Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungsrüge. rechtliches Gehör. Verfahrensmangel. Darlegungserfordernis. Substantiierungspflicht. Aufklärungsrüge. Sachaufklärung. Sachverständigengutachten. eigene Sachkunde des Gerichts. Verkehrsbedeutung einer Straße
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Anhörungsrüge zeigt keine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf (§ 152a Abs. 1 Nr. 2 VwGO), wenn sie eine nähere Auseinandersetzung mit vermeintlich übergangenem Vorbringen vermisst, das in der angefochtenen Entscheidung als unsubstantiiert bewertet wurde. Ein Gehörsverstoß liegt nicht schon dann vor, wenn das Gericht das Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, mithin auch aus Gründen prozessualer Darlegungspflichten, unberücksichtigt lässt.
2. Das Tatsachengericht hat grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob es sich selbst die für die Aufklärung und Würdigung des Sachverhalts erforderliche Sachkunde zutraut. Dieses Ermessen überschreitet das Gericht erst dann, wenn es sich eine ihm nicht zur Verfügung stehende Sachkunde zuschreibt und sich nicht mehr in den Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die den ihm angehörenden Richtern allgemein zugänglich sind (stRspr.).
3. Ein Tatsachengericht kann sich in einfach gelagerten Fällen aufgrund eigener Sachkunde für befugt halten, die Verkehrsbedeutung einer Straße (als dem örtlichen oder überörtlichen Verkehr dienend) aufgrund ihrer Lage im Straßennetz zu beurteilen, es sei denn es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die funktionalen Zusammenhänge so komplexer Natur sind, dass sie nur mithilfe verkehrswissenschaftlichen Sachverstands zu beurteilen sind.
Normenkette
VwGO § 86 Abs. 1, § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 152a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 6
Verfahrensgang
Tenor
Die Anhörungsrüge der Kläger gegen den Beschluss des Senats vom 27. Oktober 2008 – BVerwG 9 B 34.08 – wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Rügeverfahrens je zur Hälfte.
Gründe
Die Anhörungsrüge hat keinen Erfolg. Der Senat hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör nicht verletzt (§ 152a Abs. 1 VwGO).
1. Die Anhörungsrüge knüpft daran an, dass der Senat die im vorangegangenen Beschwerdeverfahren erhobene Verfahrensrüge der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO) zurückgewiesen hat. Die Beschwerde hatte beanstandet, dass das Oberverwaltungsgericht es unterlassen hat, ein Verkehrsgutachten zur Verkehrsfunktion des Bremer Straßennetzes insgesamt und zur streitgegenständlichen Straße im Besonderen einzuholen. Diese Sachaufklärung hätte sich dem Berufungsgericht von Amts wegen aufdrängen müssen. Entgegen der Ansicht des Senats im Beschluss vom 27. Oktober 2008 (dort Rn. 2 am Ende) sei dies in der Beschwerde auch substantiiert dargelegt worden. Der Senat habe den diesbezüglichen Vortrag der Kläger zu Unrecht als unsubstantiiert angesehen; hierin liege der Gehörsverstoß.
a) Eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist damit nicht aufgezeigt (§ 152a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 6 VwGO). Denn die Anhörungsrüge gesteht zu, dass der Senat die in der seinerzeitigen Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Verfahrensrüge beschieden hat. Die Anhörungsrüge beanstandet der Sache nach lediglich, dass der Senat den diesbezüglichen Vortrag als nicht dem Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügend angesehen hat. Damit wendet sie sich in Wahrheit gegen die prozessuale Rechtsanwendung des Senats. Ein Gehörsverstoß liegt aber nicht schon dann vor, wenn das Gericht dem zur Kenntnis genommenen und in Erwägung gezogenen Vorbringen nicht folgt, sondern das Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, mithin auch aus Gründen prozessualer Darlegungspflichten, unberücksichtigt lässt oder zu einem anderen Ergebnis gelangt, als der Beteiligte es für richtig hält. Nichts anderes gilt, soweit die Anhörungsrüge Beschwerdevorbringen deshalb als übergangen vermutet, weil sie eine nähere Auseinandersetzung des Senats mit den Ausführungen der Beschwerdebegründung (S. 12 bis S. 13 Mitte) zur Verkehrsbedeutung der Straßen B 74, L 149 und L 134 vermisst. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör begründet – namentlich bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen – keine Pflicht der Gerichte, jedes Vorbringen der Verfahrensbeteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden (stRspr., vgl. etwa die Beschlüsse vom 22. Mai 2006 – BVerwG 10 B 9.06 – NJW 2006, 2648 ≪2650≫ und vom 23. Juni 2008 – BVerwG 9 VR 13.08 – NVwZ 2008, 1027 ≪1028≫ m.w.N.).
b) Unabhängig davon vermag der Senat der Ansicht der Anhörungsrüge, der behauptete Verfahrensmangel der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht sei im Beschwerdeverfahren hinreichend substantiiert dargelegt worden, nach erneuter Prüfung auch in der Sache nicht zu folgen.
Vielmehr verbleibt es dabei, dass die Aufklärungsrüge deshalb ohne Erfolg bleiben musste und muss, weil – wie die Anhörungsrüge selbst einräumt – von den anwaltlich vertretenen Klägern in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht nicht durch Stellung eines Beweisantrags auf die von ihnen nunmehr beanstandete unterbliebene Sachaufklärung hingewirkt worden ist. In der Beschwerdebegründung vom 26. Mai 2008 ist auch nicht in der gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO geforderten Weise dargelegt, dass die von den Klägern vermisste Sachaufklärung sich dem Berufungsgericht ohne ein solches Hinwirken von Amts wegen hätte aufdrängen müssen. Zwar wird in der Beschwerdebegründung das Gegenteil behauptet, weil das Berufungsgericht die Verkehrsbedeutung der streitgegenständlichen Straße “An der Rekumer Mühle” nicht aus eigener Sachkunde heraus habe beurteilen können (S. 11 unten). Die anschließenden Ausführungen (S. 12 bis S. 13 Mitte) erschöpfen sich jedoch darin, der rechtlichen und tatsächlichen Würdigung der Verkehrsfunktion dieser Straße durch das Berufungsgericht (UA S. 18 unten bis S. 19 Mitte) eine davon abweichende Bewertung, nämlich die der Kläger, entgegenzusetzen. Damit ist aber nicht dargetan, dass und warum, d.h. aufgrund welchen Vortrags im erst- oder zweitinstanzlichen Verfahren oder sonstigen Akteninhalts, das Berufungsgericht auch ohne förmlichen Beweisantrag zu der Erkenntnis hätte kommen müssen, dass die Verkehrsfunktion der streitgegenständlichen Straße derart schwierig zu beurteilen war, dass es hierüber nicht aufgrund eigener Sachkunde entscheiden konnte, z.B. weil die funktionalen Zusammenhänge so komplexer Natur seien, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich gewesen wäre.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat das Tatsachengericht grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob es sich selbst die für die Aufklärung und Würdigung des Sachverhalts erforderliche Sachkunde zutraut. Dieses Ermessen überschreitet das Gericht erst dann, wenn es sich eine ihm nicht zur Verfügung stehende Sachkunde zuschreibt und sich nicht mehr in den Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die den ihm angehörenden Richtern allgemein zugänglich sind (vgl. Urteile vom 10. November 1983 – BVerwG 3 C 56.82 – BVerwGE 68, 177 ≪182 f.≫ und vom 6. November 1986 – BVerwG 3 C 27.85 – BVerwGE 75, 119 ≪126 f.≫; Beschluss vom 5. Januar 2006 – BVerwG 10 B 85.05 – juris Rn. 6). Hiervon ausgehend ist es nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht als ein mit dem Erschließungs- und Ausbaubeitragsrecht befasster Spruchkörper aufgrund der wiederkehrenden Sachverhalte und der dabei gewonnenen Erkenntnisse sich in einem einfach gelagerten Fall, wie es dies für den Streitfall annehmen durfte, eine hinreichende eigene Sachkunde beigemessen hat, die Verkehrsbedeutung einer Straße (als dem örtlichen oder überörtlichen Verkehr dienend) aufgrund ihrer Lage im Straßennetz beurteilen zu können. Anders wäre es, wenn Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass wegen der besonderen Kompliziertheit des Streitfalls oder wegen der Wissenschaftbezogenheit des Sachgebiets (vgl. Urteil vom 10. November 1983 a.a.O. S. 183) eine weitergehende Untersuchung der Verkehrsfunktion der Straße “An der Rekumer Mühle” mithilfe verkehrswissenschaftlichen Sachverstands erforderlich war. Die Kläger haben in der Beschwerdebegründung jedoch nicht dargelegt, dass und warum das Berufungsgericht nach dem ihm vorliegenden Streitstand Letzteres hätte annehmen müssen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Ausführungen in der Beschwerdebegründung zum Verlauf der B 74, L 149 und L 139 geeignet gewesen wären, dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens vor Augen zu führen. Denn diesen Vortrag haben die Kläger erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, nicht aber vor den Tatsachengerichten unterbreitet. Dasselbe gilt für ihren weiteren Schriftsatz vom 21. Oktober 2008, der im Übrigen erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist (§ 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO) eingegangen ist.
2. Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass das Berufungsgericht auch nicht verpflichtet war, die Kläger vorab darauf hinzuweisen, dass es die Verkehrsbedeutung der streitgegenständlichen Straße ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens bewerten und dies in Form einer “Jedenfalls”-Argumentation zur Grundlage seines Urteils machen würde. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgt aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör auch in der Ausprägung, die er in § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO gefunden hat, keine Pflicht des Gerichts zur umfassenden Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte. Insbesondere muss das Gericht die Beteiligten nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Beratung ergibt (vgl. Beschluss vom 28. Dezember 1999 – BVerwG 9 B 467.99 – Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51 S. 2 m.w.N.). Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Anforderungen an den Sachvortrag oder auf sonstige rechtliche Gesichtspunkte stützen will, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. Mai 1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188 ≪190≫ und vom 19. Mai 1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 ≪144 f.≫). Von einer solchen Konstellation kann im Streitfall keine Rede sein.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 S. 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Storost, Domgörgen, Buchberger
Fundstellen
Haufe-Index 2117174 |
DÖV 2009, 548 |
VR 2009, 248 |
BayVBl. 2010, 355 |
DVBl. 2009, 396 |
UPR 2009, 236 |