Leitsatz (amtlich)
Zum Verbot der Pfändung eines Pkw bei einer psychischen Erkrankung des Schuldners.
Normenkette
ZPO § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c
Verfahrensgang
LG Erfurt (Entscheidung vom 18.11.2021; Aktenzeichen 3 T 310/21) |
AG Erfurt (Entscheidung vom 15.07.2021; Aktenzeichen M 3361/21) |
Tenor
Dem Schuldner wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Erfurt vom 18. November 2021 - 3 T 310/21 - gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der vorgenannte Beschluss mit Ausnahme der darin enthaltenen Prozesskostenhilfeentscheidung aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Gläubiger betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts A. vom 2. November 2020.
Rz. 2
Der unter Betreuung stehende Schuldner leidet an einer psychischen Erkrankung in Form einer paranoiden Schizophrenie und an einer Epilepsie.
Rz. 3
Aufgrund des Vollstreckungsauftrags des Gläubigers vom 22. März 2021 pfändete die Obergerichtsvollzieherin B. am 30. Juni 2021 den Pkw S. des Schuldners.
Rz. 4
Hiergegen hat sich der Schuldner mit der Erinnerung gewandt und geltend gemacht, das gepfändete Fahrzeug sei von ihm 2017 für 10.440 € überwiegend mit Mitteln aus dem Fonds "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990" (im Folgenden: Fonds "Heimerziehung in der DDR") erworben worden. Da Ansprüche gegen den Fonds unpfändbar seien, sei auch das Fahrzeug selbst der Pfändung entzogen.
Rz. 5
Die Unpfändbarkeit des Pkw folge außerdem daraus, dass er auf das Fahrzeug angewiesen sei, um von seinem Wohnort in E. aus regelmäßig Arzttermine in H. wahrnehmen zu können. Er sei aufgrund seiner psychischen Erkrankung dort seit Jahren bei der Ärztin M. in Therapie, zu der er ein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe. Nur bei ihr habe er das Gefühl, dass ihm geholfen werden könne. In akuten Phasen suche er seine Therapeutin ca. zweimal wöchentlich, in leichteren Phasen einmal wöchentlich auf. Hierfür sei er auf seinen Pkw angewiesen. Insbesondere in akuten Phasen seiner Erkrankung könne er keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, da er sich dann von anderen Menschen bedroht fühle und ohne Anlass aggressiv reagiere. Schließlich sei er auch nicht in der Lage, die Fahrtkosten für den öffentlichen Personennahverkehr aufzubringen.
Rz. 6
Das Amtsgericht hat die Erinnerung des Schuldners zurückgewiesen und die Verwertung des Pkw bis zur Rechtskraft der Entscheidung ausgesetzt.
Rz. 7
Hiergegen hat der Schuldner sofortige Beschwerde erhoben, welche das Beschwerdegericht unter Aufrechterhaltung der Anordnung zur Verwertungsaussetzung bis zur Rechtskraft der Entscheidung zurückgewiesen hat.
Rz. 8
Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Schuldner sein Begehren weiter.
II.
Rz. 9
1. Dem Schuldner ist auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren. Der Schuldner war aufgrund seiner zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe führenden Mittellosigkeit gemäß § 233 ZPO ohne Verschulden daran gehindert, die Rechtsbeschwerde innerhalb der Frist von einem Monat nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung einzulegen (§ 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO) und zu begründen (§ 575 Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO). Er hat die Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde und in die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde jeweils fristgerecht nach Behebung des Hindernisses beantragt und die versäumten Verfahrenshandlungen nachgeholt (§ 234 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO; vgl. zu den insoweit maßgeblichen Fristen auch BGH, Beschluss vom 27. April 2021 - VI ZB 60/20 Rn. 3 ff., NJW 2021, 2660).
Rz. 10
2. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2, § 575 ZPO statthafte und - nach Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
Rz. 11
a) Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Interesse - im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Rz. 12
Die Pfändung des Pkw sei zu Recht erfolgt.
Rz. 13
Auch wenn der Vortrag des Schuldners zutreffe, dass er insgesamt 10.000 € aus dem Fonds "Heimerziehung in der DDR" für den Autokauf erhalten habe, rechtfertige dies keine Abänderung der angegriffenen Entscheidung. Es könne als richtig unterstellt werden, dass die Forderungen gegen den Fonds gemäß § 851 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 399 BGB unpfändbar seien. Gepfändet worden sei vorliegend jedoch keine Forderung gegen den Fonds, da diese durch die Auszahlung der Leistungen durch Erfüllung erloschen sei. Gepfändet worden sei vielmehr ein Pkw, das heißt eine "körperliche Sache". Mithin sei insbesondere § 851 ZPO, nach dem höchstpersönliche Forderungen unpfändbar seien, nicht auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar.
Rz. 14
Der Pkw sei auch nicht nach § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO in der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts geltenden Fassung unpfändbar. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19. März 2004 - IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789), nach welcher der Pkw eines außergewöhnlich gehbehinderten Schuldners im Regelfall nicht der Pfändung unterliege, sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Anders als bei einem außergewöhnlich gehbehinderten Menschen, dem erst die Benutzung eines Kraftfahrzeugs die Chance gebe, überhaupt angemessen am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, sei der Schuldner aufgrund seiner psychischen Krankheit zur Pflege seiner allgemeinen sozialen Kontakte grundsätzlich nicht auf das Auto angewiesen. Aus dem Umstand, dass er sich seit vielen Jahren in dem etwa 90 Fahrkilometer von seinem Wohnort entfernten H. in Therapie befinde, ergebe sich keine andere Bewertung. Denn selbst wenn er zu seiner dortigen Ärztin über die Jahre hinweg ein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe, sei es nicht ausgeschlossen, dass der Schuldner auch durch einen ortsnahen Arzt suffizient behandelt werden könne. Alternativ sei es ihm angesichts der langen Therapiedauer und hohen Frequenz der Arztbesuche auch zumutbar, nach H. umzuziehen. Auf die Frage, ob der Schuldner angesichts seiner Krankheitssymptome in akuten Krankheitsphasen überhaupt fahrtauglich sei, komme es bei dieser Sachlage nicht mehr an.
Rz. 15
b) Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand. Mit der gegebenen Begründung kann ein Pfändungsverbot bezüglich des schuldnerischen Pkw nicht verneint werden.
Rz. 16
aa) Zutreffend hat das Beschwerdegericht allerdings angenommen, dass der Pkw nicht deshalb einem Pfändungsverbot unterliegt, weil er nach dem Vorbringen des Schuldners überwiegend mit Mitteln aus dem Fonds "Heimerziehung in der DDR" erworben worden ist.
Rz. 17
(1) Es kann dahinstehen, ob ein Anspruch gegen den Fonds "Heimerziehung in der DDR", welcher das Ziel hat, ehemaligen Heimkindern, denen Unrecht und Leid während ihrer Heimunterbringung in der ehemaligen DDR zugefügt wurde, finanzielle Hilfen zu gewähren, nach § 851 Abs. 1 ZPO, § 399 BGB unpfändbar ist, weil die Leistung an einen anderen als den ursprünglichen Gläubiger nicht ohne Veränderung ihres Inhalts erfolgen könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Mai 2014 - IX ZB 72/12 Rn. 17 ff., NJW-RR 2014, 1009 zum Anspruch auf Entschädigung für Opfer sexuellen Missbrauchs aufgrund des Beschlusses der Deutschen Bischofskonferenz vom 2. März 2011). Des Weiteren kann offenbleiben, ob sich die Unpfändbarkeit eines entsprechenden Anspruchs ohne Weiteres an dem zu dessen Erfüllung Geleisteten fortsetzt oder ob Unpfändbarkeit insoweit nur dann besteht, wenn dies für das Geleistete anderweitig angeordnet ist (vgl. Stein/Jonas/Würdinger, ZPO, 23. Aufl., § 851 Rn. 7 unter Bezugnahme auf § 811 Abs. 1 Nr. 8 ZPO a.F., § 850k ZPO a.F. und auf § 765a ZPO; Stöber/Rellermeyer/Rellermeyer, Forderungspfändung, 17. Aufl., Rn. A.19; vgl. ferner BGH, Beschluss vom 16. Juli 2004 - IXa ZB 191/03, ZVI 2004, 740, juris Rn. 10 zum Pfändungsschutz von Arbeitseinkommen nach § 850c ZPO). Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde würde sich eine etwaige Unpfändbarkeit des Anspruchs gegen den Fonds "Heimerziehung in der DDR" jedenfalls nicht an dem Pkw fortsetzen. Es kann entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht davon ausgegangen werden, dass ein Anspruch gegen den Fonds "Heimerziehung in der DDR" durch die Lieferung des Pkw erfüllt worden ist; der Pkw ist vielmehr nach dem Vorbringen des Schuldners aufgrund eines zwischen ihm und einem Händler geschlossenen Kaufvertrags überwiegend mit Mitteln aus dem genannten Fonds erworben worden. Besondere Vorschriften, welche zur Unpfändbarkeit des Pkw gerade wegen der Unpfändbarkeit eines gegen den Fonds "Heimerziehung in der DDR" gerichteten Anspruchs führen würden, sind nicht ersichtlich.
Rz. 18
(2) Die von der Rechtsbeschwerde herangezogene Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 22. Mai 2014 - IX ZB 72/12, NJW-RR 2014, 1009) steht dem nicht entgegen. Zwar hat der Bundesgerichtshof in diesem Beschluss ausgeführt, dass eine Entschädigungszahlung, die der dortige Schuldner vom Bischöflichen Ordinariat erhalten hatte, nicht Gegenstand der Insolvenzmasse geworden ist, weil ein entsprechender Anspruch des dortigen Schuldners nach § 851 Abs. 1 ZPO, § 399 BGB nicht pfändbar war (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Mai 2014 - IX ZB 72/12 Rn. 14, Rn. 17 ff., NJW-RR 2014, 1009). Die dieser Entscheidung zugrundeliegende Fallkonstellation ist jedoch mit derjenigen im Streitfall, bei der der etwaige Anspruch gegen den Fonds "Heimerziehung in der DDR" durch die Auszahlung des betreffenden Betrags und nicht durch die Lieferung des Pkw erfüllt worden ist, nicht vergleichbar.
Rz. 19
bb) Der rechtlichen Nachprüfung hält die Entscheidung des Beschwerdegerichts jedoch nicht stand, soweit es die Unpfändbarkeit des Pkw im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung des Schuldners abgelehnt hat.
Rz. 20
Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann bereits deshalb keinen Bestand haben, weil sie die Vorschrift des § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO nicht berücksichtigt. Diese ist zwar erst nach Erlass der Entscheidung des Beschwerdegerichts in Kraft getreten, jedoch im weiteren Verfahren gleichwohl zeitlich anwendbar. Danach unterliegen der Pfändung nicht Sachen, die der Schuldner oder eine Person, mit der er zusammen in einem gemeinsamen Haushalt lebt, aus gesundheitlichen Gründen benötigt. Diese Vorschrift, die den bisherigen § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. unter Erweiterung seines Anwendungsbereichs ersetzt (vgl. BT-Drucks. 19/27636, S. 29), ist durch das am 1. Januar 2022 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung des Schutzes von Gerichtsvollziehern vor Gewalt sowie zur Änderung weiterer zwangsvollstreckungsrechtlicher Vorschriften und zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (BGBl. 2021 I S. 850 ff.) eingeführt worden. Maßstab für die Überprüfung der Beschwerdeentscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren auf Rechtsfehler ist die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Zu berücksichtigen ist daher auch ein nach Erlass der Beschwerdeentscheidung ergangenes neues Gesetz, sofern es nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juni 2017 - VII ZB 17/14 Rn. 5, DGVZ 2017, 174; Beschluss vom 20. Januar 2005 - IX ZB 134/04, NJW 2005, 1508, juris Rn. 12). Das ist hier der Fall. Das genannte Gesetz enthält keine Übergangsregelung und ist auf nicht abgeschlossene Pfändungsmaßnahmen wie im Streitfall anwendbar.
Rz. 21
cc) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts stellt sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (vgl. § 577 Abs. 3 ZPO), weil auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass für den Pkw des Schuldners ein Pfändungsverbot nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO besteht. Zwar resultieren aus der vom Schuldner für nötig erachteten Nutzung des Fahrzeugs zum Aufsuchen seiner in H. praktizierenden ärztlichen Therapeutin für sich genommen keine "gesundheitlichen Gründe" im Sinne der Vorschrift (siehe unten (1)). Nicht von vornherein ausgeschlossen ist es aber, dass sich die Unpfändbarkeit des Pkw nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO daraus ergibt, dass der Schuldner den Pkw benötigt, um damit die aus seiner psychischen Erkrankung herrührenden Nachteile teilweise zu kompensieren und seine Eingliederung in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern (siehe unten (2)).
Rz. 22
(1) Dass der Schuldner den Pkw, wie er geltend macht, benötigt, um seine langjährige, in H. praktizierende ärztliche Therapeutin aufzusuchen, reicht für sich genommen für eine Unpfändbarkeit nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO nicht aus. Dabei handelt es sich nicht um "gesundheitliche Gründe" im Sinne dieser Vorschrift.
Rz. 23
(a) Die Pfändungsverbote des § 811 Abs. 1 ZPO dienen dem Schutz des Schuldners im öffentlichen Interesse und beschränken die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mit Hilfe staatlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Sie sind Ausfluss der in Art. 1 und Art. 2 GG garantierten Menschenwürde beziehungsweise allgemeinen Handlungsfreiheit und enthalten eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Schuldner soll dadurch die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um - unabhängig von Sozialhilfe - ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2011 - VII ZB 12/09 Rn. 7, NJW-RR 2011, 1367; Beschluss vom 19. März 2004 - IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789, juris Rn. 8).
Rz. 24
(b) In diesem Regelungszusammenhang steht auch die Vorschrift des § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO als Nachfolgebestimmung von § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F., wonach künstliche Gliedmaßen, Brillen und andere wegen körperlicher Gebrechen notwendige Hilfsmittel unpfändbar waren, soweit diese Gegenstände zum Gebrauch des Schuldners und seiner Familie bestimmt waren. Der Wortlaut des § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO ist nach der Neufassung weiter, so dass die Vorschrift nun allgemein Hilfs- und Therapiemittel erfasst, die zum Ausgleich oder zur Minderung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung benötigt werden (vgl. BeckOK ZPO/Uhl, Stand: 1. Juli 2022, § 811 Rn. 23; Musielak/ Voit/Flockenhaus, ZPO, 19. Aufl., § 811 Rn. 19). Mit der Neufassung gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO sollen etwa auch Sachen geschützt sein, die der Schuldner aufgrund einer psychischen Erkrankung - wie beispielsweise eine Staffelei im Rahmen einer Kunsttherapie - benötigt (vgl. BT-Drucks. 19/27636, S. 29 f.); die in § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. enthalten gewesene Beschränkung auf körperliche Gebrechen ist entfallen (vgl. Herberger, DGVZ 2021, 253, 255). Die neugefasste Vorschrift soll den veränderten rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie den gewandelten gesellschaftlichen Realitäten Rechnung tragen (vgl. BT-Drucks. 19/27636, S. 1 f.). Der Normzweck hat sich durch die Neufassung vom Grundsatz her hingegen nicht geändert: Er liegt darin, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu behandeln beziehungsweise die aus einer gesundheitlichen Beeinträchtigung resultierenden Nachteile auszugleichen oder zu verringern und dem Schuldner so ein angemessenes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2011 - VII ZB 12/09 Rn. 8, NJW-RR 2011, 1367; Beschluss vom 19. März 2004 - IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789, juris Rn. 11; jeweils zum Aspekt des Nachteilsausgleichs im Rahmen der Vorgängerregelung des § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F.). Dem Schuldner sollen die dafür notwendigen Gegenstände belassen werden.
Rz. 25
(c) Dabei ist ein dahingehender Zusammenhang, dass der unpfändbare Gegenstand selbst bereits das Hilfs- oder Therapiemittel bezüglich der gesundheitlichen Beeinträchtigung sein muss, indes nicht entbehrlich und die Vorschrift entsprechend einschränkend auszulegen. Die Vorgängerregelung in § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. war insofern von ihrem Wortlaut her eindeutig ("künstliche Gliedmaßen, Brillen und andere wegen körperlicher Gebrechen notwendige Hilfsmittel"). Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber diesen Zusammenhang im Zuge der Neufassung der Vorschrift aufgeben wollte. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 811 ZPO um eine Ausnahmevorschrift handelt, die nicht entsprechend angewandt oder zu weit ausgelegt werden darf (vgl. Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 43. Aufl., § 811 Rn. 1). Es reicht daher nicht aus, dass - wie der Schuldner geltend macht - der Pkw lediglich als Beförderungsmittel dazu dienen soll, an den Ort zu gelangen, an dem die Therapeutin praktiziert. Eine entsprechende Auslegung würde den Anwendungsbereich von § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO übermäßig ausdehnen. So müsste dann etwa auch ein vom Schuldner beiseitegelegter Geldbetrag für den Erwerb eines Pkw für Arztbesuche oder auch jeder anderweitige Gegenstand, den der Schuldner zu veräußern beabsichtigt, um aus dem Erlös einen so zu verwendenden Pkw zu finanzieren, "aus gesundheitlichen Gründen" unpfändbar sein. Ein derart weitgehendes Verständnis kann der Vorschrift nicht entnommen werden und würde zudem zu kaum überwindbaren Abgrenzungs- und Nachweisproblemen führen.
Rz. 26
(2) Die Unpfändbarkeit des Pkw kann sich aber daraus ergeben, dass ihn der Schuldner benötigt, um damit die aus seiner psychischen Erkrankung herrührenden Nachteile teilweise zu kompensieren und seine Eingliederung in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern.
Rz. 27
(a) So unterliegt der Pkw eines gehbehinderten Schuldners nach der bereits zu § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht der Pfändung, wenn die Benutzung des Pkw erforderlich ist, um die Gehbehinderung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung des Schuldners in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern. Die Pfändung eines Fahrzeugs hat demnach zu unterbleiben, wenn sie dazu führt, dass der Schuldner in seiner Lebensführung stark eingeschränkt und im Vergleich zu einem nicht behinderten Menschen entscheidend benachteiligt wird (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2011 - VII ZB 12/09 Rn. 8, NJW-RR 2011, 1367; Beschluss vom 19. März 2004 - IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789, juris Rn. 11). Diese Rechtsprechung kann angesichts des erweiterten sachlichen Anwendungsbereichs der Neuregelung in § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO nunmehr auch bei psychischen Erkrankungen anwendbar sein: Ist dem Schuldner wegen einer psychischen Erkrankung die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar, kann auch dies zur Unpfändbarkeit eines Pkw des Schuldners "aus gesundheitlichen Gründen" führen, wenn die Benutzung des Pkw erforderlich ist, um die Erkrankung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung des Schuldners in das öffentliche Leben, wozu auch das etwa nötige Aufsuchen von Ärzten gehört, wesentlich zu erleichtern (vgl. - bereits zu § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. - Lackmann in Henning/Lackmann/Rein, Privatinsolvenz, 1. Aufl., § 811 ZPO Rn. 27).
Rz. 28
(b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist es auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht von vornherein ausgeschlossen, dass für den Pkw des Schuldners ein Pfändungsverbot nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO besteht. Denn nach dem in der Entscheidung des Beschwerdegerichts wiedergegebenen Vorbringen des Schuldners, von dem mangels gegenteiliger Feststellungen des Beschwerdegerichts jedenfalls für die Rechtsbeschwerdeinstanz auszugehen ist, kann dieser aufgrund seiner psychischen Erkrankung insbesondere in den akuten Krankheitsphasen keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, da er sich dann von anderen Menschen bedroht fühle und ohne Anlass aggressiv reagiere. Unter Zugrundelegung dieses Vorbringens des Schuldners, auf das die Rechtsbeschwerdebegründung rekurriert, könnte dem Pkw die Funktion zukommen, die aus seiner psychischen Erkrankung herrührenden Nachteile teilweise zu kompensieren und ihm die Eingliederung in das öffentliche Leben einschließlich des nötigen Aufsuchens von Ärzten wesentlich zu erleichtern.
Rz. 29
Soweit das Beschwerdegericht - bei der Subsumtion unter § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. - davon ausgegangen ist, dass der Schuldner aufgrund seiner psychischen Krankheit zur Pflege seiner allgemeinen sozialen Kontakte grundsätzlich nicht auf den Pkw angewiesen sei, sind die diesbezüglichen Feststellungen jedenfalls lückenhaft und vermögen den vom Beschwerdegericht gezogenen Schluss nicht zu tragen.
III.
Rz. 30
Der angefochtene Beschluss kann nach alledem keinen Bestand haben. Er ist aufzuheben. Eine eigene abschließende Entscheidung ist dem Senat mangels hinreichender Feststellungen nicht möglich (§ 577 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 ZPO). Die Sache ist deshalb an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Rz. 31
Das Beschwerdegericht wird Feststellungen zu den etwaigen Auswirkungen der psychischen Erkrankung auf die Zumutbarkeit für den Schuldner, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, zu treffen und sich gegebenenfalls mit der Frage zu befassen haben, ob durch den Pkw die psychische Erkrankung teilweise kompensiert und die Eingliederung des Schuldners in das öffentliche Leben, wozu auch das nötige Aufsuchen von Ärzten gehört, wesentlich erleichtert wird. Dabei wird es sich gegebenenfalls auch mit der Frage zu befassen haben, ob der Schuldner aufgrund der psychischen Erkrankung insbesondere in akuten Krankheitsphasen überhaupt fahrtauglich ist.
Pamp |
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Kartzke |
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Graßnack |
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Sacher |
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Borris |
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Fundstellen
Haufe-Index 15380260 |
NJW 2022, 9 |
NJW 2023, 227 |
NJW-RR 2022, 1651 |
JR 2023, 442 |
JurBüro 2022, 603 |
BtPrax 2023, 225 |
DAR 2023, 30 |
MDR 2022, 1501 |
NJ 2023, 32 |
ZInsO 2022, 2345 |
InsbürO 2022, 482 |
ZVI 2022, 434 |
NZFam 2023, 39 |