Verfahrensgang
OVG des Saarlandes (Beschluss vom 15.10.2007; Aktenzeichen 8 F 374/07) |
Tenor
Der Beschluss des Fachsenats für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO des … Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2007 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Verweigerung der Aktenvorlage rechtswidrig ist, soweit sie noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Mit der diesem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Klage begehrt der Kläger Auskunft über sämtliche beim Beklagten über seine Person gespeicherten Daten und Informationen. Der Beklagte legte lediglich die über den Kläger gespeicherten sogenannten Grunddaten wie Familiennamen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsland, Geburtsbundesland, Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Hauptwohnsitz, Telefonnummer und Email-Adressen sowie die Organisationszugehörigkeit “Linkspartei.Landesverband S…” offen. Im Übrigen verweigerte er die Offenlegung mit dem Hinweis auf § 21 Abs. 2 des S… Verfassungsschutzgesetzes (SVerfSchG).
Der Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO des Oberverwaltungsgerichts hat mit dem angefochtenen Beschluss festgestellt, die Verweigerung der Vorlage der in der Amtsdatei des Beklagten gespeicherten, den Kläger betreffenden Informationen vom 15. und 21. November 2002, vom 20. und 22. April 2004, vom 19., 26. und 28. Juli 2005, vom 12. August 2005, vom Januar, 1. und 11. März 2006 und vom 28. Februar und 2. März 2007 sei rechtswidrig. Diese Unterlagen müssten offenbart werden. Im Übrigen sei die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist begründet. Die Weigerung des Beklagten, in dem Rechtsstreit des Klägers vor dem Verwaltungsgericht auf Auskunft über die zu seiner Person in den Akten des Beklagten gespeicherten Daten vorzulegen, ist auch hinsichtlich des noch anhängigen Teils rechtswidrig.
Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten und zu Auskünften an das Gericht verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden des Inhalts dieser Urkunden, Akten oder Auskünfte dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der Urkunde oder Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Ist – wie hier – die Vorlage der Akten selbst Gegenstand des Rechtsstreits und hängt nach der Rechtsauffassung des Gerichts die Entscheidung über das Klagebegehren von der Kenntnis des Akteninhalts ab, so gehören zu den grundsätzlich vorzulegenden Akten auch die behördlichen Akten, in die Einblick zu nehmen die zuständige Behörde unter Berufung auf etwaige im jeweiligen Fachgesetz normierte Geheimhaltungsgründe abgelehnt hat (Beschlüsse vom 13. Juni 2006 – BVerwG 20 F 5.05 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 42 und vom 21. Februar 2008 – BVerwG 20 F 2.07 – NVwZ 2008, 554 ≪zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen≫).
Der Beigeladene hat als oberste Aufsichtsbehörde in seiner Sperrerklärung vom 20. Juni 2007 die Verweigerung der Akten der Sache nach unter Zugrundelegung der (ein)fachgesetzlichen Vorgaben des § 21 Abs. 2 SVerfSchG damit begründet, ihr Inhalt sei insgesamt geheimhaltungsbedürftig i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Eine Vorlage der den Kläger betreffenden Akten der Amtsdatei führe nicht nur zur Offenlegung des Erkenntnisstandes des Beklagten zur “Linkspartei.Landesverband S…”, sondern auch zur Offenlegung seiner Arbeitsweise. Würden diese Umstände bekannt, wären Gegenmaßnahmen des in Rede stehenden oder anderer Beobachtungsobjekte zu erwarten, die für die Arbeit des Beklagten und damit für das Land erhebliche Nachteile mit sich brächten.
Der beschließende Senat vermag nicht zu erkennen, dass diese Einstufung für sämtliche Bestandteile der zurückgehaltenen Akten zutrifft. Die zurückgehaltenen Akten enthalten Schriftstücke ganz unterschiedlicher Art. Abgeheftet finden sich u.a. Analysen und Bewertungen beobachteter öffentlicher Vorgänge durch den Beklagten, aber auch für die Öffentlichkeit bestimmte Zeitungsartikel, Flugblätter, Parteipublikationen, Rundbriefe, Einladungen zu Parteiveranstaltungen, Aufrufe mit politischen Parolen, Veranstaltungskalender verschiedener Organisationen und Gruppierungen, sowie Ablichtungen ins Internet gestellter politischer Bekundungen. Ohne nähere Darlegungen des Beklagten oder des Beigeladenen kann der beschließende Senat nicht nachvollziehen, warum die zu den Akten genommenen Exemplare der der Öffentlichkeit bekannten Schriftstücke oder der Berichte, in denen der Ablauf dieser öffentlich sichtbar gewordenen Aktivitäten der Linkspartei geschildert wird, geheimhaltungsbedürftig sind.
Der Umstand, dass der Beigeladene in seiner Sperrerklärung auf eine Differenzierung der unterschiedlichen Schriftstücke verzichtet (vgl. zur Sichtung und Ordnung nach verschiedenen Geheimhaltungsinteressen Beschluss vom 1. August 2007 – BVerwG 20 F 10.06 – juris Rn. 6 f.) und das gesamte Aktenkonvolut als geheimhaltungsbedürftig angesehen hat, führt zugleich auf einen Ermessensfehler i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Die Sperrerklärung lässt eine ordnungsgemäße Ermessensausübung nicht erkennen.
Die Ermächtigung der obersten Aufsichtsbehörde zur Ermessensentscheidung besteht nach dem eindeutigen Wortlaut des § 99 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 VwGO, wenn der Inhalt der Schriftstücke oder der Auskunft geheimhaltungsbedürftig i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 VwGO ist, also auch dann, wenn der Vorgang nach einem Gesetz geheim gehalten werden muss. Durch die Ermessenseinräumung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO soll der Aufsichtsbehörde die Möglichkeit gegeben werden, dem öffentlichen Interesse und dem individuellen Interesse der Prozessparteien an der Wahrheitsfindung in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess den Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu geben (Beschlüsse vom 19. August 1964 – BVerwG 6 B 15.62 – BVerwGE 19, 179 ≪186≫, vom 15. August 2003 – BVerwG 20 F 8.03 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 34, vom 13. Juni 2006 a.a.O., vom 1. August 2007 a.a.O. Rn. 5 und vom 21. Februar 2008 a.a.O. Rn. 18). Diese Funktion verlöre die Ermächtigung zur Ermessensausübung auch dann nicht – mit der Folge, dass sie fortbesteht –, wenn wegen Geheimhaltungsbedürftigkeit der Akten, die sich aufgrund einer an § 21 Abs. 2 SVerfSchG orientierten Abwägung ergäbe, d.h. der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, im vorliegenden Fall die Erteilung einer Auskunft aus den Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz S… zwingend verboten wäre.
Nach § 1 SVerfSchG dient der Verfassungsschutz dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder sowie dem Schutz vor organisierter Kriminalität. Gemäß § 2 Abs. 1 SVerfSchG nimmt die Aufgaben des Verfassungsschutzes in S… der Beklagte wahr. Er beobachtet nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SVerfSchG u.a. auch Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben. Diese Ziele rechtfertigen grundsätzlich die Geheimhaltung gewonnener verfassungsschutzdienstlicher Informationen und Informationsquellen, Arbeitsweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 – 1 BvR 385/90 – BVerfGE 101, 106 ≪128≫; BVerwG, Beschluss vom 7. November 2002 – BVerwG 2 AV 2.02 – NVwZ 2003, 347 m.w.N.). Deshalb ist der in § 21 Abs. 1 SVerfSchG geregelte Anspruch eines Betroffenen auf Auskunft über zu seiner Person gespeicherte Daten gemäß Abs. 2 dieser Vorschrift ausgeschlossen, soweit eine Abwägung ergibt, dass das Auskunftsrecht gegenüber den öffentlichen Interessen an der Geheimhaltung der Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz oder einem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse Dritter zurücktreten muss.
§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO regelt demgegenüber die Auskunftserteilung und Aktenvorlage im Verhältnis der mit geheimhaltungsbedürftigen Vorgängen befassten Behörde zum Verwaltungsgericht, das in einem schwebenden Prozess für eine sachgemäße Entscheidung auf die Kenntnis der Akten angewiesen ist. In diesem Verhältnis stellt das Gesetz die Auskunftserteilung und Aktenvorlage in das Ermessen der Behörde, lässt dieser also die Wahl, ob sie die Akten oder die Auskunft wegen ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit zurückhält oder ob sie davon um des effektiven Rechtsschutzes willen absieht. Die oberste Aufsichtsbehörde muss in besonderer Weise in den Blick nehmen, welche den Rechtsschutz verkürzende Wirkung die Verweigerung der Aktenvorlage im Prozess für den Betroffenen haben kann. Darin liegt die Besonderheit ihrer Ermessensausübung nach dieser Verfahrensbestimmung. Insofern ist die bundesrechtliche Vorschrift des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO im Verhältnis zu den allgemeinen Geheimhaltungsvorschriften einschließlich § 21 Abs. 2 SVerfSchG eine prozessrechtliche Spezialnorm, in der der Bund aufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahrensrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) den Konflikt zwischen dem Interesse an der Geheimhaltung des Akteninhalts und dem Interesse an effektivem Rechtsschutz für die Situation eines bereits anhängigen Rechtsstreits geregelt und eine Vorlage nach Ermessen vorgesehen hat (Beschluss vom 1. August 2007 a.a.O. Rn. 6). Wegen der so ausgestalteten Konkurrenz zwischen § 21 Abs. 2 SVerfSchG und § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO wäre durch die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21 Abs. 2 SVerfSchG das Ermessen der obersten Aufsichtsbehörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht ausgeschlossen oder auf Null reduziert, so dass für Ermessensfehler der obersten Aufsichtsbehörde nach wie vor Raum war (Beschluss vom 26. August 2004 – BVerwG 20 F 16.03 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 37). Maßstab ist dabei neben dem privaten Interesse an effektivem Rechtsschutz und dem – je nach Fallkonstellation – öffentlichen oder privaten Interesse am Geheimnisschutz auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2006 – 1 BvR 2087/03, 2111/03 – BVerfGE 115, 205 ≪241≫). Die oberste Aufsichtsbehörde muss in ihrer Sperrerklärung in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass sie gemessen an diesem Maßstab die Folgen der Verweigerung mit Blick auf den Prozessausgang gewichtet hat. Ist beispielsweise das Geheimhaltungsinteresse ohne erhebliches Gewicht, wird es gerechtfertigt sein, es hinter dem Interesse an effektivem Rechtsschutz zurücktreten zu lassen. Daher bedarf es stets einer Abwägung, ob Geheimnisschutz auch angesichts des Interesses an effektivem Rechtsschutz zu gewährleisten ist (Beschluss vom 21. Februar 2008 – BVerwG 20 F 2.07 – juris Rn. 19; BVerfG, Beschluss vom 14. März 2006 a.a.O. S. 240). Es kommt deshalb letztlich auch nicht darauf an, ob der Tatbestand des § 21 Abs. 2 SVerfSchG im vorliegenden Fall erfüllt ist oder nicht.
Die Sperrerklärung vom 20. Juni 2007 leidet an dem Ermessensfehler, dass der Beigeladene – auf der Grundlage seiner Annahme, die Tatbestandsvoraussetzungen der Geheimhaltungsbedürftigkeit i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO seien erfüllt, – sein Ermessen undifferenziert und damit in einer der Eigenart der zu treffenden Entscheidung nicht genügenden Weise ausgeübt hat. Wegen des überaus unterschiedlichen Inhalts der zurückgehaltenen Aktenbestandteile bestünde, wenn die Einschätzung des Beigeladenen zuträfe, dass die Voraussetzungen auf der Tatbestandsseite des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO erfüllt seien, eine Geheimhaltungsbedürftigkeit aus im Einzelnen ganz unterschiedlichen Gründen und von ganz unterschiedlicher Intensität. Dem hätte die Ermessensentscheidung des Beigeladenen Rechnung tragen müssen. Die Abwägung hätte sich auch darauf erstrecken müssen, inwiefern bei jedem dieser aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlicher Dringlichkeit Geheimhaltung erfordernden Schriftstücke das Interesse an der Geheimhaltung das gegenläufige öffentliche und private Interesse an effektivem Rechtsschutz und umfassender Aufklärung des Sachverhalts im Prozess zurücktreten lässt und warum nicht wenigstens teilweise geschwärzte Schriftstücke vorgelegt werden können (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. März 2006 a.a.O.). In der Sperrerklärung vom 20. Juni 2007 findet sich nur der formelhafte, für sämtliche zurückgehaltenen Aktenbestandteile unterschiedslos Geltung beanspruchende sinngemäße Satz, eine Abwägung der widerstreitenden Belange führe zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Klägers, alle streitentscheidenden Unterlagen einsehen zu können, zurückstehe, weil letztlich nur mit Hilfe der Sperrerklärung dem Gebot des Geheimnisschutzes effektiv Folge geleistet werden könne.
Die Feststellung des beschließenden Senats, dass die Sperrerklärung rechtswidrig ist, hindert den Beigeladenen nicht, eine neue Sperrerklärung abzugeben und dann bei der Einstufung als geheimhaltungsbedürftig oder bei der Ermessensausübung nach den – durch Paginierung der Behördenakten hinreichend gekennzeichneten – Blättern der Akten zu differenzieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts für das Zwischenverfahren ergibt sich aus § 52 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Dr. Bardenhewer, Prof. Dr. Kugele, Dr. Bumke
Fundstellen