Verfahrensgang
LG Krefeld (Beschluss vom 22.10.2008; Aktenzeichen 33 StVK 701/08) |
LG Krefeld (Beschluss vom 20.10.2008; Aktenzeichen 33 StVK 700/08) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Krefeld vom 20. Oktober 2008 – 33 StVK 700/08 – und vom 22. Oktober 2008 – 33 StVK 701/08 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die Hälfte der notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Gegen den strafinhaftierten Beschwerdeführer wurde – nach seinen Angaben mit der Begründung, dass ein von ihm gefertigter Aushang möglicherweise eine Vollzugsbedienstete beleidige – die Ablösung von der Arbeit und getrennte Unterbringung während der Freizeit, jeweils auf unbestimmte Zeit, verfügt.
Hiergegen gerichtete Eilanträge wies das Landgericht mit angegriffenen Beschlüssen vom 20. Oktober 2008 und vom 22. Oktober 2008 mit der gleichlautenden Begründung zurück, sie seien zurückzuweisen, weil sie auf vollständige Befriedigung des Rechtsbegehrens des Antragstellers und damit auf eine unzulässige Vorwegnahme der endgültigen Entscheidung gerichtet seien.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die am 19. November 2008 rechtzeitig eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die verhängten Maßnahmen und die ablehnenden gerichtlichen Eilentscheidungen. Der Beschwerdeführer, der annimmt, bei beiden Maßnahmen habe es sich um Disziplinarmaßnahmen gehandelt, macht geltend, die Maßnahmen seien nicht wie geboten vom Anstaltsleiter verhängt und der Sachverhalt sei nicht in der erforderlichen Weise aufgeklärt worden. Die Maßnahmen seien rechtswidrig; nach § 103 Abs. 1 Nrn. 5 und 7 StVollzG hätten sie nicht unbefristet, sondern maximal für die Dauer von vier Wochen angeordnet werden dürfen. Es sei falsch, eine Entscheidung im Eilverfahren mit der Begründung abzulehnen, dass dies einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorgreifen würde. Dass die Maßnahmen in § 103 StVollzG nicht vorgesehen und daher unzulässig seien, könne auch im Hauptsacheverfahren nicht anders beurteilt werden. Eine Entscheidung sei bereits im Eilverfahren zu treffen, da ihm schwere Nachteile entstünden: Er habe schon seit einem Monat kein Einkommen mehr. Bis zum Endstrafenzeitpunkt seien es noch sechs Monate. Bei längerer Arbeitslosigkeit erhalte er bei seiner Entlassung kein Arbeitslosengeld. Dass er eine Beamtin beleidigt haben solle, habe nichts mit seiner Arbeit in der Baukolonne zu tun.
2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die am 13. Oktober 2008 verhängten Maßnahmen richtet. Sie ist insoweit unzulässig, weil der hier maßgebliche Rechtsweg in der Hauptsache nicht erschöpft wurde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
Dagegen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschlüsse des Landgerichts angegriffen werden. Insoweit ist die Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt (§§ 93b, 94a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist im dargelegten Umfang zulässig und offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).
a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern gibt dem Bürger einen Anspruch auf tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Aus dieser grundgesetzlichen Garantie folgt das Verfassungsgebot, soweit wie möglich zu verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn sich die Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 ≪153≫; 65, 1 ≪70≫). Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen nicht schlechthin (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪70≫). Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber im Bereich des Strafvollzugs die sofortige Vollziehung als Regel und die Aussetzung des Vollzugs als Ausnahme vorsieht, weil er grundsätzlich den sofortigen Vollzug der angeordneten Maßnahmen aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses für geboten hält. Dabei muss jedoch gewährleistet sein, dass der Betroffene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollstreckung bis zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiegt. Bei dieser Abwägung fällt der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirkt (BVerfGE 35, 382 ≪402≫; 37, 150 ≪153≫).
Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ergeben sich Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220 ≪226≫; 77, 275 ≪284≫). Dieser muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (vgl. BVerfGE 40, 272 ≪275≫; 61, 82 ≪111≫; 67, 43 ≪58≫; BVerfGK 1, 201 ≪204 f.≫). Im Einzelfall kann auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung, die die Hauptsache zugunsten des Antragstellers vorwegnimmt, zulässig und geboten sein (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪77 f.≫; BVerfGK 1, 201 ≪206≫; 7, 403 ≪409≫, m. zahlr. w. N., sowie für einstweilige Anordnungen des BVerfG selbst, die nur unter besonders engen Voraussetzungen in Betracht kommen, BVerfGE 34, 160 ≪162 f.≫; 108, 34 ≪40≫; 113, 113 ≪122≫, stRspr). Dabei können – auch in Vornahmesachen – zur Klärung der tatsächlichen Grundlagen für die erforderliche Abwägung Maßnahmen der gerichtlichen Sachverhaltsermittlung auch bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geboten sein (vgl. BVerfGK 3, 135 ≪140≫).
b) Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 2 StVollzG durch das Landgericht verkennt diese Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes.
Nach § 114 Abs. 2 StVollzG kann das Gericht den Vollzug einer angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht (Satz 1); unter den Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden (Satz 2). Mit dieser Regelung differenziert der Gesetzgeber bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Strafvollzug nach dem Gegenstand der Hauptsache. Wendet sich der Beschwerdeführer gegen eine ihn belastende Maßnahme, so kann das Gericht den Vollzug dieser Maßnahme schon unter den Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG aussetzen. Begehrt der Beschwerdeführer dagegen die Verpflichtung zum Erlass einer von der Anstalt abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme, so kommt vorläufiger Rechtsschutz nur unter den Voraussetzungen der § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht.
Das Landgericht hat den Antrag des Beschwerdeführers allein mit der in dieser Allgemeinheit unzutreffenden Begründung abgelehnt, dass die vollständige Befriedigung des Rechtsbegehrens „im Verfahren der einstweiligen Anordnung” nicht möglich sei, da die einstweilige Anordnung die endgültige Entscheidung nicht vorwegnehmen dürfe. Es ist zudem rechtsfehlerhaft von einem Anwendungsfall des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Verbindung mit § 123 Abs. 1 VwGO statt von der nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG zu beurteilenden Konstellation einer beantragten vorläufigen Aussetzung einer belastenden Maßnahme ausgegangen (zur Bedeutung dieser Unterscheidung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1993 – 2 BvR 2212/93 –, NStZ 1994, S. 101; vom 7. September 1994 – 2 BvR 1958/93 –, ZfStrVO 1995, S. 371 ff.; vom 17. Juni 1999 – 2 BvR 1454/98 –, NStZ 1999, S. 532). Die damit zusammenhängende Annahme des Gerichts, dass der Erlass der begehrten „Anordnung” die Hauptsache vorwegnehmen würde und daher nicht zulässig sei, ist unhaltbar. Die nur vorläufige Aussetzung einer Maßnahme nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache stellt für sich genommen keine Vorwegnahme der Hauptsache dar. Eine – nur in Ausnahmefällen zulässige – Vorwegnahme der Hauptsache liegt nur dann vor, wenn die begehrte vorläufige Entscheidung faktisch keine vorläufige wäre, sondern einer endgültigen gleichkäme. Dies ist nicht der Fall, wenn die einstweilige Aussetzung einer Maßnahme begehrt wird, die bei entsprechendem Ausgang des Hauptsacheverfahrens wieder in Geltung gesetzt werden kann. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (vgl. BVerfGK 1, 201 ≪205 f.≫; 7, 403 ≪409≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juni 1999 – 2 BvR 1454/98 –, NStZ 1999, S. 532; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1989 – 2 BvR 896/89 –, juris).
Das Gericht hätte daher, ohne insoweit durch den Gesichtspunkt der Unzulässigkeit einer Vorwegnahme der Hauptsache gebunden zu sein – der im Übrigen auch in der Konstellation des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nicht ausnahmslos gilt –, gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG prüfen müssen, ob die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Beschwerdeführers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ob der Aussetzung kein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug entgegensteht. Indem das Gericht die erforderliche Interessenabwägung unterlassen hat, ist es den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven vorläufigen Rechtsschutz nicht gerecht geworden.
c) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht dem Beschwerdeführer günstigere Entscheidungen getroffen hätte, wenn es bei der Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 2 StVollzG die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes hinreichend beachtet hätte.
3. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
4. Weil die Verfassungsbeschwerde nur teilweise erfolgreich ist, sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen nur zur Hälfte zu erstatten (§ 34a Abs. 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Voßkuhle, Mellinghoff, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 2242193 |
NStZ 2010, 442 |