Verfahrensgang
VG Chemnitz (Urteil vom 03.06.2008; Aktenzeichen 4 K 1990/02) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 3. Juni 2008 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.
Gründe
Die auf die Zulassungsgründe gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Die geltend gemachte Divergenz des angefochtenen Urteils zu dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juli 2001 – BVerwG 8 C 3.01 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 28 und zum Beschluss vom 25. Oktober 2002 – BVerwG 7 B 35.02 – liegt nicht vor (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
Die Zulassung der Revision wegen Abweichung setzt voraus, dass das angefochtene Urteil mit einem tragenden abstrakten Rechtssatz einem ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in dem angegebenen Urteil bzw. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts widerspricht. Das ist nicht der Fall. Die Beschwerde rügt in Wirklichkeit die fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Verwaltungsgericht, weil es entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf die damals vor Ort geltenden Anschauungen abgestellt habe, insbesondere die Auffassung des Sachbearbeiters der Staatlichen Bauaufsicht vom 1. Dezember 1952 und auf die vermeintliche geäußerte Auffassung des Diplom-Ingenieurs P… in dem Bittgesuch wegen des Erlasses der Grundsteuern. Das Verwaltungsgericht hätte nach Ansicht der Beschwerde darauf abstellen müssen, ob für die Inanspruchnahme der Grundstücke der Klägerin wegen der Errichtung und Unterhaltung des “S…-Pavillons” eine Rechtsgrundlage vorhanden gewesen sei. Die Inanspruchnahme der Grundstücke der Klägerin wegen der “Verbreiterung der D… Straße” am 23. Mai 1958 sei nur vorgeschoben gewesen, um die von vornherein beabsichtigte zweckwidrige Verwendung, die Bebauung des Grundstücks mit dem “S…-Pavillon” im Oktober 1952 zu verschleiern.
Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht nicht angenommen, dass von vornherein eine zweckwidrige Verwendung der Grundstücke beabsichtigt gewesen sei. Es hat vielmehr unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 25. Juli 2001) das angegebene Ziel der Aufbauplanung “Verbreiterung der D… Straße” – mit Blick auf den Erläuterungsbericht des Dezernats Aufbau vom 14. Dezember 1950 und die handschriftliche Notiz eines Bearbeiters der Staatlichen Bauaufsicht vom 1. Dezember 1952 mit Hinweis auf § 14 Aufbaugesetz der DDR im Zusammenhang mit dem Bau des Pavillons – ausgelegt und eine im Aufbaugesetz der DDR zulässige Rechtsgrundlage gesehen.
2. Dem Verwaltungsgericht sind auch keine Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO unterlaufen.
a) Die Beschwerde meint, das Verwaltungsgericht hätte der Frage weiter nachgehen müssen, ob der angegebene Zweck der Enteignung nur vorgeschoben war, um den früheren faktischen Zugriff auf die Grundstücke für die Errichtung eines “S…-Pavillons” nachträglich zu legalisieren. Dem Verwaltungsgericht hätte sich wegen der Unergiebigkeit der vorliegenden Unterlagen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des angegebenen Enteignungszwecks aufdrängen müssen. Es hätte aus dem Stadtarchiv der Beklagten den Teilbebauungsplan bezogen auf die Grundstücke der Klägerin anfordern müssen, der nach dem Erläuterungsbericht vom 14. Dezember 1950 auch für die Grundstücke der Klägerin ab 1952 aufzustellen gewesen wäre. Es hätte sich ergeben, dass für die Grundstücke der Klägerin im Hinblick auf den “S…-Pavillon” keine Teilbebauungspläne existierten, und damit sich auch kein Aufbauvorhaben entgegen der Vermutung des Gerichts geändert habe.
Ferner hätte das Verwaltungsgericht der Frage nachgehen müssen, ob hinsichtlich des “S…-Pavillons” im Zeitpunkt der Inanspruchnahme am 23. Mai 1958 bzw. am 26. Oktober 1951 die Voraussetzungen des § 8 Aufbaugesetz der DDR vorgelegen hätten, insbesondere ob ein entsprechender Beschluss der Regierung der DDR vorliege. Es hätte daher der Beklagten aufgeben müssen, aus ihrem Stadtarchiv den Beschluss der Regierung der DDR vorzulegen, bezogen auf den Zeitraum Oktober 1951 bis 23. Mai 1958 über Kulturstätten mit überörtlicher Bedeutung im Sinne von § 8 Aufbaugesetz. Hätte das Gericht die entsprechenden Unterlagen angefordert, hätte sich ergeben, dass für den entscheidenden Zeitraum keine Beschlüsse oder Meldungen hinsichtlich des “S…-Pavillons” vorhanden seien. Das Gericht hätte dann das Vorliegen unlauterer Machenschaften im Sinne von § 1 Abs. 3 VermG bejahen müssen.
Nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, die der Prüfung von Verfahrensfehlern zugrunde zu legen ist, kam es auf die Frage, ob Teilbebauungspläne für die Errichtung des “S…-Pavillons” existierten oder nicht, nicht an. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der angegebene Zweck der angekündigten Inanspruchnahme, nämlich die Verbreiterung der Dresdener Straße, den damaligen gesetzlichen Bestimmungen entsprach und vom Grundsatz her vom Aufbaugesetz der DDR erfasst gewesen ist. Das Verwaltungsgericht hat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das angegebene Planungsziel der Aufbauplanung “Verbreiterung der D… Straße” weit ausgelegt und damit auch die Errichtung des sowjetischen Ehrenmals “S…-Pavillon” als vom Aufbauzweck mit umfasst angesehen. Zu dieser Auffassung ist das Verwaltungsgericht anhand des Erläuterungsberichts des Dezernats Aufbau vom 14. Dezember 1950 gelangt. Diesem Bericht sei die Verkehrsplanung zur Entlastung der Innenstadt zu entnehmen und, dass die umrissenen und in den Plänen gezeichneten Absichten eine Rohplanung darstellten. Viele Dinge bedürften noch der tiefgründigen Durcharbeitung. Die Gestaltung der einzelnen Plätze, Straßen und Wohngebiete erfordere die Aufstellung von Teilbebauungsplänen als Grundlage für den späteren Aufbau. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ergab sich aus dem Erläuterungsbericht auch, dass sich die Planung nicht auf eine starre Verbreiterung von Straßen beschränkt, sondern auch repräsentative Elemente mit einbezogen habe. Es werde deutlich, dass vor allem auch Demonstrationen und das festtägliche Leben der Bevölkerung an einem zentralen Ort mit An- und Abmarschmöglichkeiten für große Menschenmengen – über 100 000 Personen – eine bedeutende Rolle spielen sollten. Entscheidend war für das Verwaltungsgericht ferner eine handschriftliche Notiz eines Bearbeiters der Staatlichen Bauaufsicht vom 1. Dezember 1952, der ausdrücklich im Zusammenhang mit der Errichtung des Pavillons auf § 14 des Aufbaugesetzes der DDR Bezug nehme.
Was die Frage anbelangt, ob hinsichtlich des “S…-Pavillons” für den Zeitraum Oktober 1951 bis 23. Mai 1958 ein Beschluss der Regierung der DDR vorliegt, der diesen als Kulturstätte von überörtlicher Bedeutung qualifiziert, hat deren Bejahung oder Verneinung auf die rechtliche Beurteilung durch das Verwaltungsgericht keine Auswirkungen. Das Verwaltungsgericht hat entscheidungstragend angenommen, dass der Bau des “S…-Pavillons” vom ursprünglichem Planungsziels des Aufbaugesetzes mit umfasst gewesen sei. Dies hat es insbesondere dem Erläuterungsbericht des Dezernats Aufbau an das Ministerium für Industrie, Arbeit und Aufbau des Landes Sachsen vom 14. Dezember 1950 und einer handschriftlichen Notiz eines Bearbeiters der Staatlichen Bauaufsicht vom 1. Dezember 1952 entnommen. Entscheidend war für das Verwaltungsgericht nicht die Klassifizierung des “S…-Pavillons” als Kulturstätte von überörtlicher Bedeutung. Dies ergibt sich schon aus der einschränkenden Formulierung “zumal es sich nach damaliger Anschauung offenbar um eine Kulturstätte von überörtlicher Bedeutung als städtebaulicher Faktor (vgl. § 8 des Aufbaugesetzes der DDR) gehandelt hat”.
b) Das Verwaltungsgericht hat auch nicht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt.
Nach § 108 Abs. 2 VwGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Die Vorschrift konkretisiert die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Beteiligten müssen demgemäß auch Gelegenheit erhalten, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen und zu den entscheidungserheblichen Rechtsfragen sachgemäß, zweckentsprechend und erschöpfend erklären zu können. Der Anspruch auf rechtliches Gehörs ist deshalb grundsätzlich verletzt, wenn den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung oder im schriftlichen Verfahren eine Äußerungs- oder Schriftsatzfrist eingeräumt wird, gleichwohl aber vor deren Ablauf eine Entscheidung ergeht (Urteile vom 29. November 1985 – BVerwG 9 C 49.85 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 177; vom 15. August 1991 – BVerwG 4 C 11.90 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 238 und vom 5. März 1992 – BVerwG 3 C 48.90 – Buchholz 427.6 § 15 BFG Nr. 31). Ausweislich der Gerichtsakten konnte sich die Klägerin auch nach dem erklärten Verzicht auf mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren äußern. Im Schriftsatz vom 29. April 2008 hat sie ausführlich zum Verfahrensgang und zu der Frage Stellung bezogen, ob die Errichtung des “S…-Pavillons” vom Aufbaugesetz und den dazu erlassenen Verordnungen gedeckt gewesen sei.
Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 108 Abs. 2 VwGO wegen des Erlasses einer Überraschungsentscheidung greift ebenfalls nicht. Eine Überraschungsentscheidung im Rechtssinne liegt vor, wenn das Gericht seiner Entscheidung tragend eine Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat, die weder im Verwaltungs- noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erörtert wurde und die etwa in ihrer Spezialität zunächst als fernliegend anzusehen ist (vgl. Urteil vom 19. Juli 1985 – BVerwG 4 C 62.82 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 170; Beschlüsse vom 23. Dezember 1991 – BVerwG 5 B 80.91 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241 und vom 9. Dezember 1999 – BVerwG 6 B 60.99 – Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 16). Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben.
Zwar hat die zunächst zuständige 6. Kammer des Verwaltungsgerichts in ihrem Schreiben vom 28. April 2005 an die Beteiligten im Nachgang zur mündlichen Verhandlung vom 21. April 2005 mitgeteilt, dass nach Ansicht der Kammer vorliegend von einer schädigenden Maßnahme nach § 1 Abs. 3 VermG auszugehen sei und daher Vergleichsgespräche zwischen den Beteiligten angeregt. Auf den Bestand dieses rechtlichen Hinweises konnte die Klägerin in Folge eines Zuständigkeitswechsels der Kammer nicht vertrauen. Die zur Entscheidung nunmehr zuständig gewordene 4. Kammer war bei ihrer Urteilsfindung an diesen rechtlichen Hinweis nicht gebunden. Dessen war sich die Klägerin auch bewusst. Dies folgt aus dem Schriftsatz vom 29. April 2008, in welchem u.a. zum Schädigungstatbestand und zur Rechtsmeinung des Beklagten Stellung bezogen wurde, dass der Bau des “S…-Pavillons” vom Aufbaugesetz und den dazu erlassenen Verordnungen gedeckt gewesen sei. Das Verwaltungsgericht hat somit seiner Entscheidung tragend keine Rechtsauffassung zugrunde gelegt, die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht erörtert worden wäre.
Der Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO ist eine grundsätzlich unwiderrufliche Prozesshandlung (Beschlüsse vom 1. März 2006 – BVerwG 7 B 90.05 – juris; vom 10. Juni 1994 – BVerwG 6 B 45.93 – Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 20; vom 17. Januar 1977 – BVerwG 6 B 22.76 – Buchholz 232 § 159 BBG Nr. 6; Urteil vom 23. Oktober 1968 – BVerwG 6 C 27.65 – DÖD 1969, 58). Der Verzicht auf mündliche Verhandlung wird nicht mit dem Übergang der Sache aus der Zuständigkeit eines Spruchkörpers in die Zuständigkeit eines anderen Spruchkörpers des Gerichts unwirksam. Der Verzicht bezieht sich inhaltlich auf die nächste Entscheidung des Gerichts. Dies war nach den vorliegenden Akten das Urteil vom 3. Juni 2008 und nicht etwa der Beschluss des Präsidiums über die Verteilung der richterlichen Geschäfte, durch den der gesetzliche Richter für das Verfahren bestimmt, aber keine Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird (Beschluss vom 25. Februar 1980 – BVerwG 7 B 27.80 – Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 10). Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO) steht im Ermessen des Gerichts, das in der Revisionsinstanz grundsätzlich nicht nachprüfbar ist.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
Unterschriften
Dr. Pagenkopf, Postier, Dr. Hauser
Fundstellen