Rüdiger Weimann, Robert C. Prätzler
Rz. 29
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Das Umsatzsteuerrecht der EU-Mitgliedstaaten ist weitgehend harmonisiert (vgl. Rz. 5 ff.). Kompetente und haftungsfreie Umsatzsteuerberatung setzt daher neben der umfassenden Kenntnis des jeweiligen nationalen Umsatzsteuerrechts auch immer die Kenntnis der europarechtlichen Rahmenbedingungen voraus (Strunk, Stbg 8/2004 Editorial; Weimann, UStB 2004, 335).
3.6.1 Kenntnis der EU-ausländischen Gesetzesfassungen
Rz. 30
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Wer die MwStSystRL anwendet, muss sich – wie allgemein bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht – bewusst sein, dass ihr Inhalt nicht allein durch die deutsche Sprachfassung bestimmt werden kann. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung verbietet es die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, eine Bestimmung für sich allein zu betrachten. Der Rechtsanwender ist vielmehr dazu gezwungen, die Bestimmung unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen. So ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in mehreren Sprachen abgefasst sind und dass die verschiedenen sprachlichen Fassungen gleichermaßen verbindlich sind. Die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift erfordert somit einen Vergleich der sprachlichen Fassungen. Dabei erscheint die Beschränkung auf drei (etwa die deutsche, englische und französische) Fassungen ausreichend; es ist kaum vorstellbar, dass ein aus diesen Sprachfassungen gewonnenes Auslegungsergebnis durch die derzeit zusätzlich geltenden 20 Sprachfassungen noch in Zweifel gezogen werden kann (Lohse/Peltner, 2007, Einführung, Anm. 28.; Weimann, UStB 2007, 301).
Rz. 31
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat der Verbindlichkeit aller Sprachfassungen bei der Neukodifizierung Rechnung getragen und in einzelnen Sprachfassungen zweifelhafte Formulierungen der 6. EG-RL an die übrigen Sprachfassungen angeglichen. Die deutsche Sprachfassung ist insofern davon betroffen, dass die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. a der 6. EG-RL von der Steuerbefreiung der Post ausgenommenen Dienstleistungen des "Fernmeldewesens" in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. a der 6. EG-RL als "Telekommunikationsdienstleistungen" bezeichnet werden. In Abschnitt 4.4.1.4 der Neufassungsbegründung hat die Kommission dazu folgende Erklärung gegeben: "Aus Gründen der Übereinstimmung mit den anderen Sprachversionen muss überall der gleiche Ausdruck verwendet werden." Da der Telekommunikationsbegriff auch "ansonsten verwendet wird", sei er zur gegenseitigen Angleichung "am besten geeignet". Der Umfang der in § 4 Nr. 11b UStG befreiten Postdienstleistungen wird dadurch nicht berührt (Lohse/Peltner, 2007, Einführung, Anm. 28.; Weimann, UStB 2007, 301).
3.6.2 Kenntnis der aus dem EU-Ausland anhängigen EuGH-Verfahren
Rz. 32
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Unabdingbar ist auch die Kenntnis der EuGH-Verfahren. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur Verfahren betrachtet werden dürfen, die das deutsche Umsatzsteuerrecht unmittelbar betreffen, sondern auch solche zum ausländischen Umsatzsteuerrecht, bei denen Gegenstand der Prüfung Regelungen sind, die in identischer oder sehr ähnlicher Form auch in Deutschland zur Anwendung gelangen.
Rz. 33
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Zunächst muss sich der Berater mit dem Inhalt der zum ausländischen Umsatzsteuerrecht beim EuGH anhängigen Verfahren vertraut machen und dabei einschätzen, ob und inwieweit sich diese Verfahren auf "seinen Fall" auswirken und mit Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers oder der deutschen Finanzverwaltung zu rechnen ist. Ausgangspunkt der Betrachtung sollte immer die offizielle Verfahrensübersicht des BFH sein (www.bundesfinanzhof.de/Anhängige Verfahren/Anhängige Revisionsverfahren online/Suchbegriff "EuGH"). Daneben erleichtert auch die Fachliteratur diese Arbeit mit diversen Verfahrensübersichten.
TIPP
Im Hinblick auf die Informationspflicht des Beraters sollten wichtige Erkenntnisse zum europäischen Umsatzsteuerrecht – wie die zu allen anderen Beratungsgebieten auch – gegenüber der Mandantschaft kommuniziert werden und etwa in Mandantenrundschreiben eingehen.
Rz. 34
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
In Verfahren vor der Finanzverwaltung oder den Finanzgerichten ist es zwingend erforderlich, dass der Steuerpflichtige wie bzw. sein Berater sich ausdrücklich auf die Verletzung Europäischen Rechts berufen, wenn z. B. im Hinblick auf die "Bürgerwirkung der MwStSystRL" Aussicht auf eine günstigere Entscheidung besteht (vgl. Rz. 10 ff.). Außerdem ist im Einzelfall anzuraten, unter Hinweis auf die anhängigen Verfahren vor dem EuGH eine Aussetzung der Vollziehung zu beantragen (vgl. § 363 Abs. 2 AO).
TIPP
An dieser Stelle soll allerdings davor gewarnt werden, zum Teil in der Literatur vertretene – eher "radikal" erscheinende – Beurteilungen unmittelbar in die eigene Beratung zu übernehmen. Auch wenn den Autoren solcher Beurteilungen in der Sache oftmals (ansatzweise) zuzustimmen ist, so ist doch häufig absehbar, dass der EuGH diese Auffassungen ohne Schaden für die Mitgliedstaaten nicht teilen kann und daher auch nicht teilen wird!
Rz. 35
Stand: 6....