Rz. 182
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Mit Urteil vom 07.12.2010 (Rs. C-285/09 "R", BStBl II 2011, 846; vgl. Abschn. 6a.2. Abs. 3 S. 7 UStAE) hat der EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen des BGH vom 07.07.2009 (Az: 1 StR 41/09, DStR 2009, 1688; vgl. nachfolgend in der Strafsache: BGH vom 20.10.2011, Az: 1 StR 41/09, BFH/NV 2012, 366) beantwortet. Die Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage fiel dabei durchaus überraschend aus: "Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wenn also eine innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen tatsächlich stattgefunden hat, der Lieferer jedoch bei der Lieferung die Identität des wahren Erwerbers verschleiert hat, um diesem zu ermöglichen, die Mehrwertsteuer zu hinterziehen, kann der Ausgangsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung aufgrund der ihm nach dem ersten Satzteil von Art. 28c Teil A Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17.10.2000 geänderten Fassung zustehenden Befugnisse die Mehrwertsteuerbefreiung für diesen Umsatz versagen." Der Generalanwalt hatte in seinem Schlussantrag vom 29.06.2010 noch auf die alleinige Erfüllung der objektiven Voraussetzungen einer i. g. Lieferung abgehoben. Gemessen daran wären die streitigen i. g. Lieferungen steuerfrei gewesen, obwohl sich der Steuerpflichtige an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt hatte und hätte keine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung erfolgen können.
Rz. 183
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Argumentativ hebt die Entscheidung des EuGH im Wesentlichen darauf ab, dass die Steuerbefreiung für i. g. Lieferungen unter der Voraussetzung entsprechender Nachweise steht, deren Einzelheiten unter Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes durch die Mitgliedstaaten festgelegt werden und die durch den Steuerpflichtigen zu erbringen sind. Verschleiert der Steuerpflichtige bewusst/vorsätzlich durch falsche Rechnungslegung und sonstige Manipulationen den wahren Empfänger der Lieferung in der Absicht, diesem die Hinterziehung von Mehrwertsteuer zu ermöglichen, gefährdet er damit das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Das Unionsrecht verwehrt es den Mitgliedstaaten daher nicht, die Ausstellung unrichtiger Rechnungen als Steuerhinterziehung anzusehen und in einem solchen Fall die Steuerbefreiung zu verweigern. Die dadurch erzeugte Abschreckung dient der Vermeidung von Steuerhinterziehung, deren Bekämpfung eines der Ziele des Richtliniengebers ist. In Fällen in denen davon auszugehen ist, dass die Besteuerung im Bestimmungsland völlig unterbleibt, muss die Steuerbefreiung sogar verweigert werden (Vermeidung eines unversteuerten Endverbrauchs). Darin ist weder ein Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit zu sehen noch werden die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes verletzt, da sich der Steuerpflichtige bei vorsätzlicher Steuerhinterziehung und Gefährdung des Funktionierens des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems auf diese Grundsätze nicht berufen kann.
Rz. 184
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die gegen einen Beschluss des BGH vom 20.11.2008 (Az: 1 StR 354/08, BFH/NV 2009, 699) gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG mit Beschluss vom 16.06.2011 (Az: 2 BvR 542/09, BFH/NV 2011, 1820) nicht angenommen (weiterführend Hölzle, DStR 2011, 1700). Der Schuldspruch des BGH sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das BVerfG führt u. a. aus: "Die Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG durch den BGH ist mit den aus Sicht des Normadressaten möglichen Wortsinn vereinbar. Das Normengefüge des UStG weist darauf hin, dass zumindest im Grundsatz entweder bereits die Erfüllung der Nachweispflichten Voraussetzung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen ist oder dass die Steuerbefreiung jedenfalls nicht greift, wenn die Erwerbsbesteuerung im anderen Mitgliedstaat unterlaufen wird. Die Vortäuschung innergemeinschaftlicher Lieferungen führt zu einer USt-Hinterziehung im Bundesgebiet." Das BVerfG schloss sich damit der Rechtsprechung des EuGH (Rs. C-285/09 "R") an.
Rz. 185
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Mit Urteil vom 17.02.2011 (Az: V R 30/10, BStBl II 2011, 769; zu dieser Entscheidung vgl.: OFD Magdeburg vom 19.01.2012, Az: S 7140 – 10 St 242, UR 2012, 697) hat der BFH folgendermaßen entschieden: "Innergemeinschaftliche Lieferungen sind entgegen § 6a UStG steuerpflichtig, wenn der Unternehmer die Identität seines Abnehmers verschleiert, um diesem die Hinterziehung der geschuldeten Umsatzsteuer zu ermöglichen (Anschluss an das EuGH-Urteil vom 7. Dezember 2010 C-285/09, R)." Mit dieser Entscheidung übernimmt der BFH zunächst die Rechtsprechung des EuGH. Allerdings weist der BFH darauf hin, dass der EuGH von den durch den BGH vorgeleg...