Rüdiger Weimann, Robert C. Prätzler
Rz. 18
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Das Ergebnis im Fall Dori (vgl. Rz. 17) erscheint zunächst unbefriedigend; denn nun trüge doch wieder ein Bürger einen Schaden aus dem Versäumnis eines Mitgliedstaates. Der EuGH korrigiert dieses Ergebnis und gibt dem Bürger, der nun durch die Nichtumsetzung der RL geschädigt ist, einen eigenen Schadenersatzanspruch gegenüber dem pflichtwidrig nicht umsetzenden Staat.
CHECKLISTE
Dieser Schadenersatzanspruch hat folgende Voraussetzungen:
- Ein Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft hat
- eine europäische RL
- pflichtwidrig (auf ein Verschulden kommt es nicht an, vgl. EuGH vom 05.03.1996, Rs. C-46/93, brasserie du pêcheur, Slg. I 1996, 1029 Rn. 78 ff.)
- in der hierfür vorgeschriebenen Zeit (i. d. R. zwei bis drei Jahre)
- nicht in seine nationales Recht umgesetzt.
- Die europäische RL erhält eine inhaltlich hinreichend bestimmte Norm,
- die dem Bürger einen eigenen unmittelbaren Anspruch i. S. einer eigenen Rechtsposition gewährt.
- Dieser Anspruch ist nicht vom Eintritt weiterer Bedingungen abhängig (6–8 = self executing norm).
- Dem Bürger ist ein Schaden entstanden.
- Die Nichtumsetzung der RL ist für den Eintritt des Schadens und seiner Höhe ursächlich.
(Checkliste nach Krimphove, Europarecht Basiswissen, 30; vgl. auch Lohse, UR 2003, 182 Abschnitt I)
Rz. 19
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Im Fall Dori (vgl. Rz. 17) hat der EuGH Frau Dori einen Schadenersatzanspruch i. H. d. Kaufpreises für den Sprachkurs gegenüber dem italienischen Staat zugesprochen. Denn Italien hat die RL, die Frau Dori bei deren pflichtgemäßer Umsetzung einen eigenen, unbedingt und auch hinreichend bestimmten Anspruch auf Widerruf dieses "Haustürgeschäftes" einräumte, nicht – wie es seine Pflicht gewesen wäre – in der hierfür vorgeschriebenen Umsetzungsfrist in nationales Recht umgesetzt. Den Schaden, den Frau Dori bei der ganzen Sache hatte, ist der Kaufpreis, den sie – wegen der Nichtumsetzung der RL – nun an den Händler oder den Hersteller zahlen muss. Dieser Schaden ist auch durch die Nichtumsetzung der RL verursacht. Zu weiteren Hinweisen auf die Rspr. des EuGH vgl. Krimphove, Europarecht Basiswissen, 31.
TIPP
Bei der Überprüfung von Sachverhalten nicht umgesetzte RL geht der EuGH in zwei Schritten vor:
- Zunächst verneint der EuGH eine unmittelbar den Bürger (im horizontalen Verhältnis) belastende unmittelbare Wirkung der RL.
- Dann spricht der EuGH demjenigen Bürger, zu dessen Gunsten die europäische RL (Schutz-)Rechte beinhaltet, einen Schadenersatzanspruch zu.
Bei dieser Vorgehensweise ändert sich die Qualität des Bürgeranspruchs; von einem – in der RL ausgedrückten – Leistungs- oder Unterlassensanspruch wandelt er sich in einen Schadenersatzanspruch. Einen Fall mit Musterlösung enthält die CD zu dem Werk von Krimphove, Europarecht Basiswissen.
Rz. 20
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die vorstehenden Gedanken der Schadenersatzrechtsprechung überträgt der EuGH (EuGHMR, Urteil vom 16.04.2002, Nr. 36.677/97, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Fundstelle: http://curia.europa.int [Homepage des EuGH]) auf die Mehrwertsteuer. Im Urteil vom 16.04.2002 wurde der Klägerin ein Entschädigungsanspruch dem Grunde nach wegen rechtskräftig verweigerter Erstattung richtlinienwidrig erhobener Mehrwertsteuer zuerkannt.
Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH, Fall "Dangeville"):
Die Klägerin (S. A. Dangeville) führte im Jahre 1978 in Frankreich Umsätze aus, für die der französische Gesetzgeber noch nicht die nach der 6. EG-RL vorgeschriebene Steuerfreiheit übernommen hatte.
Eine Klage auf Rückzahlung der zunächst entrichteten Mehrwertsteuer hatte in letzter Instanz beim französischen Staatsgerichtshof (Conseil d’État) keinen Erfolg. Dieser vertrat in seiner Entscheidung vom 19.03.1986 die Auffassung, dass es dem Bürger nicht möglich sei, sich unmittelbar auf eine EG-RL zu berufen, wenn eine Vorschrift nationalen Rechts entgegenstehe (hierzu Klenk, UVR 1993, 193).
Durch eine Verwaltungsanordnung hatte Frankreich im Urteilszeitpunkt bereits darauf verzichtet, Mehrwertsteuer auf Umsätze zu erheben, die denen der Klägerin entsprachen und im Streitjahr ausgeführt worden waren. Auf eine zweite Klage der Klägerin hin verurteilte der französische Verwaltungsgerichtshof (cour administrative d’appel) den französischen Staat daher zur Erstattung der auf die Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer. Dieses Urteil hob der Staatsgerichtshof wegen "gegenentgegenstehender Rechtskraft" in seinem Urteil vom 30.10.1996 wieder auf.
Die Klägerin machte daraufhin vor dem EuGHMR eine Verletzung ihres durch Art. 1 Zusatzprotokoll EMRK geschützten Eigentumsrechts geltend.
Rz. 21
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der EuGHMR gab der Klage statt. Die Forderung der Klägerin gegenüber dem Staat über die zu Unrecht abgeführte Mehrwertsteuer sei ein Vermögenswert und somit dem Wesen nach Eigentum. Dieses Eigentum sei sowohl durch das Unterlassen des französischen Gesetzgebers als auch durch die letztlich erfolglosen Vorverfahren und das Fehlen innerstaatlicher Rechtsmittel, die einen ausreichen...