Dipl.-Finanzwirt (FH) Carsten Timm
Rz. 74
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbstständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (= Eingliederungsmerkmale).
Rz. 75
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Es ist nicht erforderlich, dass alle drei Eingliederungsmerkmale gleichermaßen ausgeprägt sind. Organschaft kann deshalb auch gegeben sein, wenn die Eingliederung auf einem dieser drei Gebiete nicht vollständig, dafür aber auf den anderen Gebieten umso eindeutiger ist, sodass sich die Eingliederung aus dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse ergibt (Abschn. 2.8. Abs. 1 S. 3 f. UStAE; vgl. Rz. 76 ff.).
2.3.8.1 Finanzielle Eingliederung
Rz. 76
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Unter der finanziellen Eingliederung ist der Besitz der entscheidenden Anteilsmehrheit an der Organgesellschaft zu verstehen, die es dem Organträger ermöglicht, durch Mehrheitsbeschlüsse seinen Willen in der Organgesellschaft durchzusetzen. Entsprechen die Beteiligungsverhältnisse den Stimmrechtsverhältnissen, war nach der bisherigen BFH-Rechtsprechung sowie der Auffassung der Finanzverwaltung die finanzielle Eingliederung einer juristischen Person gegeben, wenn die Beteiligung mehr als 50 % beträgt, sofern keine höhere qualifizierte Mehrheit für die Beschlussfassung in der Organgesellschaft erforderlich ist (BFH vom 01.12.2010, Az: XI R 43/08, BStBl II 2011, 600; Abschn. 2.8. Abs. 5 S. 1 und 2 UStAE). Der EuGH hält dagegen eine Stimmrechtsmehrheit nicht für erforderlich, wenn der Organträger sonst seinen Willen als Gesellschafter durchsetzen kann (EuGH-Urteil vom 01.12.2022, C-141/20). Dieser Auffassung hat sich der BFH mittlerweile angeschlossen (BFH-Urteil vom 18.01.2023, XI R 29/22). Allerdings soll es weiterhin erforderlich sein, dass der Organträger Mehrheitsgesellschafter ist. Zudem sei eine finanzielle Eingliederung ohne Stimmrechtsmehrheit schwach ausgeprägt, die durch eine stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung ausgeglichen werden müsse.
Für Personengesellschaften soll eine finanzielle Eingliederung bei einer 100 %igen Beherrschung möglich sein.
Rz. 77
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Eine finanzielle Eingliederung setzt eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung des Organträgers an der Organgesellschaft voraus. Es ist ausreichend, wenn die finanzielle Eingliederung mittelbar über eine unternehmerisch oder nichtunternehmerisch tätige Tochtergesellschaft des Organträgers erfolgt. Eine nichtunternehmerisch tätige Tochtergesellschaft wird dadurch jedoch nicht Bestandteil des Organkreises (Abschn. 2.8. Abs. 5 S. 3–5 UStAE).
Rz. 78
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Ist eine Kapital- oder Personengesellschaft nicht selbst an der Organgesellschaft beteiligt, reicht es für die finanzielle Eingliederung nicht aus, dass nur ein oder mehrere Gesellschafter auch mit Stimmenmehrheit an der Organgesellschaft beteiligt sind (BFH vom 02.08.1979, Az: V R 111/77, BStBl II 1980, 20, vom 22.04.2010, Az: V R 9/09, BStBl II 2011, 597 und vom 01.12.2010, Az: XI R 43/08, BStBl II 2011, 600). In diesem Fall ist keine der beiden Gesellschaften in das Gefüge des anderen Unternehmens eingegliedert, es handelt sich vielmehr um gleichgeordnete Schwestergesellschaften. Diese können also mangels Eingliederung (Unterordnung) in ein anderes Unternehmen nicht zu einer Organschaft führen. Dies gilt auch dann, wenn die Beteiligung eines Gesellschafters an einer Kapitalgesellschaft ertragsteuerlich zu dessen Sonderbetriebsvermögen bei einer Personengesellschaft gehört. Das Fehlen einer eigenen unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung der Gesellschaft kann nicht durch einen Beherrschungsvertrag und Gewinnabführungsvertrag ersetzt werden (BFH vom 01.12.2010, Az: XI R 43/08, BStBl II 2011, 600; Abschn. 2.8. Abs. 5 S. 6–9 UStAE).
Rz. 79
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Nach der Entscheidung des EuGH vom 16.07.2015 – Rs. Minerva u. a. C 108/14 und C 109/14 ist (zwar) ein Über-/Unterordnungsverhältnis (Mutter-Tochter-Beziehung) grundsätzlich nicht unionsrechtskonform, es sei denn, dass diese Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, um missbräuchliche Praktiken oder Verhaltensweisen zu verhindern. Der V. Senat des BFH hält jedoch am Merkmal der Eingliederung (Unterordnung) im Interesse einer einfachen und rechtssicheren Bestimmung des Steuerschuldners fest (Urteil vom 02.12.2015, Az: V R 25/13). Einfach und rechtssicher kann über die finanzielle Eingliederung als Voraussetzung für die Organschaft entschieden werden, wenn der Organträger in der Weise an der Organgesellschaft beteiligt ist, dass er seinen Willen durch Mehrheitsbeschluss, wie dies bei juristischen Personen der Fall ist (§ 47 Abs. 1 GmbHG, § 133 Abs. 1 AktG), in der Gesellschafterversammlung durchsetzen kann. Da bei Personengesellschaften das Einstimmigkeitsprinzip (§ 709 Abs. 1 BGB, § 119 Abs. 1 HGB und § 161 Abs. 2 HGB) möglich ist, sieht der V. Senat bei Personengesellschaften im Allgemeinen keine hinreichende...