Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Subsidiaritätsgrundsatz soll gewährleisten, dass dem BVerfG infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch die sachnäheren Fachgerichte vermittelt werden. Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann somit eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst erhoben werden, wenn der gegen die behauptete Rechtsverletzung zulässige Rechtsweg erschöpft ist.
2. Gegen formelle Gesetze ist zwar kein direkter fachgerichtlicher Rechtsweg eröffnet. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist eine Verfassungsbeschwerde jedoch gleichwohl unzulässig, wenn es zumutbar ist, anderweitig fachgerichtliche Abhilfe gegen die behauptete Rechtsverletzung zu suchen.
3. Eine Verweisung auf die Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes kommt nicht in Betracht, wenn von der vorherigen Durchführung eines Gerichtsverfahrens weder die Klärung von Tatsachen noch die Klärung von einfachrechtlichen Fragen zu erwarten ist, auf die das BVerfG bei der Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen angewiesen wäre, sondern deren Beantwortung allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt.
4. Hier: Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen § 4 Sächsisches Sonderzahlungsgesetz.
Normenkette
BVerfGG Art. 90 Abs. 2; BBesG §§ 67-68; SächsSZG § 4
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen gegen § 4 des Sächsischen Sonderzahlungsgesetzes.
1. a) Nach § 67 und § 68a Bundesbesoldungsgesetz – BBesG – in Verbindung mit den hierzu ergangenen Bundesgesetzen erhielten Beamte und Richter bis zur Änderung durch das Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2003/2004 sowie zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2003/2004 – BBVAnpG 2003/2004) bundeseinheitlich ein Urlaubsgeld und eine jährliche Sonderzuwendung (so genanntes “Weihnachtsgeld”).
b) Durch Art. 13 BBVAnpG 2003/2004, der am 16. September 2003 in Kraft trat, wurden die Regelungen über das Urlaubsgeld und die jährliche Sonderzuwendung nach dem Bundesbesoldungsgesetz aufgehoben und durch eine Ermächtigung zur Regelung von Sonderzahlungen ersetzt. Hiernach können nunmehr gemäß § 67 BBesG der Bund und die Länder jeweils für ihren Bereich Regelungen über die Gewährung von Sonderzahlungen treffen. Der Höchstbetrag dieser Sonderzahlungen ist bundeseinheitlich festgeschrieben, im Übrigen haben Bund und Länder umfassende Gestaltungsfreiheit.
2. a) Der Freistaat Sachsen machte von dieser Ermächtigung Gebrauch und erließ das Sächsische Gesetz über die Gewährung einer jährlichen Sonderzahlung (Sächsisches Sonderzahlungsgesetz – SächsSZG), das zum 1. Januar 2004 in Kraft trat (SächsGVBl 2004, S. 2). An die Stelle der beiden Leistungen “Sonderzuwendung” und “Urlaubsgeld” trat die Gewährung einer einzigen Sonderzahlung, deren Höhe nicht mehr – wie zuvor – prozentual (zwischen 58,26 v.H. und 86,31 v.H.) aus den Bezügen eines Monats errechnet wird, sondern als Festbetrag ausgestaltet ist. Die Beträge sind gestaffelt, wobei sich die Staffelung in erster Linie an den Laufbahngruppen orientiert.
b) Der Landesgesetzgeber strebt mit der Neugestaltung der Sonderzahlung mehrere Ziele an: So würden die Unterschiede zwischen Beamten und Richtern mit West- und Ostbesoldung weiter abgebaut, indem die Sonderzahlung für beide Gruppen in gleicher Höhe gewährt werde. Daneben sei, um den veränderten allgemeinen sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen im Freistaat Sachsen Rechnung tragen zu können, die Höhe der Sonderzahlung unter das bisherige Niveau von Urlaubsgeld und jährlicher Sonderzahlung abgesenkt worden. Die Besoldungs- und Versorgungsempfänger würden damit einen solidarischen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten, der sich jährlich auf ca. 27 Mio. Euro belaufe. Bei der Abstufung und Festlegung der Festbeträge seien soziale Aspekte berücksichtigt worden, so dass die unteren Besoldungsgruppen im Verhältnis stärker von den Sonderzahlungen profitieren würden (vgl. LTDrucks. 3/9111, Begründung zum Gesetzentwurf der Staatsregierung Sachsen vom 3. September 2003, Vorblatt Teil A, B und D, Begründung Allgemeiner Teil, Begründung Besonderer Teil zu § 4 Abs. 1).
Die vorliegend maßgebliche Regelung des § 4 SächsSZG in der Fassung vom 6. Januar 2004 lautet:
§ 4
Höhe der Sonderzahlung für Beamte, Richter und
Mitglieder der Staatsregierung
(1) Die Höhe der Sonderzahlung für Beamte, Richter und Mitglieder der Staatsregierung bemisst sich nach der Besoldungsgruppe, die am 1. Dezember für die Bezügezahlung maßgebend ist. Sie beträgt
1. |
im einfachen und mittleren Dienst |
1.025 Euro, |
2. |
im gehobenen Dienst |
1.200 Euro, |
3. |
im höheren Dienst für die Besoldungsgruppen A 13 bis A 16, C 1 bis C 3, R 1, R 2, W 1 und W 2 |
1.500 Euro, |
4. |
für die übrigen Besoldungsgruppen und Mitglieder der Staatsregierung |
1.800 Euro, |
5. |
für Anwärter |
350 Euro. |
(2) … (4).
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer ist Vorsitzender Richter im höheren Justizdienst des Landes Sachsen und erhält Dienstbezüge der Besoldungsgruppe R 2. Er ist verheiratet und hat drei minderjährige Kinder. Mit seiner am 28. Dezember 2004 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt er die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 5 GG.
1. Vor Inkrafttreten des Sächsischen Sonderzahlungsgesetzes habe er im Jahr 2003 durch Urlaubsgeld und die jährliche Sonderzahlung insgesamt 3.824,44 Euro erhalten. Im Jahr 2004 hätte sich die Sonderzahlung lediglich auf 1.500 Euro belaufen, wodurch sich sein Gesamteinkommen, trotz der um 100,86 Euro gestiegenen Grundbezüge, um 2.324,44 Euro auf 68.571,06 Euro brutto vermindert habe. Dies entspreche einer Einbuße von 3,39 v.H. seines steuerpflichtigen Bruttoeinkommens. Unter Berücksichtigung der Inflationsrate in Höhe von 1,9 v.H. errechne sich insgesamt eine Realeinbuße von 5,29 v.H. Damit sei weder eine amtsangemessene Alimentierung noch ein angemessener Kindesunterhalt gewährleistet. Im Übrigen sei die mit wachsender Kinderzahl verbundene Auszehrung der familienneutralen Gehaltsbestandteile nicht länger hinnehmbar, weil so der Beamte mit mehreren Kindern den ihm zukommenden Lebenszuschnitt nicht oder nur zu Lasten seiner Familie erreichen könne. Jedenfalls würden die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts für die Mindestalimentierung kinderreicher Beamter (BVerfGE 99, 300) unterschritten.
2. Weiterhin fühle er sich als Bezügeempfänger mit Familie gegenüber Beamten ohne Unterhaltsverpflichtungen ungleich behandelt, weil beide Vergleichsgruppen die Sonderzahlung in gleicher Höhe erhielten. Wäre die Sonderzahlung nicht durch die Einführung eines Festbetrags, sondern – wie in den meisten anderen Ländern – durch eine prozentuale Kürzung novelliert worden, wäre auch künftig der Familienzuschlag in die Sonderzahlung eingeflossen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist aus Gründen der Subsidiarität unzulässig.
1. a) Der Subsidiaritätsgrundsatz soll gewährleisten, dass dem Bundesverfassungsgericht infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch die sachnäheren Fachgerichte vermittelt werden (vgl. BVerfGE 79, 1 ≪20≫; 86, 382 ≪386 f.≫). Das ist vor allem dort von Bedeutung, wo die Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen die Prüfung tatsächlicher und einfachrechtlicher Fragen voraussetzt, für die das Verfahren vor den Fachgerichten besser geeignet ist. Das Bundesverfassungsgericht soll nicht genötigt werden, auf ungesicherter Grundlage weit reichende Entscheidungen zu erlassen (vgl. BVerfGE 74, 102 ≪113 f.≫; 77, 381 ≪401≫; 86, 15 ≪27≫; 102, 197 ≪207≫; zuletzt Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. September 2005 – 2 BvR 1387/02 –, NVwZ 2005, S. 1294 ≪1296≫). Auch soll es nicht Aussagen über den Inhalt einer einfachgesetzlichen Regelung treffen müssen, solange sich hierzu noch keine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte entwickelt hat (vgl. BVerfGE 86, 15 ≪27≫). Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann somit eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst erhoben werden, wenn der gegen die behauptete Rechtsverletzung zulässige Rechtsweg erschöpft ist.
b) Gegen formelle Gesetze ist zwar kein direkter fachgerichtlicher Rechtsweg eröffnet. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist eine Verfassungsbeschwerde jedoch gleichwohl unzulässig, wenn es dem Beschwerdeführer zumutbar ist, anderweitig fachgerichtliche Abhilfe gegen die behauptete Rechtsverletzung zu suchen (BVerfGE 71, 305 ≪336≫ m.w.N.). Eine vorherige Anrufung der Fachgerichte ist allerdings nur dann geboten, wenn hiervon eine Vertiefung oder Verbreiterung des tatsächlichen und rechtlichen Materials zu erwarten ist, das für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes von Bedeutung sein kann. Eine Verweisung auf die Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes kommt deshalb nicht in Betracht, wenn von der vorherigen Durchführung eines Gerichtsverfahrens weder die Klärung von Tatsachen noch die Klärung von einfachrechtlichen Fragen zu erwarten ist, auf die das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen angewiesen wäre, sondern deren Beantwortung allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt (vgl. BVerfGE 88, 384 ≪400≫; 91, 294 ≪306≫; 98, 218 ≪244≫).
c) Hiernach ist der Vorrang fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Darlegung möglicher Rechtsbeeinträchtigungen sachlich geboten. Der Beschwerdeführer hat zum Nachweis seiner nicht (mehr) ausreichenden Alimentierung verschiedene Berechnungen zur Kürzung seines Bruttojahresverdienstes angestellt. Bereits diese Angaben sind für das Bundesverfassungsgericht mangels näherer Erläuterungen nicht nachprüfbar und lassen eine verlässliche verfassungsrechtliche Beurteilung nicht zu. Schon aus diesem Grund bedarf die vom Beschwerdeführer aufgeworfene verfassungsrechtliche Frage für ihre Beantwortung zunächst weitergehender Sachaufklärung.
2. Dem Beschwerdeführer ist es insbesondere auch aufgrund der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 24. November 1998 (BVerfGE 99, 300) zumutbar, um Rechtsschutz zunächst vor den Fachgerichten nachzusuchen.
a) Danach hat der Besoldungsempfänger mit Ablauf des 31. Dezember 1999 für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind Anspruch auf familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115 v.H. des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes, sofern der Gesetzgeber keine verfassungsgemäße Regelung bezüglich der Besoldung kinderreicher Beamter erlassen hat. Ab dem 1. Januar 2000 ist der Dienstherr verpflichtet und sind die Fachgerichte befugt, familienbezogene Gehaltsbestandteile nach diesem Maßstab zu gewähren und zuzusprechen (vgl. BVerfGE 99, 300 ≪304, 332≫).
b) Auch bei der Neuordnung des Sonderzahlungsrechts durch das Sächsische Sonderzahlungsgesetz musste der Landesgesetzgeber das aus Art. 33 Abs. 5 GG folgende Alimentationsprinzip beachten. Es verpflichtet den Dienstherrn, dem Beamten und seiner Familie amtsangemessenen Unterhalt zu leisten. Bei der Konkretisierung dieser Verpflichtung belässt Art. 33 Abs. 5 GG dem Besoldungsgesetzgeber zwar einen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 44, 249 ≪267≫; 81, 363 ≪375 f.≫; 99, 300 ≪315≫). Art. 33 Abs. 5 GG, der auch im Zusammenhang mit den in Art. 6 GG und im Sozialstaatsprinzip enthaltenen Wertentscheidungen der Verfassung zu sehen ist (vgl. BVerfGE 44, 249 ≪267≫; 81, 363 ≪376≫), verlangt aber, dass jedenfalls in der Lebenswirklichkeit die Beamten ohne Rücksicht auf die Größe ihrer Familie sich annähernd das Gleiche leisten können. Bei der Beurteilung und Regelung dessen, was einer amtsangemessenen Besoldung entspricht, kann die Zahl der Kinder eines Beamten deshalb nicht ohne Bedeutung sein (vgl. BVerfGE 99, 300 ≪315≫).
Bei der Vereinheitlichung der Sonderzahlungen an Beamte hat sich das Land Sachsen für die Einführung von Festbeträgen entschieden, deren Höhe an den Besoldungsgruppen ausgerichtet ist, den Familienstand und die Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder hingegen unberücksichtigt lässt. Von der Möglichkeit zur Regelung eines Sonderbetrags für Kinder, die die Ermächtigungsgrundlage des § 67 Abs. 1 Satz 2 BBesG zulässt, wurde kein Gebrauch gemacht.
Zwar hat der einzelne Beamte nicht ohne weiteres einen Anspruch auf Beibehaltung eines einmal erlangten Einkommens, auf Gewährung von bestimmten Gehaltsbestandteilen oder auf die Beibehaltung von Urlaubsgeld oder eines 13. Monatsgehalts (vgl. BVerfGE 44, 249 ≪263≫). Vermindert sich aber durch Umgestaltung von Teilen der Besoldung für Beamte mit Kindern der für eine angemessene Alimentierung maßgebliche Nettobetrag und sollten durch diese gesetzgeberische Maßnahme die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile in einem Maße gekürzt worden sein, dass sie unter die im Beschluss vom 24. November 1998 (BVerfGE 99, 300) konkretisierte Bemessungsgrenze für die Annahme einer nicht mehr ausreichenden – und damit verfassungswidrigen – Alimentierung von Beamten mit mehr als zwei Kindern fielen, wären die Dienstherrn des Landes Sachsen verpflichtet und die Verwaltungsgerichte befugt, die Differenz nach Maßgabe der Ziffer 2 des Tenors in der Entscheidung BVerfGE 99, 300 auszugleichen.
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen