.2010, Rs. C-84/09, X, BFH/NV 2011, 179):
Eine in Schweden ansässige Privatperson (S) beabsichtigte, im UK ein Segelboot für den privaten Gebrauch zu erwerben. Das Boot sollte zunächst im Liefermitgliedstaat UK für einen Zeitraum von 3–5 Monaten für Freizeitzwecke verwandt werden und dabei mehr als 100 Betriebsstunden auf dem Wasser zurücklegen. Im Anschluss an den Segeltörn beabsichtigte S, das Boot auf dem Seeweg an seinen endgültigen Bestimmungsort in Schweden zu bringen.
Nach Ankunft in Schweden wäre das Boot damit nicht mehr "neu" i. S. d. Umsatzsteuerrechts gewesen (Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 1, Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL; zum deutschen Recht vgl. § 1b Abs. 3 Nr. 2 UStG). Daher wollte S vor dem Kauf von den schwedischen Finanzbehörden wissen, ob er mit der schwedischen Erwerbsteuer (25 %) oder mit der niedrigeren britischen Umsatzsteuer (17,5 %) rechnen muss.
S beantragte hinsichtlich der möglichen Besteuerung in Schweden eine verbindliche Auskunft. Zweifel bestanden hinsichtlich der Frage, ob die Beförderung in den anderen Mitgliedstaat innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen muss und welcher Zeitpunkt für die Beurteilung des Fahrzeugs als "neu" maßgeblich sein kann.
Rz. 13
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Nach Auffassung des EuGH sind die Art. 20 Abs. 1 und 138 Abs. 1 MwStSystRL dahin auszulegen, dass die Qualifikation eines Umsatzes als innergemeinschaftliche Lieferung oder innergemeinschaftlicher Erwerb nicht von der Einhaltung einer Frist abhängen kann, innerhalb derer die Beförderung des in Rede stehenden Gegenstands vom Liefermitgliedstaat in den Bestimmungsmitgliedstaat beginnen oder abgeschlossen sein muss. Vielmehr hat die Bestimmung des innergemeinschaftlichen Charakters des Umsatzes im Wege einer umfassenden Beurteilung zu erfolgen, anhand derer ermittelt werden kann, in welchem Mitgliedstaat die Endverwendung des betreffenden Gegenstands beabsichtigt ist.
Rz. 14
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Dabei sind
- alle objektiven Umstände des Einzelfalls sowie
- die Absicht des Erwerbers, sofern diese durch objektive Anhaltspunkte untermauert wird,
zu berücksichtigen.
Rz. 15
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Für die Beurteilung, ob ein Fahrzeug, das Gegenstand eines innergemeinschaftlichen Erwerbs ist, "neu" i. S. v. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b MwStSystRL ist, ist auf den Zeitpunkt der Lieferung des betreffenden Gegenstands vom Verkäufer an den Käufer abzustellen.
Rz. 16
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Janzen (ASR 1/2011, 9) analysiert diesen Gedanken an einem Fallbeispiel aus der Sicht eines Autohauses:
Der Privatmann Emilio Totti (T) aus Turin erwirbt von einem deutschen Händler im April ein Wohnmobil (mit zehn Kilometern auf dem Tacho, erste Inbetriebnahme am Tag der Übergabe) und startet gleich von Deutschland aus zu einer siebenmonatigen Skandinavien-Rundreise. Erst im November bringt er das Wohnmobil an seinen Heimatort nach Turin in Italien.
Lösung:
Selbst wenn T auf seinem Skandinavien-Trip mehr als 6000 km zurücklegen würde, ist das Wohnmobil "neu", weil es dafür nicht auf die Ankunft in Turin, sondern auf die Übergabe in Deutschland ankommt.
Variante:
Hätte T ein gebrauchtes Wohnmobil gekauft, das mehr als 6000 km auf dem Tacho hatte und vor mehr als sechs Monaten erstmals in Betrieb genommen wurde, hätte der deutsche Händler einen steuerpflichtigen Umsatz getätigt. Denn nur "neue" Fahrzeuge, die an Privatpersonen verkauft werden, können steuerfrei innergemeinschaftlich geliefert werden.
Rz. 17
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
TIPP
Für die Anwendung in der Praxis lässt sich Folgendes festhalten:
- Für die Frage, ob ein Fahrzeug "neu" ist, ist auf den Lieferzeitpunkt abzustellen. Nach Art. 68 Abs. 2 MwStSystRL gilt der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen zu dem Zeitpunkt bewirkt, zu dem die korrespondierende innergemeinschaftliche Lieferung als bewirkt gilt. Deshalb ist – auch für die Beurteilung, ob der Gegenstand "neu" ist – der Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht vom Verkäufer an den Käufer maßgebend (Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL; vgl. § 3 Abs. 1 UStG).
- Nach Auffassung des EuGH ist die Regelung über den Leistungsort für den innergemeinschaftlichen Erwerb (Art. 40 MwStSystRL) insoweit – also für die Beurteilung, ob es sich um ein neues Fahrzeug handelt – ohne Bedeutung (anders noch BFH vom 20.12.2006, Az: V R 11/06, BStBl II 2007, 424 unter II.2.c zu § 3d UStG – Segelyacht).
- Der EuGH musste u. a. die Frage beantworten, ob die Qualifikation eines Umsatzes als innergemeinschaftliche Lieferung oder innergemeinschaftlicher Erwerb eines neuen Fahrzeugs von der Einhaltung einer konkreten Frist abhängen kann, innerhalb derer die Beförderung des gelieferten Gegenstands beginnen oder abgeschlossen sein muss. Dies hat der EuGH verneint. Eine solche Frist würde es den Erwerbern ermöglichen, den Mitgliedstaat, in dem der Erwerb eines neuen Fahrzeugs besteuert wird, danach auszuwählen, wo die Steuersätze und Bedingung...