Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
BayObLG (Beschluss vom 19.11.2002; Aktenzeichen 5St RR 293/02) |
LG Ingolstadt (Urteil vom 20.06.2002; Aktenzeichen 3 Ns 13 Js 10819/01) |
Tenor
Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 20. Juni 2002 – 3 Ns 13 Js 10819/01 – wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Antragstellers in der Hauptsache ausgesetzt.
Tatbestand
I.
Entscheidungsgründe
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde werden das landgerichtliche Urteil und der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts angegriffen. Zugleich begehrt der Antragsteller, im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollstreckung der verhängten Strafe bis zur Entscheidung der Hauptsache auszusetzen.
Seiner Ansicht nach verstößt die Revisionsentscheidung gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Denn der Strafsenat habe eine eigene Beweiswürdigung vorgenommen, anstatt sich auf die Prüfung der rechtlichen Begründungsanforderungen für die Beweiswürdigung des Tatgerichts zu beschränken. Er sei demselben Zirkelschluss erlegen wie das Berufungsgericht. Eine ähnliche Verstärkung an Stelle einer Abmilderung des in der Revision geltend gemachten Verstoßes gegen die Begründungsanforderungen der tatrichterlichen Beweiswürdigung sei dem Revisionssenat zudem im Zusammenhang mit der Verletzung des Erfahrungssatzes unterlaufen, wiederholtem Wiedererkennen komme nur eine abgeschwächte Beweisbedeutung zu.
Der Strafsenat habe sich zudem über die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Beweis- und Begründungsanforderungen in Fällen von “Aussage gegen Aussage” hinweggesetzt; dies hätte er nicht ohne eine vorherige Vorlage des Verfahrens gemäß § 121 Abs. 2 GVG an den Bundesgerichtshof tun dürfen.
Die Willkürlichkeit des Vorgehens des Strafsenats ergebe sich aus der konsequenten und beharrlichen Weigerung, sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Revisibilität der Beweiswürdigung und zu dessen an Beweisregeln heranreichenden Grundsätzen für die richterliche Überzeugungsbildung in Aussagegegen-Aussage-Fällen zu Eigen zu machen.
III.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
- Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (vgl. BVerfGE 71, 158 ≪161≫); dies gilt auch für das Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 66, 39 ≪56≫; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweise sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 ≪161≫; stRspr).
- Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Der Antragsteller hat den Rechtsweg erschöpft und die Verfassungsbeschwerde fristgerecht erhoben und begründet. Nach seinem Vorbringen ist eine Grundrechtsverletzung – in Form eines Verstoßes gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) und in Form der Verkennung der Tragweite der Grundsätze fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) – durch die Verwerfung der Revision nicht von vornherein auszuschließen.
Die danach gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so läge in der Fortsetzung der Strafvollstreckung ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Eingriff in das Recht des Antragstellers auf persönliche Freiheit (vgl. BVerfGE 22, 178 ≪180≫; 84, 341 ≪344≫), der das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG besonderen Schutz angedeihen lässt (vgl. BVerfGE 65, 317 ≪322≫).
Erginge die einstweilige Anordnung, wiese aber das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet zurück, so wögen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall könnte die verhängte Strafe vorübergehend nicht weiter vollstreckt werden; die Strafvollstreckung könnte später aber ohne Schwierigkeiten fortgesetzt werden. Ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit ist dadurch nicht zu besorgen (vgl. BVerfGE 8, 102 ≪103≫; 14, 11 ≪12 f.≫; 15, 223 ≪226≫; 18, 146 ≪147≫; 22, 178 ≪180≫; 84, 341 ≪344≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Broß, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 884753 |
NPA 2003, 0 |
www.judicialis.de 2003 |