Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.07.2014; Aktenzeichen L 2 SF 1681/14 EK) |
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 10.07.2014; Aktenzeichen L 2 SF 1681/14 EK) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 2014 – L 2 SF 1681/14 EK – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes und wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.
2. Das Schreiben des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Juli 2014 – L 2 SF 1681/14 EK – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes und wird aufgehoben.
3. Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
4. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Klage beim Landessozialgericht auf Entschädigung wegen überlanger Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens (§ 202 SGG i.V.m. § 198 Abs. 1 GVG).
I.
Der Beschwerdeführer erhob am 25. August 2010 Klage beim Sozialgericht auf Gewährung einer höheren und früher beginnenden Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Erhebung einer Verzögerungsrüge am 1. Oktober 2013 klagte er beim Landessozialgericht am 14. April 2014 auf Zuerkennung einer Entschädigung in Höhe von 4.300 Euro wegen unangemessener Verfahrensdauer. Das Landessozialgericht forderte daraufhin einen Vorschuss auf die Gerichtskosten in Höhe von 438 Euro an. Den Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe lehnte es mit Beschluss vom 10. Juli 2014 mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Entschädigungsklage ab und forderte mit Schreiben vom 14. Juli 2014 den Gerichtskostenvorschuss nochmals an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde beantwortete es mit dem Hinweis, ein Rechtsmittel sei weder gegen die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags noch gegen die Anforderung des Kostenvorschusses gegeben.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss vom 10. Juli 2014 und die Anforderung des Vorschusses mit Schreiben vom 14. Juli 2014 rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, aus Art. 19 Abs. 4 und aus Art. 97 GG. Unter Bezug auf eine Anmahnung des Gerichtskostenvorschusses durch die Landesoberkasse unter Hinweis auf die Möglichkeit einer Zwangsvollstreckung beantragt er außerdem eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Kostenforderung des Landessozialgerichts.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers, hier des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den Anforderungen an die Gewährung von Prozesskostenhilfe im fachgerichtlichen Verfahren bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357 f.≫ m.w.N.). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
1. Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Entschädigungsklage verletzt das aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung Art. 19 Abs. 4 GG folgende Gebot der Gleichstellung Bemittelter und Unbemittelter in den Chancen auf Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz.
a) Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Auslegung und Anwendung des Fachrechts obliegen dabei in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Verfassungsrecht wird jedoch verletzt, wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. BVerfGE 56, 139 ≪144≫). Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt, erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der Prozeßkostenhilfe, der unbemittelten Partei den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357 f.≫).
b) Nach diesen Grundsätzen hat das Landessozialgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Entschädigungsklage überspannt, weil es bei der Prüfung der Voraussetzungen des streitigen Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verkannt hat. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫).
aa) Anspruch auf Entschädigung hat nach dem – gemäß § 202 SGG auf das sozialgerichtliche Verfahren anzuwendenden – § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erlitten hat. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehören Verfahren, bei denen dem Grunde oder der Höhe nach um Fürsorgeleistungen gestritten wird, zu den Rechtsangelegenheiten, die wegen ihrer Natur und ihrer Bedeutung für die Betroffenen besonders zu fördern sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2011 – 1 BvR 232/11 –, juris). Eine besondere Bedeutung für den Betroffenen ist auch bei Rechtsstreitigkeiten anzunehmen, die zwar nicht die Sicherung des Existenzminimums betreffen, sondern Sozialleistungen – wie vorliegend etwa eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung –, auf die der Betroffene zur Sicherung seines laufenden Lebensunterhalts angewiesen ist.
Hiermit ist unvereinbar, dass das Landessozialgericht im Fall des Beschwerdeführers schwere oder nur begrenzt reparable Nachteile durch eine Verzögerung der Entscheidung über den früheren Beginn und die Höhe seiner Erwerbsminderungsrente verneint hat, weil im Fall eines Klageerfolgs eine Nachzahlung die Rente nachgezahlt werden. Dies ist nicht geeignet, den durch die Verzögerung des sozialgerichtlichen Verfahrens bedingten Mangel des Beschwerdeführers an laufenden Geldmitteln zum Lebensunterhalt auszugleichen. Der Beschwerdeführer hat mit seiner Verfassungsbeschwerde vorgetragen, seine viel zu gering bemessene Rente reiche kaum aus, ihm und seiner Ehefrau das Lebensnotwendige bereitzustellen. Auch das Landessozialgericht, dem der Beschwerdeführer mitgeteilt hatte, er könne nicht einmal den Gerichtskostenvorschuss von 438 Euro zahlen, musste davon ausgehen, dass er – anders als bei Rentenansprüchen nur für die Vergangenheit (vgl. Beschluss der Beschwerdekammer des BVerfG vom 1. Oktober 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 –, juris, Rn. 45) – auf die begehrte Erhöhung seiner Erwerbsminderungsrente zur Sicherung seines Lebensunterhalts angewiesen war. Das Landessozialgericht hat auch nichts Gegenteiliges hierzu festgestellt.
bb) Weiterhin verletzt der angefochtene Beschluss das Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz, weil das Landessozialgericht die Ablehnung von Prozesskostenhilfe zu Unrecht auch darauf gestützt hat, dass ihm eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens beim Sozialgericht anzulasten sei. Es ist davon ausgegangen, der Beschwerdeführer habe die Klage erst im April 2013 begründet. Tatsächlich hat er bereits mit Erhebung der Klage beim Sozialgericht einen vollständigen Klageantrag gestellt und diesen kurz begründet.
Eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch ein Gericht begründet zwar nicht zugleich auch einen Grundrechtsverstoß, wenn das Versehen des Gerichts weder auf einer groben Verkennung des Grundrechtsschutzes beruht noch auf einen leichtfertigen Umgang mit dem Grundrechtsschutz schließen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 – 1 BvR 1942/12 –, juris). Von einem unschädlichen Versehen des Landessozialgerichts ist aber vorliegend nicht auszugehen. Denn die Verzögerung des Verfahrens wäre sogar bei Begründung der Klage erst im April 2013 nicht dem Beschwerdeführer, sondern dem Sozialgericht anzulasten, weil es seiner Pflicht zur Nutzung sämtlicher ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, juris) nicht nachgekommen ist. Indem das Landessozialgericht die Untätigkeit des Sozialgerichts in der Sache bis April 2013 zu Lasten des Beschwerdeführers berücksichtigt hat, hat es verkannt, dass eine Untätigkeit des Gerichts über einen Zeitraum von 30 Monaten der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht genügt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 2012 – 1 BvR 1098/11 –, juris). Außerdem hat es nicht berücksichtigt, dass es der späteren Klagebegründung durch den vom Gericht beigeordneten Rechtsbeistand gar nicht bedurfte, um die Pflicht des Sozialgerichts zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen unter Heranziehung der Beteiligten des Verfahrens (§ 103 Satz 1 SGG) auszulösen. Feststellungen dazu, dass das Sozialgericht – etwa weil das Klageziel nicht erkennbar gewesen wäre oder der Beschwerdeführer seine behandelnden Ärzte nicht von der Schweigepflicht entbunden hätte – zum Betreiben des Verfahrens auf die Mitwirkung des Beschwerdeführers angewiesen wäre, sind dem Beschluss nicht zu entnehmen. Sie können auch nur dann zu Lasten des Beschwerdeführers gehen, wenn das Sozialgericht diesen fruchtlos zur (erforderlichen) Mitwirkung aufgefordert hätte. Auch dies hat das Landessozialgericht im angefochtenen Beschluss nicht festgestellt.
cc) Art. 19 Abs. 4 GG wird hingegen nicht – wie der Beschwerdeführer meint – dadurch verletzt, dass der Beschluss des Landessozialgerichts über seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe nach § 177 SGG unanfechtbar ist. Weder dieses Grundrecht noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip garantieren einen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 92, 365 ≪410≫).
2. Die Verfassungswidrigkeit des Beschlusses über den Antrag auf Prozesskostenhilfe führt zur Unvereinbarkeit der ebenfalls angegriffenen Anforderung des Kostenvorschusses mit Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verbietet es dem Gesetzgeber, den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫). Er darf aber für die Inanspruchnahme der Gerichte Gebühren erheben und die Höhe der Gerichtsgebühren überwiegend an den Streit- oder Geschäftswert anknüpfen (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪346≫). Auch die Anforderung eines Gerichtskostenvorschusses im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist grundsätzlich mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar. Hierdurch wird die Anrufung der Gerichte auch für einen Unbemittelten, der sich durch die öffentliche Gewalt in seinem Recht verletzt fühlt, nicht unbillig erschwert, weil er bei Erhalt von Prozesskostenhilfe von der Vorschusspflicht befreit wird (vgl. BVerfGE 10, 264 ≪268≫). Nach § 122 Abs. 1 Nr. 1a ZPO bewirkt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, dass die Bundes- oder Landeskasse die rückständigen oder entstehenden Gerichtskosten nur nach den Bestimmungen, die das Gericht trifft, gegen die Partei geltend machen kann.
Diese Maßgaben schließen es aus, den nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 GKG mit der Einreichung der Klage fälligen Kostenvorschuss bei einem Verfahrensbeteiligten anzufordern, über dessen nicht offensichtlich aussichtslosen Antrag auf Prozesskostenhilfe noch nicht entschieden worden ist. Denn von einem wirksamen Rechtsschutz kann keine Rede sein, wenn der wirtschaftlich im Sinne des Prozesskostenhilferechts bedürftige Rechtsschutzsuchende bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe dazu verpflichtet würde, – wenn auch nur vorläufig – Gerichtskosten zu entrichten. Soweit das Bundesverfassungsgericht die Anforderung von Kostenvorschüssen für unbedenklich erachtet hat, ist es dabei davon ausgegangen, dass die Zahlungspflicht für Unbemittelte bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe entfällt (vgl. BVerfGE 10, 264 ≪268≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. März 2000 – 1 BvR 69/00, 1 BvR 70/00, 1 BvR 71/00, 1 BvR 101/00, 1 BvR 102/00 –, juris, Rn. 20).
b) Danach ist die Kostenanforderung vom 14. Juli 2014 mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar. Mit der Aufhebung des den Antrag auf Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses durch das Bundesverfassungsgericht ist der Antrag des Beschwerdeführers wieder offen. Die fortbestehende Anforderung eines Kostenvorschusses verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effizienten Rechtsschutz.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Kirchhof, Masing, Baer
Fundstellen
Haufe-Index 7536526 |
NJW 2015, 687 |
NVwZ 2015, 296 |
NZS 2015, 134 |