Verfahrensgang
Tenor
- Der Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 2. April 2001 – 7 StVK 357/01 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 23. August 2001 – 2 Ws 664/01 – ist damit gegenstandslos.
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung von Gefangenen nach § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG zulässig ist.
I.
1. Der Beschwerdeführer verbüßt, derzeit in der Justizvollzugsanstalt Diez, eine langjährige Freiheitsstrafe. Am 19. Februar 2001 wurde er vor dem Gang zum Besuch körperlich durchsucht und musste sich dafür entkleiden. Seinen Antrag, solche Durchsuchungen, die rechtswidrig seien, künftig zu unterlassen, lehnte die Anstalt ab. Gemäß § 84 Abs. 2 StVollzG sei es auf Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall zulässig, körperliche Durchsuchungen mit Entkleidung vorzunehmen. Die Anordnungskompetenz für entsprechende Durchsuchungen vor dem Besuchsempfang habe der Anstaltsleiter gemäß § 156 Abs. 3 StVollzG mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde auf Vollzugsbedienstete übertragen.
2. a) Hiergegen wandte sich der Beschwerdeführer u. a. mit dem Antrag an das Landgericht, die Rechtswidrigkeit der durchgeführten Durchsuchung festzustellen. Die Justizvollzugsanstalt trat dem erneut mit Hinweis auf die Delegation der Anordnungskompetenz entgegen. Der Beschwerdeführer erwiderte, ein einzelfallbezogener Anordnungsgrund sei nicht genannt und existiere auch nicht. Wie das Gericht seiner Gefangenenpersonalakte entnehmen könne, lägen bezüglich seiner Person keinerlei erhöhte Sicherheitsbedenken wie Fluchtgefahr oder Suchtproblematik vor, die eine mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung rechtfertigen könnten.
Die Behauptung der Anstalt, bei den Durchsuchungen handele es sich um Einzelfallkontrollen, widerspreche zudem der von ihr geübten Praxis. Jeder Gefangene werde auf dem Weg zu Besuchern oder zum Anstaltsarzt schematisch ohne Einzelfallprüfung und -begründung entkleidet und körperlich durchsucht. Dies lasse sich anhand der Besuchs- und Kontrolllisten der betreffenden Tage belegen. Er selbst sei bereits mehrmals grundlos durchsucht worden.
b) Das Landgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 2. April 2001 als unbegründet zurück. Die Durchsuchung sei rechtmäßig gewesen. Der Anstaltsleiter habe die Anordnungskompetenz wirksam delegiert, so dass die handelnden Beamten zuständig gewesen seien. Wenn diese den Beschwerdeführer vor der Besuchszuführung einer mit einer Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung unterzogen hätten, so sei dies rechtlich nicht zu beanstanden. Die Einzelfallentscheidung nach § 84 Abs. 2 StVollzG setze nicht das Vorliegen besonderer Sicherheitsaspekte voraus, sondern lediglich, dass die zuständigen Organe die Durchsuchung im Hinblick auf einen bestimmten Gefangenen anordneten. Es sei nicht ersichtlich, dass eine schematische Anwendung ohne Einzelfallanordnung stattgefunden habe. Die näheren Gründe, deretwegen die zuständigen Organe den Beschwerdeführer überprüft hätten, unterlägen deren Beurteilung und seien vom Gericht nicht nachzuprüfen.
3. Die vom Beschwerdeführer fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Koblenz mit Beschluss vom 23. August 2001 als unzulässig.
II.
Mit seiner fristgemäß erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
§ 84 Abs. 2 StVollzG ermächtige die Justizvollzugsanstalt nicht zu den von ihr vorgenommenen allgemeinen und pauschalen Durchsuchungen vor dem Besuch. Die Durchsuchungspraxis sei willkürlich. Dem seien die Gerichte nicht nachgegangen. Bei Durchsuchungen nach § 84 Abs. 2 StVollzG müsse der Anstaltsleiter eine Ermessensentscheidung treffen, die nach Anstaltstyp und Gefangenengruppen zu unterscheiden habe. Die Gerichte hätten trotz entsprechender Beweisanträge versäumt, den Sicherheitsstatus des Beschwerdeführers zu ermitteln, und hätten daher eine Prüfung der Ermessensausübung nicht vornehmen können.
Das Justizministerium des Landes Rheinland-Pfalz hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Wegen zwischenzeitlich fortgesetzter Durchsuchungen hat der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für die Entscheidungskompetenz der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 BVerfGG liegen vor. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt (s. im Folgenden unter 1.); die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet. Die Auslegung und Anwendung von § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG durch die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.
1. a) Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪93≫; 30, 173 ≪196 f.≫; 57, 250 ≪272≫; 74, 102 ≪127≫ stRspr). Der fachgerichtliche Spielraum ist insbesondere dann überschritten, wenn das Gericht bei der Gesetzesauslegung und -anwendung in offensichtlich nicht zu rechtfertigender Weise den vom Gesetzgeber gewollten und im Gesetzestext ausgedrückten Sinn des Gesetzes verfehlt (vgl. BVerfGE 86, 59 ≪64≫) oder das zu berücksichtigende Grundrecht völlig unbeachtet gelassen hat (vgl. BVerfGE 59, 231 ≪268 f.≫; 77, 240 ≪255 f.≫).
Der verfassungsgerichtlichen Prüfung nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung des Landgerichts nicht stand. Sie verkennt die offensichtliche Differenzierung der Eingriffsvoraussetzungen, die der Gesetzgeber gerade zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Gefangenen in § 84 Abs. 2 und 3 StVollzG für Durchsuchungen mit Entkleidung vorgenommen hat.
b) Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Gefangene (vgl. BVerfGE 33, 1 ≪11≫; BVerfGE 89, 315 ≪322 f.≫).
Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Mit Rücksicht darauf hat der Gesetzgeber in § 84 StVollzG die Voraussetzungen für diesen Eingriff in differenzierter Weise geregelt.
§ 84 Abs. 3 StVollzG ermächtigt den Anstaltsleiter, für drei vom Gesetz als typischerweise besonders gefahrträchtig eingeschätzte Konstellationen aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt Durchsuchungen mit Entkleidung allgemein anzuordnen; dies soll insbesondere der Verhinderung des Drogenschmuggels dienen (vgl. BTDrucks 13/11016, S. 26). Gestattet ist nach § 84 Abs. 3 StVollzG die allgemeine Anordnung solcher Durchsuchungen unter anderem nach – nicht aber vor – Kontakten von Gefangenen mit Besuchern.
§ 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG erlaubt darüber hinaus eine mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung von Gefangenen auf Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall. Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der vom Gesetzgeber getroffenen Unterscheidung zwischen der allgemeinen Anordnungsbefugnis nach Absatz 3 und der einzelfallbezogenen Anordnungsbefugnis nach Absatz 2 Satz 1 2. Alt. lassen keinerlei Zweifel daran, dass allein auf Absatz 2 gestützte Durchsuchungen nicht in der pauschalen Weise angeordnet werden dürfen, in der Absatz 3 dies für die dort bezeichneten Fallgruppen zulässt (vgl. Brühl, in: Feest ≪Hrsg.≫, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 84 Rn. 1; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 84 Rn. 3; Kühling/Ullenbruch, in: Schwind/Böhm ≪Hrsg.≫, StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 84 Rn. 5; OLG Karlsruhe, NStZ 1983, S. 191 ≪192≫; OLG Nürnberg, NStZ 1982, S. 526; Kammergericht, NStZ 1994, S. 379; OLG Bremen, NStZ 1985, S. 143 ≪144≫).
Danach ist es zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn auf der Grundlage von § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG mit Entkleidung verbundene Durchsuchungen – etwa im Wege der Stichprobe – auch für persönlich an sich unverdächtige Gefangene angeordnet werden, sofern Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, gefährliche Häftlinge könnten sonst die für sie angeordneten Kontrollen auf dem Umweg über von ihnen unter Druck gesetzte Mithäftlinge umgehen (vgl. OLG Nürnberg, NStZ 1982, S. 526; Kammergericht, NStZ 1994, S. 379).
Dabei darf aber nicht die in § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG und § 84 Abs. 3 StVollzG vorgesehene Abstufung der Anordnungsbefugnisse überspielt werden. Eine Anordnung auf der Grundlage des § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG darf daher jedenfalls nicht zur Durchsuchung aller oder fast aller Gefangenen vor jedem Besuchskontakt und damit zu einer Durchsuchungspraxis führen, die das Strafvollzugsgesetz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nur in den Konstellationen des § 84 Abs. 3 StVollzG erlaubt (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 84 Rn. 3; OLG Bremen, NStZ 1985, S. 143 ≪144≫; OLG Nürnberg, NStZ 1982, S. 526; entgegen OLG Hamm, NStZ 1981, S. 407).
2. Mit der Annahme, die Gründe einer Anordnung nach § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG habe nicht das Gericht, sondern allein die Anstalt zu beurteilen, hat das Landgericht diesen eindeutigen Sinn der vom Gesetzgeber getroffenen differenzierten, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichteten Regelung und seine daraus folgenden Prüfungspflichten verkannt. Es hat versäumt, zu klären, ob die Durchsuchung des Beschwerdeführers noch “im Einzelfall” stattgefunden hat oder, wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht, im Zuge einer schematischen Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG auf alle Gefangenen vor dem Besuch erfolgt ist. Die Notwendigkeit, dieser Frage nachzugehen, hätte sich dem Gericht nicht zuletzt deshalb aufdrängen müssen, weil die Justizvollzuganstalt selbst im Gerichtsverfahren ungeachtet des Vorbringens des Beschwerdeführers, dass Durchsuchungen mit Entkleidung vor dem Besuch in unzulässiger Weise allgemein praktiziert würden, ihre Durchsuchungspraxis weder erläutert noch begründet, sondern sich auf die an den Einwänden des Beschwerdeführers vorbeigehende Auskunft beschränkt hat, die Anordnungsbefugnis für Durchsuchungen sei gemäß § 156 Abs. 3 StVollzG auf Bedienstete der Anstalt übertragen worden. Angesichts dessen durfte das Landgericht es nicht bei der – nicht näher begründeten – Feststellung belassen, für eine schematische Anwendung des § 84 Abs. 2 StVollzG sei nichts ersichtlich.
3. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht bei Beachtung der sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen an die Auslegung und Anwendung von § 84 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StVollzG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Der Beschluss des Landgerichts ist daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG), ohne dass es auf die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen noch ankäme. Der zugleich angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz wird damit gegenstandslos. Der weiteren Prüfung, ob die Beurteilung der Rechtsbeschwerde als unzulässig den Zugang des Beschwerdeführers zur Rechtsbeschwerdeinstanz unzumutbar erschwert hat, bedarf es daher nicht (vgl. BVerfGE 69, 233 ≪248≫).
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Jentsch, Broß, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 1067456 |
NJW 2004, 1728 |
NStZ 2004, 227 |
NStZ 2004, 611 |
NPA 2004, 0 |
StV 2004, 145 |
ZfStrVo 2004, 185 |
www.judicialis.de 2003 |