Rüdiger Weimann, Robert C. Prätzler
3.1 MwStSystRL als europäische "Mehrwertsteuer-Verfassung"
Rz. 5
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der Rat der Europäischen Union hat am 28.11.2006 die RL 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. EU 2006 Nr. L 347, 1 – MwStSystRL) verabschiedet. Die neue RL ist am 01.01.2007 in Kraft getreten und ersetzt die bisherige 6. RL 77/388/EWG vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche Bemessungsgrundlage – (6. EG-RL, ABl. EG 1977 Nr. L 145, 1) einschließlich der später dazu ergangenen Änderungsrichtlinien. Darüber hinaus wurden die noch geltenden Regelungen der 1. EG-RL (67/227/EWG vom 11.04.1967, ABl. EG 1967, 1301) eingearbeitet.
Rz. 6
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die MwStSystRL enthält Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts an das deutsche Umsatzsteuerrecht. Grundsätzlich entfalten die Vorgaben für den deutschen Unternehmer nur dann ihre Wirkung, wenn sie auch durch ein deutsches Gesetz – z. B. das UStG – zu deutschem Recht werden. Anders ist dies immer dann, wenn das europäische Recht für den Unternehmer günstiger ist als das deutsche Recht; dann kann das europäische Recht unmittelbar in das deutsche Recht hineinwirken.
3.2 Ablösung der 6. EG-RL zum 01.01.2007
Rz. 7
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die MwStSystRL ist damit im Grunde eine Neufassung der 6. EG-RL. Letztere wurde erforderlich, da die 6. EG-RL seit ihrem Inkrafttreten am 01.01.1978 oft und umfänglich geändert wurde, ohne dass es jemals zu einer Konsolidierung des Rechtstextes kam. Die sicher weiteste Änderung brachte die Errichtung des Binnenmarkts zum 01.01.1993 und die damit verbundene Beseitigung der Steuergrenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Der Rechtsanwender musste sich, um für "seinen Fall" auf jeweils aktuellem Stand zu sein, mühsam durch die verschiedenen Änderungsrichtlinien "wühlen". Der nunmehr konsolidierte Text soll dem Praktiker diese Arbeit abnehmen – erst einmal, denn in der Folgezeit hat auch die MwStSystRL bekanntermaßen schon zahlreiche Änderungen erfahren.
Rz. 8
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Zusammengefasst ist die MwStSystRL dadurch gekennzeichnet, dass sie alle wesentlichen bisherigen mehrwertsteuerlichen Vorschriften bündelt, überholte Bestimmungen und vorläufige Fassungen streicht, lange und komplexe Bestimmungen entflechtet und die Anweisungen insgesamt neu strukturiert (Weimann, UStB 2007, 91). Die damals neue RL umfasste zum 01.01.2007 414 Artikel und 12 Anhänge. Ursächlich für die im Vergleich zur "alten" 6. EG-RL hohe Anzahl der Vorschriften ist, dass nunmehr (in der MwStSystRL) selbstständige Vorschriften in der damaligen 6. EG-RL lediglich Absätze und Unterabsätze übergeordneter Bestimmungen darstellten.
TIPP
- Der Praktiker stand und steht vor dem Problem, dass Urteile, Verwaltungsanweisungen sowie Kommentierungen und andere Literaturbeiträge teilweise auf der 6. EG-RL basieren. Zur Erleichterung der praktischen Arbeit ist auf Anhang XII der MwStSystRL hinzuweisen, der in einer vom Richtliniengeber so genannten Entsprechungstabelle synoptisch darstellt, wo sich die alten Vorschriften in der neuen RL wieder finden.
- Der Text der MwStSystRL führt grundsätzlich nicht zu inhaltlichen Änderungen des nach der 6. EG-RL geltenden Rechts. Dennoch haben sich durch die Neufassung einige inhaltliche Änderungen ergeben, die in den Bestimmungen über die Umsetzung und das Inkrafttreten der RL (vgl. Art. 411 und 412 der MwStSystRL) abschließend aufgeführt sind. Für das deutsche Umsatzsteuerrecht ergab sich allerdings kein Änderungs- bzw. Umsetzungsbedarf aus dem neuen Rechtstext. Damit sind/waren auch für den Rechtsanwender (Steuerberater) keine neuen Vorschriften zu beachten.
- Der Text der MwStSystRL steht unter http://eur-lex.europa.eu zum Download bereit (einfache Suche über ABl. EU 2006 Nr. L 347, 1.
Zur Einführung der damals neuen RL ausführlich Weimann, IWB 2007, 997 (Fach 11a Gruppe 2 S. 783).
3.3 "Bürgerwirkung" der MwStSystRL
Rz. 9
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die MwStSystRL richtet sich als europäische RL ausschließlich an die Mitgliedstaaten. Damit verpflichtet sie den europäischen Bürger nicht unmittelbar, gibt ihm aber im Grundsatz auch keine eigene Rechtsposition. Die MwStSystRL verpflichtet lediglich die Mitgliedstaaten, ihren Inhalt in das jeweilige nationale Umsatzsteuerrecht zu transferieren (Art. 249 Abs. 3 EGV). Damit stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn eine europäische RL nicht, nicht in der hierfür vorgesehenen Zeit oder nicht vollständig umgesetzt wird.
3.3.1 Keine den Bürger belastende Wirkung der MwStSystRL
Rz. 10
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der pflichtwidrig unterlassende Staat kann sich nie zum Nachteil des Bürgers auf eine nicht umgesetzte europäische RL berufen; ansonsten müsste der Bürger für die negativen Folgen des Fehlverhaltens seines Mitgliedstaates einstehen. Letzteres darf nicht sein, denn der Staat und nicht einzelne Bürger hat Einfluss auf die rechtzeitige Umsetzung des europäischen Rechts in...