Rüdiger Weimann, Robert C. Prätzler
Rz. 16
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Ebenso wie eine unmittelbare Wirkung einer nicht umgesetzten RL, den Bürger im Verhältnis zum Staat nicht belasten darf, kann die unmittelbare Wirkung einer staatlicherseits pflichtwidrig nicht umgesetzten RL auch nicht die Bürger in ihrem Verhältnis untereinander nachteilig treffen. Denn auch in dieser Konstellation trifft den Bürger keine Verantwortung für die Nichtumsetzung der RL. Dieses stellte der EuGH im Urteil vom 14.07.1994 (Rs. C-91/92, Paola Faccini Dori, Slg. 1994, 3225) klar.
Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH, Fall "Dori"):
Vor dem Hauptbahnhof von Milano spricht ein Straßenhändler Frau Dori an. Diese bestellt darauf kurzerhand bei ihm einen Sprachkurs. Als sie sich zu Hause besinnt, möchte sie das Geschäft rückgängig machen. Die europäische RL sieht einen solchen Widerruf bei Haustüre und Straßengeschäften vor. Die RL 88/557/EWG sieht einen solchen Widerruf bei "Haustür- und Straßengeschäften" vor, ist jedoch vom italienischen Gesetzgeber pflichtwidrig nicht in nationales Recht umgesetzt worden.
Rz. 17
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Würde die nicht umgesetzte RL eine unmittelbare Wirkung entfalten, wären der Straßenhändler und/oder das den Sprachkurs vertreibende Unternehmen durch die Möglichkeit des Widerrufs des Geschäfts benachteiligt. Das darf nicht sein, da beiden Beteiligten nicht der Vorwurf der nur verspäteten oder nicht erfolgten Umsetzung der RL gemacht werden kann. Der EuGH verneint daher eine unmittelbare Wirkung pflichtwidrig nicht umgesetzter europäischer RL auch im Verhältnis des Bürgers zu einem anderen Bürger (horizontales Verhältnis). Frau Dori kann daher keine Rechte aus der nicht umgesetzten RL herleiten. Sie durfte somit den Kauf des Sprachkurses nicht widerrufen und musste ihn auch vollständig bezahlen (Krimphove, Europarecht Basiswissen, 29).
TIPP
Es gibt keine belastende Wirkung einer pflichtwidrig nicht umgesetzten europäischen RL zum Nachteil des Bürgers. Weder der Staat ("vertikales Verhältnis") noch ein anderer Bürger ("horizontales Verhältnis") können sich zu Lasten eines Bürgers auf eine vermeintliche unmittelbare Wirkung einer nicht umgesetzten europäischen RL berufen.