Entscheidungsstichwort (Thema)
Planfeststellung. Lärmschutz. Grundsatz der Problembewältigung. Schutzauflage. nachträglicher Schutzanspruch. Ausschlusswirkung. Voraussehbarkeit. Baureife. Kostenerstattung
Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch auf Gewährung nachträglichen Lärmschutzes nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG setzt voraus, dass der Lärmbetroffene bereits nach der dem unanfechtbar gewordenen Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegenden Rechtslage einen Anspruch auf Schutzvorkehrungen vor Lärmeinwirkungen gehabt hätte, wenn diese Einwirkungen im Zeitpunkt der Planfeststellung bereits voraussehbar gewesen wären. Ein solcher Anspruch scheidet daher jedenfalls für solche baulichen Anlagen aus, die bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses weder vorhanden noch planerisch hinreichend verfestigt waren.
Normenkette
VwVfG § 74 Abs. 2 S. 2, § 75 Abs. 2; BImSchG §§ 41, 42 Abs. 1
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 27.10.2010; Aktenzeichen 7 KS 143/08) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde des Klägers ist unbegründet. Die mit ihr erhobene Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greift nicht durch.
Rz. 2
Die Beschwerde macht einen grundsätzlichen Klärungsbedarf für die folgende Frage geltend:
Setzt die Geltendmachung eines Anspruchs auf Gewährung nachträglichen Lärmschutzes nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG (in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG) durch einen Betroffenen – unterhalb der Schwelle der nachträglichen Lärmsanierung – zwingend voraus, dass eine bauliche Anlage auf dessen Grundstück zum Zeitpunkt des Planfeststellungsbeschlusses bereits vorhanden oder durch Baugenehmigung hinreichend konkretisiert gewesen ist oder genügt vielmehr, dass die bauliche Anlage zum Zeitpunkt des Vorliegens nicht voraussehbarer Wirkungen des Vorhabens auf dem Grundstück vorhanden oder, wenn nicht vorhanden, zumindest durch Baugenehmigung hinreichend konkretisiert gewesen ist?
Rz. 3
Diese Frage bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, weil sie sich ohne weiteres anhand des Gesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantworten lässt.
Rz. 4
Zur Auslegung des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG hat der Senat in seinem Urteil vom 7. März 2007 – BVerwG 9 C 2.06 – (BVerwGE 128, 177) grundlegend Stellung genommen und dabei den engen Sinnzusammenhang betont, der zwischen dieser Norm und § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG besteht. Dieser Zusammenhang ist für die hier aufgeworfene Frage von maßgeblicher Bedeutung. Wie der Senat in der zitierten Entscheidung ausgeführt hat (a.a.O. Rn. 19 ff.), sind sowohl § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG als auch § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG Ausprägungen des für hoheitliche Planungen geltenden Grundsatzes der Problembewältigung. Nach der erstgenannten Vorschrift hat die Planfeststellungsbehörde in der Planfeststellung Schutzauflagen zu treffen, die der Erfüllung des materiellrechtlichen Anspruchs des Betroffenen auf Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen von Straßen und Schienenwegen im Sinne von § 41 BImSchG dienen. Dieser Schutzanspruch findet seine verfahrensrechtliche Begrenzung durch § 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG; dessen an den Eintritt der Unanfechtbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses anknüpfende Ausschlusswirkung umfasst auch das Begehren von Schutzauflagen. Im Planfeststellungsbeschluss können freilich nur solche Einwirkungen durch Schutzauflagen bewältigt werden, die bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses voraussehbar sind. Ohne Korrektiv hätte § 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG deshalb zur Folge, dass dem Betroffenen ein Schutz vor nicht voraussehbaren Wirkungen verwehrt bliebe. Um dies zu verhindern, gewährt § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG dem Betroffenen einen Anspruch auf Anordnung nachträglicher Schutzvorkehrungen zum Ausschluss nicht voraussehbarer nachteiliger Wirkungen. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es also, den Betroffenen so zu stellen, als ob die nachträglich aufgetretenen Wirkungen des Vorhabens bereits bei der Planung vorausgesehen und im Planfeststellungsbeschluss berücksichtigt wären (Urteile vom 1. Juli 1988 – BVerwG 4 C 49.86 – BVerwGE 80, 7 ≪11≫ und vom 7. März 2007 a.a.O. Rn. 24 und 30). Ein Anspruch auf nachträglichen Schutz nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG kommt mithin nur in Betracht, wenn der Betroffene bereits nach der dem unanfechtbar gewordenen Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegenden Rechtslage einen Anspruch auf Schutzvorkehrungen gehabt hätte, sofern die später aufgetretenen schädlichen Umwelteinwirkungen schon damals vorauszusehen gewesen wären. Diese Auffassung hat die Vorinstanz ausdrücklich zugrunde gelegt (UA S. 10).
Rz. 5
Hiervon ausgehend ist die von der Beschwerde aufgeworfene Frage dahin zu beantworten, dass ein Anspruch auf nachträglichen Lärmschutz nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG jedenfalls für solche bauliche Anlagen ausscheidet, die bei Erlass des unanfechtbar gewordenen Planfeststellungsbeschlusses weder vorhanden noch auch nur planerisch hinreichend verfestigt waren. Ein Anspruch auf Schutzvorkehrungen gegen Lärm gemäß § 41 BImSchG in Verbindung mit der Verkehrslärmschutzverordnung (16. BImSchV), über den im Planfeststellungsbeschluss zu entscheiden ist, setzt nämlich eine zumindest planerisch bereits konkretisierte Anlage voraus. Dafür spricht vor allem das Regelungsgefüge des § 41 BImSchG in Verbindung mit der Verkehrslärmschutzverordnung. Der Anspruch auf aktiven Lärmschutz ist nach Grund und Ausmaß anhand einer immissionsortbezogenen Berechnung zu bestimmen (§ 3 der 16. BImSchV i.V.m. Anlagen 1 und 2 dieser Verordnung). Eine solche Berechnung lässt sich verlässlich nur durchführen, wenn das Schutzobjekt nach Lage, Höhe, Raumaufteilung und Position der Fenster feststeht. Ohne eine zumindest verfestigte Objektplanung fehlt es hingegen an den erforderlichen Ausgangsdaten, anhand deren Notwendigkeit und Dimensionierung aktiven Lärmschutzes ermittelt werden können. Für Schutzansprüche von Gemeinden, die aus der kommunalen Planungshoheit folgen und baugebietsbezogen zu bestimmen sind, mag Abweichendes gelten, doch kommt es darauf für die im Streitfall maßgebliche Fragestellung, die sich allein auf Schutzansprüche privater Betroffener bezieht, nicht an. Eine zusätzliche Bestätigung findet diese Auslegung in dem systematischen Zusammenhang des § 41 Abs. 1 BImSchG mit § 42 Abs. 1 BImSchG, der auf eine konkret betroffene bauliche Anlage abstellt. Dass ein Grundstück lediglich baureif ist, löst demgemäß noch keine Ansprüche auf aktiven Lärmschutz aus (in diesem Sinne auch Schulze-Fielitz, in: Koch/Pache/ Scheuing, GK-BImSchG, Stand Oktober 2010, § 41 Rn. 52; Bracher, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. III, Stand April 2011, § 41 Rn. 50); diesem Umstand kann allenfalls im Rahmen der planerischen Abwägung Bedeutung zukommen. Ob der systematische Zusammenhang zwischen § 41 Abs. 1 und § 42 Abs. 1 BImSchG dazu führt, auch den Schutz nach § 41 Abs. 1 BImSchG auf solche Anlagen zu beschränken, die bei Auslegung der Pläne im Planfeststellungsverfahren entweder schon bestanden (§ 42 Abs. 1 Satz 1) oder bauaufsichtlich genehmigt waren (§ 42 Abs. 1 Satz 2), oder ob es für die Anwendung des § 41 BImSchG insoweit auf den Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses ankommt (so Storost, in: Ule/Laubinger, BImSchG, Stand August 2011, § 42 Rn. C 7), braucht hier nicht entschieden zu werden, da das Wohnhaus des Klägers erst lange nach dem letztgenannten Zeitpunkt geplant und errichtet worden ist.
Rz. 6
Eine andere Auslegung des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG lässt sich nicht etwa aus § 75 Abs. 2 Satz 5 VwVfG ableiten. Nach dieser Vorschrift hat der Eigentümer eines der immittierenden Anlage benachbarten Grundstücks grundsätzlich die Kosten für nachträglichen aktiven Schallschutz zu tragen, der dadurch notwendig wird, dass auf seinem Grundstück Veränderungen eingetreten sind. Diese Regelung geht zwar davon aus, dass auch Veränderungen, die auf dem durch nicht voraussehbar gewesene nachteilige Einwirkungen betroffenen Grundstück selbst vorgenommen worden sind, Schutzansprüche (gegen Kostenerstattung) nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG auslösen können. Angesichts der vorstehenden Ausführungen spricht aber nichts für die Annahme, mit den genannten Veränderungen sei die nachträgliche Errichtung zu schützender Objekte gemeint. Vielmehr bezieht § 75 Abs. 2 Satz 5 VwVfG sich nur auf solche Veränderungen, die die Ausbreitung der nachteiligen Einwirkungen betreffen.
Rz. 7
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.
Unterschriften
Dr. Nolte, Domgörgen, Buchberger
Fundstellen
Haufe-Index 2811485 |
DÖV 2012, 120 |
NuR 2012, 124 |
VR 2012, 107 |
BayVBl. 2012, 185 |
DVBl. 2012, 35 |