Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 29.12.2005; Aktenzeichen 3 UF 351/05) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 29. Dezember 2005 – 3 UF 351/05 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.
2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
3. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerde-Verfahren wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Prozesskostenhilfe für eine von dem Beschwerdeführer beabsichtigte Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung zur Zahlung von Kindesunterhalt.
1. Der Beschwerdeführer ist Vater einer 17-jährigen Tochter und eines 13-jährigen Sohnes, die bei ihrer Mutter leben. Der Beschwerdeführer ist gelernter Schneider, war in diesem Beruf jedoch zuletzt vor 1987 in der Türkei tätig. Ab Dezember 2004 wurde er nach Trennung von seiner Ehefrau von dieser gerichtlich auf Zahlung des Regelunterhalts für die beiden minderjährigen Kinder in Anspruch genommen. Im Zeitraum Dezember 2004 bis März 2005 war er als Küchenhelfer teilzeitbeschäftigt und verdiente monatlich netto 800,00 EUR. Seit April 2005 ist er arbeitslos. Der Beschwerdeführer beruft sich auf fehlende Leistungsfähigkeit.
Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer zur Zahlung des Regelunterhalts an beide Kinder. Er sei als leistungsfähig anzusehen. Hinreichende Bemühungen um eine Arbeit, die ihm die Unterhaltszahlungen ermögliche, habe er nicht dargetan. Bei Ausübung einer Ganztagstätigkeit könne er die Mittel für den Kindesunterhalt erwirtschaften, zudem sei er zur Ausübung von Nebentätigkeiten verpflichtet.
Der Beschwerdeführer beantragte Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren und berief sich für seine fehlende Leistungsfähigkeit darauf, dass während intakter Ehe seine Ehefrau voll erwerbstätig gewesen sei, während er neben der Kinderbetreuung Aushilfstätigkeiten als Küchenhilfe in Gastronomiebetrieben erbracht habe. Er beherrsche die deutsche Sprache nur eingeschränkt und sei aufgrund einer Behinderung (Wirbelsäulensyndrom) in der Erwerbsfähigkeit beschränkt. Seine Arbeitsmarktchancen beschränkten sich allenfalls auf einfachste Tätigkeiten im Niedriglohnbereich. Das Amtsgericht habe nicht festgestellt, welches monatliche Einkommen für ihn überhaupt erzielbar sei.
Das Oberlandesgericht wies den Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers wegen fehlender Erfolgsaussicht zurück. Den Beschwerdeführer treffe die Darlegungs- und Beweislast für seine fehlende Leistungsfähigkeit. Er habe nachzuweisen, dass er auch bei intensivsten Bemühungen nicht in der Lage sei, eine Arbeitsstelle zu finden, die ihn in die Lage versetze, den Kindesunterhalt zu leisten. Die unternommenen Bemühungen seien konkret vorzutragen. Dem sei der Beschwerdeführer nicht nachgekommen. Seine Behinderung stehe einer beruflichen Tätigkeit nicht entgegen. Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer nicht beispielsweise in einer Änderungsschneiderei mitarbeiten könne.
2. Mit seiner gegen diesen Beschluss gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
3. Die Gegnerin des Ausgangsverfahrens und das Land Hessen haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den Anforderungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 10, 264 ≪270≫; 22, 83 ≪87≫; 51, 295 ≪302≫; 63, 380 ≪394≫; 67, 245 ≪248≫; 81, 347 ≪357≫).
2. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet das Grundgesetz eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 9, 124 ≪128 f.≫; 10, 264 ≪270≫; 22, 83 ≪87≫; 51, 295 ≪302≫; 63, 380 ≪394≫; 67, 245 ≪248≫). Verfassungsrechtlich ist es dabei unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫).
Die Auslegung und Anwendung des § 114 ZPO obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den – verfassungsgebotenen – Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das Bundesverfassungsgericht kann folglich nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen.
b) Bei Anwendung dieser Maßstäbe erweist sich die Verfassungsbeschwerde als begründet. Das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, verfehlt. Es ist nicht fern liegend, dass die vom Amtsgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung des § 1603 BGB einer rechtlichen Überprüfung in einem Berufungsverfahren nicht standhält und der Beschwerdeführer seine fehlende Leistungsfähigkeit in einem Hauptsacheverfahren vor dem Oberlandesgericht zumindest teilweise wird beweisen können.
Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht ist § 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Hieraus sowie aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Daher ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur die tatsächlichen Einkünfte berücksichtigt werden, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen” ausüben könnte. Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs bleibt dennoch die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Überschreitet der ausgeurteilte Unterhalt die Grenze des Zumutbaren, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (vgl. BVerfGE 57, 361 ≪381≫).
Gemessen an diesen Maßstäben ist fraglich, ob das Urteil des Amtsgerichts einer rechtlichen Überprüfung standhält, auch wenn die Feststellung, der Beschwerdeführer habe sich nicht in einem den Anforderungen des § 1603 Abs. 2 BGB genügenden Maße bemüht, eine Arbeitsstelle zu finden, zutrifft und selbst von der Verfassungsbeschwerde nicht mehr angegriffen wird. Denn die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, hat neben den fehlenden subjektiven Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners objektiv zur Voraussetzung, dass die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten überhaupt erzielbar sind, was von den persönlichen Voraussetzungen des Unterhaltsschuldners (Alter, Ausbildung, Berufserfahrung, Gesundheitszustand) und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängig ist (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 1995, NJW 1996, S. 517 ≪518≫). Nach dem Urteil des Amtsgerichts müsste der Beschwerdeführer – ausgehend von den ab Juli 2005 geschuldeten Beträgen für den laufenden Unterhalt – für zwei Kinder jeweils monatlich 291 EUR aufbringen. Zur Deckung dieses monatlich geschuldeten Unterhaltsbetrages von 582 EUR und seines eigenen notwendigen Selbstbehaltes von 890 EUR müsste der Beschwerdeführer ein monatliches Nettoeinkommen von 1.472 EUR erzielen. Selbst wenn man von vollschichtiger Erwerbstätigkeit des – nach eigenem Vortrag eingeschränkt erwerbsfähigen – Beschwerdeführers ausgehen würde, ist nicht ersichtlich, wie der Beschwerdeführer, ob als Schneider oder in der Gastronomie, einen solchen Verdienst soll erzielen können. Jedenfalls hat das Oberlandesgericht hierzu keine Feststellungen getroffen. Das Oberlandesgericht hätte daher nicht allein aus den fehlenden Erwerbsbemühungen auf volle Leistungsfähigkeit schließen dürfen, zumal der Beschwerdeführer für seine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit Beweis angetreten hat.
Das Oberlandesgericht hat daher, indem es die Erfolgsaussichten der Berufung verneinte und die Prozesskostenhilfe versagte, den ihm eingeräumten Ermessensspielraum überschritten. Die zur Entscheidung stehende Frage der Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers war nicht dazu geeignet, im summarischen Prozesskostenhilfeprüfungsverfahren entschieden zu werden, zumal eine fehlerhafte Zurechnung fiktiven Einkommens zugleich eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG auf Schutz vor einer unverhältnismäßigen Belastung durch Unterhaltsleistungen darstellt.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht bei Beachtung der sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen