Leitsatz (amtlich)
1. Weist das Berufungsgericht die Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück, obwohl es die Berufung wegen Nichterreichens des Beschwerdewerts des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO für unzulässig erachtet hat, ist die Rechtsbeschwerde gem. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft.
2. Für die Bemessung des Beschwerdewerts eines Berufungsantrags auf Unterlassung eines Eintrags in Facebook, in dem ein minderjähriges Kind beleidigt wird, kommt es nicht nur auf die Breitenwirkung des Eintrags an, sondern auch auf die Wirkung der beleidigenden Äußerungen auf das Kind selbst. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das Kind ein Recht auf ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und ungestörte kindgemäße Entwicklung hat (vgl. BGH, Urt. v. 15.9.2015 - VI ZR 175/14, BGHZ 206, 347 Rz. 18; v. 5.11.2013 - VI ZR 304/12, BGHZ 198, 346 Rz. 17, jeweils m.w.N.).
3. Der Antrag auf Veröffentlichung von Rubrum und Unterlassungstenor auf Facebook ist auf Folgenbeseitigung gerichtet, die als selbständige Rechtsfolge neben die Verpflichtung zur Unterlassung hinzutritt. Ihm kommt daher ein eigener Wert zu, der mit dem Wert des Unterlassungsantrags gem. § 5 ZPO zusammenzurechnen ist.
Normenkette
ZPO § 574 Abs. 2, §§ 522, 3; GKG § 48 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Koblenz (Beschluss vom 18.03.2016; Aktenzeichen 6 S 22/16) |
AG Andernach (Entscheidung vom 26.11.2015; Aktenzeichen 65 C 558/15) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des LG Koblenz vom 18.3.2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 2.500 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Unterlassung ehrverletzender Äußerungen und auf Veröffentlichung des begehrten Unterlassungsausspruchs auf dem Facebook-Profil der Beklagten in Anspruch.
Rz. 2
Die Beklagte, Mutter eines damals zehnjährigen Mädchens, das Mitschülerin des damals zehnjährigen Klägers war, veröffentlichte im März 2015 auf ihrem Facebook-Profil einen Beitrag, in welchem sie schrieb, dass ihre Tochter von einem "asozialen Abschaum", an anderer Stelle des Beitrags als "Abschaum Blag" bezeichnet, in der Schule "vermöbelt" worden sei. Der Kläger behauptet, Hintergrund sei eine leichte körperliche Auseinandersetzung zwischen ihm und der Tochter der Beklagten im Sportunterricht gewesen, mit der die Tochter der Beklagten begonnen habe. Die Lehrerin habe beide Kinder dazu angehalten, sich gegenseitig zu entschuldigen, und den Vorfall als harmlos angesehen. Auch wenn der Kläger in dem Beitrag nicht namentlich benannt sei, ergebe sich aus dem Kontext für diejenigen, die von dem Vorfall wüssten, dass der Kläger gemeint sei. Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die Äußerungen zu unterlassen, der Kläger habe die Tochter der Beklagten in der Schule "vermöbelt" und er sei "Abschaum", "asozial" und ein "Blag". Ferner hat er beantragt, die Beklagte zu verurteilen, Rubrum und Unterlassungstenor der Entscheidung so auf ihrem Facebook-Profil zu veröffentlichen, dass sie für den gesamten Facebook-Freundeskreis der Beklagten einsehbar sei. Den Streitwert hat er auf 2.500 EUR beziffert.
Rz. 3
Das AG hat die Klage abgewiesen und den Streitwert auf bis zu 600 EUR festgesetzt. Auf die dagegen eingelegte Berufung des Klägers hin, mit der dieser sein erstinstanzliches Klageziel vollumfänglich weiterverfolgt hat, hat das Berufungsgericht den Kläger mit Beschluss vom 22.2.2016 darauf hingewiesen, dass die Berufung unzulässig sei, da der Streitwert nicht über 600 EUR liege. Es handele sich bei dem Unterlassungsanspruch um einen vermögensrechtlichen Anspruch, wobei die aufgrund der beanstandeten Äußerungen verständiger Weise zu besorgende Beeinträchtigung gem. § 3 ZPO zu schätzen sei. Die Äußerungen seien keinesfalls eindeutig als auf den Kläger bezogen zu erkennen. Damit sei das Integritätsinteresse für den Unterlassungsanspruch und dessen Veröffentlichung auf Facebook lediglich geringer Natur.
Rz. 4
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 18.3.2016 hat das Berufungsgericht sodann die Berufung des Klägers gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen und den Streitwert auf bis zu 600 EUR festgesetzt. Zur Begründung hat es auf den Hinweis vom 22.2.2016 Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, es sei bereits nicht geklärt, ob der Kläger den Facebookeintrag selbst bemerkt habe oder erst durch seine Eltern auf ihn aufmerksam gemacht worden sei. Es sei außerdem nicht vorgetragen und nicht im Ansatz erkennbar, dass sich der Kläger selbst angesprochen gefühlt habe. Er sei - außer allenfalls für einen kleinen Mitschülerkreis - nicht identifizierbar. Wirtschaftliche oder persönliche Nachteile seien für den Kläger nicht gegeben.
Rz. 5
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 6
1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Zwar hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Es hätte aber durch Beschluss gem. § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO entscheiden müssen, weil es die Berufung wegen Nichterreichens des Beschwerdewerts des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO für unzulässig erachtet hat. Der Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO war nicht zulässig, weil die Zurückweisung der Berufung nach dieser Vorschrift die Zulässigkeit der Berufung voraussetzt (Ball in Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl., § 522 Rz. 20). Durch den Fehler des Berufungsgerichts dürfen dem Kläger keine Nachteile entstehen. Vielmehr darf er das Rechtsmittel einlegen, das bei richtiger Entscheidung durch Beschluss gem. § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO statthaft wäre (Grundsatz der Meistbegünstigung, vgl. BGH, Urt. v. 17.10.1986 - V ZR 169/85, BGHZ 98, 362, 364 f. m.w.N.); dies ist vorliegend die Rechtsbeschwerde gem. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO.
Rz. 7
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat dem Kläger den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung unzumutbar erschwert, indem es - wie im Folgenden näher ausgeführt - bei der Bemessung der Beschwer die in Betracht zu ziehenden Umstände nicht umfassend berücksichtigt und sein Ermessen somit fehlerhaft ausgeübt hat (vgl. BGH v. 12.4.2016 - VI ZB 48/14, WM 2016, 866 Rz. 5; v. 13.1.2015 - VI ZB 29/14, VersR 2015, 471 Rz. 7, jeweils m.w.N.).
Rz. 8
3. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg, weil die Berufung nicht mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung als unzulässig verworfen werden kann.
Rz. 9
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts handelt es sich bei den geltend gemachten Ansprüchen auf Unterlassung ehrverletzender Äußerungen und auf Veröffentlichung des begehrten Unterlassungsausspruchs um nichtvermögensrechtliche Ansprüche, zumal der Kläger wirtschaftliche Nachteile nicht geltend macht (vgl. BGH v. 16.2.1993 - VI ZR 127/92, VersR 1993, 614, 615; BGH, Urt. v. 17.10.1995 - VI ZR 352/94, NJW 1996, 999, 1000). Für die Bemessung der Beschwer nach freiem Ermessen sind alle Umstände des Einzelfalls, insb. Umfang und Bedeutung der Sache zu berücksichtigen (vgl. § 3 ZPO, § 48 Abs. 2 GKG).
Rz. 10
a) Was die Bedeutung der Sache - bezogen auf die Unterlassungsanträge - angeht, die sich nach dem Interesse des Berufungsklägers an der Unterlassung richtet, hat das Berufungsgericht entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde anders als das AG nicht auf einen - nicht streitgegenständlichen - Schmerzensgeldanspruch, sondern im Ausgangspunkt rechtsfehlerfrei auf die verständiger Weise zu besorgende Beeinträchtigung abgestellt, die von den beanstandeten Äußerungen ausgeht und sich auf den sozialen Geltungsanspruch des Klägers auswirken kann. In diesem Zusammenhang hat es, was ebenfalls nicht zu beanstanden ist, berücksichtigt, dass der Kläger in dem Facebookeintrag nicht namentlich genannt und allenfalls für einen kleinen Kreis von Personen identifizierbar ist, die von der vom Kläger geschilderten Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und der Tochter Kenntnis haben.
Rz. 11
Die Bedeutung der Sache für den Kläger richtet sich allerdings nicht allein nach der Breitenwirkung des Facebookeintrags, sondern auch nach der verständiger Weise anzunehmenden Wirkung des aus Sicht des Klägers unzutreffenden Vorwurfs einer Gewalttat ("Vermöbeln") und der beleidigenden Äußerungen ("asozialer Abschaum" etc.) auf den Kläger selbst. Die Begründung des angefochtenen Beschlusses, es sei weder vorgetragen noch im Ansatz erkennbar, dass sich der Kläger angesprochen gefühlt habe, ist angesichts des Vortrags des Klägers, der Facebookeintrag beziehe sich auf ihn, er fasse die Äußerungen als ehrverletzend auf und er sei "auf das Übelste beleidigt worden", nicht nachvollziehbar. Dabei ist für sein Interesse an der Unterlassung der Äußerungen nicht entscheidend, wie er Kenntnis von dem Facebookeintrag erlangt hat.
Rz. 12
Das Berufungsgericht hat ferner in seine Ermessensentscheidung fehlerhaft nicht einbezogen, dass der Kläger als minderjähriges Kind ein Recht auf ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und ungestörte kindgemäße Entwicklung hat (vgl. BGH, Urt. v. 15.9.2015 - VI ZR 175/14, BGHZ 206, 347 Rz. 18; v. 5.11.2013 - VI ZR 304/12, BGHZ 198, 346 Rz. 17, jeweils m.w.N.). Das Recht jedes Kindes auf ungehinderte Entwicklung zur Persönlichkeit - auf "Person werden" - umfasst dabei sowohl die Privatsphäre als auch die kindgemäße Entwicklung und Entfaltung in der Öffentlichkeit (vgl. BGH, Urt. v. 15.9.2015 - VI ZR 175/14, a.a.O.; BVerfG, NJW 2000, 2191, 2192). Der Facebookeintrag ist geeignet, dieses Schutzgut zu verletzen.
Rz. 13
b) Zu den zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls gehört auch die Frage, unter welchen Umständen und aus welchem Anlass die beanstandeten Äußerungen nach dem insoweit maßgeblichen Vortrag des Klägers getätigt wurden (vgl. Kurpat in Schneider/Herget, Streitwert-Kommentar, 14. Aufl., Rz. 1831). Vorliegend soll Auslöser eine vergleichsweise harmlose Auseinandersetzung unter zehnjährigen Schülern gewesen sein. Daran gemessen würden sich die Äußerungen der Beklagten als eine unangemessene und unverhältnismäßige Reaktion einer Erwachsenen auf den Vorfall darstellen. Auch dies ist bei der Bemessung der Beschwer zu berücksichtigen.
Rz. 14
c) Damit ergibt sich ein Beschwerdewert von deutlich über 600 EUR allein für den Unterlassungsantrag. Hinzu kommt der Veröffentlichungsantrag, der in der Sache über den Inhalt des Unterlassungsanspruchs hinausgeht und einen eigenen Streitgegenstand darstellt. Die Veröffentlichung ist Teil der Folgenbeseitigung und soll als selbständige Rechtsfolge neben die Verpflichtung zur Unterlassung hinzutreten. Ihr kommt daher ein eigener Wert zu, der mit dem Wert des Unterlassungsantrags gem. § 5 ZPO zusammenzurechnen ist (OLG Hamburg, MDR 1977, 142; OLG Frankfurt, JurBüro 1972, 706; GRUR 1955, 450; Noethen in Schneider/Herget, Streitwert-Kommentar, 14. Aufl., Rz. 5306, 5738; Herget in Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 3 Rz. 16 "Veröffentlichungsbefugnis"; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl., § 3 Rz. 158; a.A. OLG Stuttgart, NJW 1959, 890; OLG Karlsruhe, WRP 1958, 190).
Rz. 15
4. Die Sache ist daher unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 9823277 |
NJW 2016, 3380 |
FamRZ 2016, 2011 |
CR 2017, 111 |
GRUR 2016, 1207 |
AfP 2016, 545 |
MDR 2016, 1282 |
MDR 2016, 13 |
MDR 2016, 1435 |
VersR 2016, 1459 |
ZUM-RD 2017, 79 |
AGS 2016, 578 |
FF 2016, 507 |
FamRB 2016, 449 |
ITRB 2017, 4 |
K&R 2016, 747 |
MMR 2016, 847 |
ZD 2017, 32 |
IPRB 2016, 241 |
JMSR 2016, 9 |
Mitt. 2017, 138 |
tv diskurs 2017, 98 |