Verfahrensgang
Tenor
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Stellt das in den Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG festgelegte Erfordernis, bestimmte Teile der spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin zur Erlangung der Bezeichnung „praktischer Arzt” bzw. „praktische Ärztin” als Vollzeitbeschäftigung zu absolvieren, eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 76/207/EWG dar?
2. Im Falle der Bejahung von Frage 1:
- Wie ist die Normenkollision zwischen der Richtlinie 76/207/EWG einerseits und den Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG andererseits zu lösen?
- Gehört das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts zum gemeinschaftsrechtlichen Bestand ungeschriebener Grundrechte, die eine entgegenstehende Norm des sekundären Gemeinschaftsrechts verdrängen?
Tatbestand
I.
Die Klägerin ist approbierte Ärztin. Sie begehrt das Recht, aufgrund einer Teilzeitausbildung in einer Allgemeinarztpraxis in Hamburg die Bezeichnung „praktische Ärztin” zu führen.
Ursprünglich hatte die Klägerin ihre Weiterbildung zur (Fach-)Ärztin für Allgemeinmedizin nach der Weiterbildungsordnung der beklagten Ärztekammer betrieben. Von 1988 bis 1992 war sie vollzeitig in der Inneren Abteilung eines Krankenhauses tätig. Davon anerkannte die Beklagte zwei Jahre als Vollzeitweiterbildung. Nach der Geburt zweier Kinder entschied sie sich für die wesentlich kürzere „spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin”. Vom 1. April 1994 bis zum 31. März 1995 war sie als Weiterbildungsassistentin in einer Praxis für Allgemeinmedizin als Teilzeitkraft mit mehr als 60 % der normalen Arbeitszeit beschäftigt.
Am 4. Mai 1995 beantragte die Klägerin ein Zeugnis über die „spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin” verbunden mit der Berechtigung, die Bezeichnung „praktische Ärztin” zu führen. Mit Bescheid vom 5. Mai 1995 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, nach § 13 b Abs. 2 Satz 1 des Hamburgischen Ärztegesetzes (HmbÄrzteG) müsse die vorgeschriebene Ausbildung in einer Praxis für Allgemeinmedizin mindestens sechs Monate lang in Vollzeit erfolgen. Eine Ausnahme hiervon sehe das Gesetz – anders als die Weiterbildungsordnung für die Facharztausbildung – nicht vor.
Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat die Klägerin darauf gestützt, die Regelung des § 13 b Abs. 2 Satz 1 HmbÄrzteG verletze das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl 1976 Nr. L 39/40). Die Forderung in Art. 5 Abs. 1 3. Spiegelstrich der Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (ABl 1986 Nr. L 267/26), dass jedenfalls ein Teil der Ausbildung in einer allgemeinmedizinischen Praxis in Vollzeit abzuleisten sei, müsse hinter dem grundlegenden Diskriminierungsverbot zurücktreten.
Demgegenüber hat die Beklagte vorgetragen, die gesetzlich geforderte Vollzeitausbildung sei sachlich gerechtfertigt. Die Regelung solle gewährleisten, dass der künftige praktische Arzt während seiner Tätigkeit in einer allgemeinmedizinischen Praxis einen Gesamtüberblick über die dort anfallenden Aufgaben erhalte und das gesamte Spektrum der zu bewältigenden Tätigkeiten kennen lerne. Bei einer bloßen Teilzeitausbildung könne es vorkommen, dass der Auszubildende keine Erfahrungen mit Hausbesuchen erwerbe oder jeweils nur Ausschnitte aus der Krankheitsentwicklung eines Patienten mitbekomme.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision hat der beschließende Senat durch Urteil vom 18. Februar 1999 (BVerwG 3 C 10.98 – BVerwGE 108, 289) zurückgewiesen. Er hat ausgeführt, es stehe außer Zweifel, dass das Hamburgische Ärztegesetz in § 13 b Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 13 a Abs. 3 Satz 3 als Teil der „spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin” eine mindestens 6-monatige Vollzeittätigkeit in einer Praxis für Allgemeinmedizin vorschreibe und dass die Klägerin diese Voraussetzung nicht erfülle. Es könne offen bleiben, ob die zwingende Forderung einer Vollzeitausbildung begrifflich eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG sei. Jedenfalls sei die vom Hamburger Gesetzgeber getroffene Regelung gemeinschaftsrechtlich durch Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 93/16/EWG gerechtfertigt. Der 3. Spiegelstrich dieser – mit Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 86/457/EWG übereinstimmenden – Vorschrift verbiete eine nationale Regelung, die die Ausbildung in einer Allgemeinpraxis vollständig in Teilzeit zuließe. Nach allgemeinen Grundsätzen gehe diese Regelung der Gleichbehandlungsrichtlinie vor, weil es sich bei prinzipieller Gleichrangigkeit um die speziellere und die zeitlich spätere Regelung handle. Sie verletze weder das Willkürverbot noch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Forderung, zumindest Teile der Ausbildung in einer Allgemeinarztpraxis in Vollzeit zu absolvieren, beruhe im Hinblick auf das der Richtlinie zugrunde liegende Bild des Hausarztes auf sachgerechten Erwägungen.
Dieses Urteil hat das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde der Klägerin hin durch Beschluss vom 9. Januar 2001 aufgehoben und das Verfahren an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen. Es hat ausgeführt, das Bundesverwaltungsgericht habe das Recht der Klägerin auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt, weil es die Frage des Verhältnisses von Art. 34 Abs. 1 3. Spiegelstrich der Richtlinie 93/16/EWG zur Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG entgegen Art. 177 Abs. 2 EGV nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Es sei nicht ersichtlich, dass die im Urteil herangezogenen Auslegungsgrundsätze der Spezialität und des Vorrangs der späteren Norm ohne weiteres auch für das Gemeinschaftsrecht gelten würden; außerdem komme in Betracht, dass das Diskriminierungsverbot im Gemeinschaftsrecht inzwischen den Rang eines Grundrechts einnehme und damit der Richtlinie 93/16/EWG vorgehe.
Die Beteiligten halten an ihren zuvor vertretenen Auffassungen fest.
Entscheidungsgründe
II.
Das Verfahren ist auszusetzen. Gemäß Art. 234 EGV sind dem Europäischen Gerichtshof die im Tenor bezeichneten Fragen zur Auslegung der Richtlinien 76/207/EWG, 86/457/EWG und 93/16/EWG zur Vorabentscheidung vorzulegen, weil von ihrer Beantwortung die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt und, wie der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zeigt, die Beurteilung des Gemeinschaftsrechts zweifelhaft sein kann. Im Einzelnen geht es dabei um folgende Fragen:
1. Problematisch erscheint zunächst, ob die Forderung des Art. 34 Abs. 1 3. Spiegelstrich der Richtlinie 93/16/EWG, dass die spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin einige Abschnitte einer Vollzeitausbildung umfassen muss, und zwar insbesondere bei dem in einer zugelassenen Allgemeinpraxis stattfindenden Teil, eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 76/207/EWG darstellt. Zwar steht außer Frage, dass der Ausschluss der Möglichkeit, die Ausbildung vollständig in Teilzeit zu absolvieren, Frauen stärker betrifft als Männer, weil sie nach aller Erfahrung in erheblich höherem Maße die Möglichkeiten einer Teilzeitbeschäftigung in Anspruch nehmen. Gleichwohl ergeben sich Zweifel, ob die Antidiskriminierungsrichtlinie hier einschlägig ist, weil die bisher vorliegende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sich – soweit ersichtlich – mit dieser Problematik noch nicht befasst hat. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ging es regelmäßig um die Benachteiligung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern gegenüber Vollzeitbeschäftigten (vgl. u.a. Urteile vom 13. Mai 1986 – Rs 170/84 – Slg. 1986, 1607 – Bilka –, vom 13. Juli 1989 – Rs 171/88 – Slg. 1989, 2743 – Rinner-Kühn –, vom 7. Februar 1991 – Rs C-184/89 – Slg. 1991, I 297 – Nimz –, vom 2. Oktober 1997 – Rs C-1/95 – Slg. 1997, I 5253 – Gerster –, vom 2. Oktober 1997 – Rs C-100/95 – Slg. 1997, I 5289 – Kording –). Vorliegend geht es aber nicht darum, dass an bestimmte Beschäftigungsmodalitäten nachteilige Rechtsfolgen geknüpft würden. Der Gesetzgeber schließt vielmehr eine bestimmte Beschäftigungsform – die Teilzeit – für alle in Betracht kommenden Arbeitnehmer aus. Ob sich die Antidiskriminierungsrichtlinie auch gegen solche Regelungen richtet und welche Maßstäbe dabei gegebenenfalls zu beachten wären, hat der Europäische Gerichtshof bislang nicht entschieden.
In Betracht kommt auch, dass das Diskriminierungsverbot deshalb nicht Platz greift, weil die Forderung einer Vollzeitausbildung in der Allgemeinarztpraxis durch Faktoren gerechtfertigt sein könnte, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. In diese Richtung deuten etwa die Erwägungen des Senats in seinem aufgehobenen Urteil zur Rolle des Hausarztes. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass Art. 25 der Richtlinie 93/16/EWG für die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin keine Abschnitte festlegt, in denen zwingend eine Vollzeitausbildung vorgeschrieben werden müsste.
2. Falls die Forderung einer Vollzeitausbildung eine Verletzung des Verbots der Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellen sollte, stellt sich die Frage, wie die dann vorliegende Normenkollision zwischen Art. 34 Abs. 1 Richtlinie 93/16/EWG und Art. 2 und 3 Richtlinie 76/207/EWG aufzulösen ist. Einerseits kommt eine Heranziehung der in der europäischen Rechtstradition verankerten Grundsätze der Spezialität und der Priorität in Betracht. Andererseits erscheint es möglich, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts gemeinschaftsrechtlich den Rang eines Grundrechts einnimmt, was gegebenenfalls zur Unwirksamkeit der in Art. 34 Abs. 1 3. Spiegelstrich Richtlinie 93/16/EWG getroffenen Regelung führen könnte.
Unterschriften
Prof. Dr. Driehaus, van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel, Dr. Brunn
Fundstellen