Leitsatz (amtlich)
I. Ein Strafgefangener hat ein berechtigtes Interesse, die Rechtswidrigkeit der Ausgestaltung einer Ausführung feststellen zu lassen (§ 115 Abs. 3 StVollzG in Verbindung mit Art. 208 BayStVollzG), wenn er deren diskriminierenden Charakter und damit eine Verletzung seines Grundrechts auf Resozialisierung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geltend macht.
II. Das Grundrecht auf Resozialisierung verpflichtet den Staat, bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen.
III. Vollzugslockerungen machen es dem Strafgefangenen möglich, nach langem Freiheitsentzug wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden, auch wenn eine konkrete Entlassungsperspektive sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht.
IV. Bei langjährig Inhaftierten kann es also geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt, wobei der damit verbundene personelle Aufwand hinzunehmen ist.
V. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG gestattet die Anstaltsleitung den Gefangenen, bei einer Ausführung eigene Kleidung zu tragen, wenn zu erwarten ist, dass sie nicht entweichen werden. Dies entspricht regelmäßig dem Angleichungsgrundsatz des Art. 5 Abs. 1 BayStVollzG und soll vermeiden, dass die Gefangenen aufgrund ihrer Anstaltskleidung als solche identifiziert und bloßgestellt werden.
VI. Eine Fesselung bei Ausführungen ist gemäß Art. 96 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 2 Ziffer 6 BayStVollzG nur dann zulässig, wenn "in erhöhtem Maße" Fluchtgefahr besteht. Eine solche ist dann zu bejahen, wenn im Hinblick auf die Persönlichkeit des Gefangenen ein nicht zu relativierender Fluchtanreiz besteht; die Schwere des vom Gefangenen verübten Gewaltdelikts und die Höhe der Restfreiheitsstrafe sind dabei zwar gewichtige zu berücksichtigende Umstände, aber nicht allein maßgeblich. Eine Fesselung ist unverhältnismäßig im Sinne des Art. 96 Abs. 5 BayStVollzG, wenn weniger einschneidende oder weniger diskriminierende Maßnahmen - wie etwa die Aufsicht durch Bedienstete - ausreichen.
VII. Zur Vermeidung einer Stigmatisierung des Strafgefangenen in der Öffentlichkeit ist im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er in Art. 96 Abs. 5 BayStVollzG in Verbindung mit Art. 87 Abs. 2 BayStVollzG Ausdruck findet, darauf zu verzichten, dass Beamte während der Ausführung Dienstkleidung tragen, es sei denn, Sicherheitsbelange erfordern diese ausnahmsweise.
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1; StVollzG § 115 Abs. 3; BayStVollzG Art. 5 Abs. 1, Art. 22 Abs. 2 S. 1, Art. 87 Abs. 2, Art. 96 Abs. 2 Nr. 6, Abs. 4-5, Art. 208
Verfahrensgang
LG Regensburg (Entscheidung vom 28.10.2021; Aktenzeichen SR StVK 535/21) |
Tenor
I. Die Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt Straubing gegen den Beschluss der auswärtigen kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 28.10.2021 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Art und Weise der Ausführung des Antragstellers am 09.06.2021 hinsichtlich seiner Fesselung und des Tragens von Dienstkleidung der Bediensteten rechtswidrig gewesen ist.
II. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu tragen.
III. Der Beschwerdewert wird auf 500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Straubing. Er verbüßt seit August 1997 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen zweifachen Mordes. Die Mindestverbüßungsdauer ist mangels Antrags des Strafgefangenen bis heute nicht festgesetzt.
Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 11.06.2021 begehrt der Strafgefangene festzustellen, dass die Ausgestaltung seiner am 09.06.2021 erfolgten Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit rechtswidrig war. Er führte folgende Gründe an:
- Die Ausführung sei verspätet erfolgt. Er habe diese am 28.12.2020 beantragt; sie sei bereits am 19.01.2021 genehmigt, aber erst am 09.06.2021 umgesetzt worden.
- Bei der Ausführung sei er an den Händen gefesselt gewesen.
- Bei der Ausführung habe er Anstaltskleidung tragen müssen.
- Bei der Ausführung sei er von einer uniformierten "Klein-Armee" bewacht worden.
Hinsichtlich der Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die Schreiben des Strafgefangenen vom 11.06.2021, 13.07.2021, 14.07.2021, 19.07.2021, 09.09.2021, 18.10.2021, 19.10.2021 und 27.10.2021, die Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 07.07.2021, 11.10.2021 und 26.10.2021 sowie die ausführliche Schilderung der Verfahrensgeschichte im angefochtenen Beschluss unter Ziffer I.
Die auswärtige kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei ...