Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Beschluss vom 03.04.2012; Aktenzeichen A 11 S 3319/11) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 3. April 2012 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Soweit sie den Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) genügt, ist sie unbegründet.
Rz. 2
1. Die Beschwerde wirft als grundsätzlich bedeutsam die Frage auf,
“ob die Berufung auf das nationale Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG ausgeschlossen ist, wenn bestandskräftig festgestellt ist, dass ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG nicht vorliegt.”
Rz. 3
Der Verwaltungsgerichtshof habe diese Frage bejaht.
Rz. 4
1.1 Dieses Vorbringen erfüllt schon deshalb nicht die Darlegungsanforderungen an eine Grundsatzrüge, da der Verwaltungsgerichtshof der angefochtenen Entscheidung keinen derartig weitreichenden Rechtssatz zugrunde gelegt hat. Vielmehr hat er zur Konkurrenz von § 60 Abs. 2 und § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf Art. 3 EMRK entschieden (BA S. 6):
“Bezüglich Art. 3 EMRK ist zudem die weitergehende und ‘unionsrechtlich aufgeladene’ Schutznorm des § 60 Abs. 2 AufenthG vorrangig, d.h. im vorliegenden Fall nicht zu prüfen …”
Rz. 5
Hinsichtlich der weiteren Menschenrechte der EMRK hat das Berufungsgericht nur entschieden, dass nicht hinreichend ersichtlich sei, welche davon im konkreten Fall ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG begründen könnten. Prinzipiell ausgeschlossen hat es solche Abschiebungsverbote aber gerade nicht.
Rz. 6
1.2 Auch wenn man die formulierte Frage – entgegen ihrem Wortlaut – einengend dahin verstehen wollte, ob eine bestandskräftige Ablehnung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG den Tatbestand des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ausschließt, kann dies im vorliegenden Fall nicht zur Zulassung der Revision führen. Die Beschwerde legt nämlich nicht hinreichend dar, dass sich diese Frage in dem erstrebten Revisionsverfahren in entscheidungserheblicher Weise stellen würde. Dazu müsste sie – auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) – jedenfalls dartun, dass eine Verletzung des Klägers in seinen Rechten aus Art. 3 EMRK im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan im Raum stehen könnte. Daran fehlt es. Denn das Berufungsgericht hat sich der tatsächlichen Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs angeschlossen, dass zu erwarten sei, dass Rückkehrer in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten “ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten” (BA S. 14). Damit ist nicht hinreichend dargelegt, dass sich selbst bei Zugrundelegung der Kriterien, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, M.S.S. – (NVwZ 2011, 413) für einen anderen Anwendungsfall entwickelt hat, ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ergeben könnte (s.a. Beschluss vom 25. Oktober 2012 – BVerwG 10 B 16.12 – zu vergleichbaren Rügen des Prozessbevollmächtigten des Klägers).
Rz. 7
1.2.1 Den Anforderungen an die Darlegung der Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Frage genügt die Beschwerde auch nicht unter Berücksichtigung der von ihr weiter als grundsätzlich bezeichneten Frage,
“ob eine Abschiebung in eine schlechte Gesamtsituation, die unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbar sein dürfte, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellt und damit ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG auslöst.”
Rz. 8
Diese Frage knüpft an folgende Ausführungen des Berufungsgerichts an, die sich an dessen Würdigung anschließen, dass in Kabul keine Lage gegeben ist, die eine Extremgefahr begründet (BA S. 14):
“Zwar dürfte aufgrund der schlechten Gesamtsituation ohne schützende Familien- oder Stammesstrukturen in der Tat eine Rückkehr nach Kabul selbst für gesunde alleinstehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbar sein. Diese Zumutbarkeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch kein zentraler Maßstab für die Bestimmung einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.”
Rz. 9
Diese Wertung trägt das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung jedoch nicht. Mit ihr bringt das Berufungsgericht vielmehr seine Haltung zum Ausdruck, dass die “Hürden” des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme einer extremen Gefahrenlage zu hoch seien und lässt in der Sache sein Bedauern erkennen, dass die oberste Landesbehörde für Afghanistan keinen generellen Abschiebestopp aus humanitären Gründen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG angeordnet hat und das Gericht diese politische Entscheidung – unterhalb der hier nicht erreichten Grenze verfassungsrechtlich gebotenen Abschiebungsschutzes – nicht zu ersetzen vermag. Diese nicht entscheidungserhebliche und zudem eher außerrechtlich-moralische Bewertung des Handelns der Exekutive führt nicht auf grundsätzlich bedeutsame Rechtsfragen i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Rz. 10
1.2.2 Deshalb führt auch die weitere von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
“ob im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG auch nach Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG alle Gefährdungen grundsätzlich irrelevant sind, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen”,
weder für sich betrachtet noch im Zusammenhang mit den zuvor behandelten Fragen zur Zulassung der Revision. Denn mangels hinreichender Darlegung einer möglichen Verletzung von Art. 3 EMRK im Hinblick auf die vom Verwaltungsgerichtshof getroffenen tatsächlichen Feststellungen zur Lage in Kabul ist der Beschwerde die Klärungsfähigkeit dieser Frage in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht zu entnehmen. Im Übrigen fehlt es an der hinreichenden Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Dazu wäre es erforderlich gewesen darzutun, aus welchen Gründen die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtlinie 2004/83/EG im Aufenthaltsgesetz nicht nur für den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG), sondern auch für das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG als Bestandteil des nationalen Abschiebungsschutzes von Belang sein könnte. Dazu verhält sich die Beschwerde jedoch nicht. Die Frage der Berücksichtigung des Handelns nichtstaatlicher Akteure stellte sich zudem nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zur Sicherheitslage in Kabul weder im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG noch im Rahmen des – hier nicht mehr streitgegenständlichen – § 60 Abs. 2 AufenthG (s.a. Beschluss vom 25. Oktober 2012 – BVerwG 10 B 16.12).
Rz. 11
2. Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsurteil sei nicht hinreichend mit Gründen versehen (§ 138 Nr. 6 VwGO), da es einerseits eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für den Fall einer Abschiebung nach Kabul verneine, andererseits eine solche Abschiebung selbst für gesunde, alleinstehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten für kaum zumutbar halte. Insoweit liege auch ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) vor. Diese Verfahrensrügen greifen nicht durch.
Rz. 12
Nach § 138 Nr. 6 VwGO liegt ein absoluter Revisionsgrund – und damit zugleich ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO – vor, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Nicht mit Gründen versehen im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO ist eine Entscheidung nur, wenn die Entscheidungsgründe ihre doppelte Funktion nicht mehr zu erfüllen vermögen. Das ist nach der Rechtsprechung allerdings nicht nur dann der Fall, wenn dem Tenor der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind, sondern auch dann, wenn die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind (vgl. Beschluss vom 3. April 1990 – BVerwG 9 CB 5.90 – Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 31). Der “grobe Formmangel” (vgl. Beschluss vom 13. Juni 1988 – BVerwG 4 C 4.88 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 80) liegt mit anderen Worten immer dann vor, wenn die Entscheidungsgründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Gründen derart unbrauchbar sind, dass sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen.
Rz. 13
Bei Anwendung dieser Grundsätze liegt der gerügte Verfahrensmangel nicht vor. Der durch § 138 Nr. 6 VwGO sanktionierte grobe Formmangel greift erst bei unverständlichen und verworrenen Entscheidungsgründen, nicht aber bereits bei inhaltlich grob falschen Ausführungen, die hier im Übrigen nicht zu erkennen sind. Die Beschwerde verkennt den Inhalt der von ihr in Bezug genommenen Passagen der Entscheidungsgründe. Bei den Zumutbarkeitserwägungen des Verwaltungsgerichtshofs handelt es sich allein um eine rechtlich nicht verankerte, eher moralische Bewertung einer möglichen Abschiebung (siehe oben 1.2.1). Auch der gerügte Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz ist nicht zu erkennen. Vielmehr rügt die Beschwerde im Gewande dieser Verfahrensrüge die inhaltliche Würdigung des Berufungsgerichts; damit vermag sie die Zulassung der Revision indes nicht zu erreichen.
Rz. 14
3. Die Beschwerde hat auch keinen Erfolg, soweit sie als Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) rügt, der angegriffene Beschluss beziehe sich hinsichtlich der medizinischen Versorgungslage auf Entscheidungen anderer Obergerichte, die schon 17 bzw. 14 Monate zurück gelegen hätten, und enthalte damit keine Aussagen zur aktuellen Lage. Damit zielt die Beschwerde allein auf einen behaupteten materiell-rechtlichen Verstoß. Ob das Gericht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage entschieden hat (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist nämlich grundsätzlich eine allein dem materiellen Recht zuzuordnende Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung, auf die eine Verfahrensrüge im Regelfall nicht gestützt werden kann. Ein Verfahrensverstoß kommt nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, es insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen und deshalb seiner Überzeugungsbildung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, oder allenfalls noch bei einer von Willkür geprägten Beweiswürdigung (Beschluss vom 9. November 2006 – BVerwG 1 B 134.06 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 48 m.w.N.) Für eine derart qualifizierte Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes lässt sich der Beschwerde nichts entnehmen. Sie legt schon nicht dar, dass mit der von ihr zitierten Passage aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Januar 2012 überhaupt eine Veränderung der Lage im Vergleich zu den Feststellungen des Berufungsgerichts erfolgt sein könnte. Immerhin geht auch dieses davon aus, dass der Zugang für Rückkehrer zur Gesundheitsversorgung häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei (BA S. 11). Überdies ist die Entscheidungserheblichkeit des Vorbringens nicht ausreichend dargelegt. Denn gesundheitliche Beeinträchtigungen des Klägers stehen ausweislich des angegriffenen Beschlusses, der keine individuellen Faktoren sieht, die ausnahmsweise eine extreme Gefahrenlage begründen könnten (BA S. 14), derzeit nicht in Rede. Ein fehlender Zugang zur medizinischen Versorgung, die akut nicht benötigt wird, kann weder vor § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK noch vor § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG (in verfassungskonformer Auslegung) das Vorliegen einer extremen Ausnahmesituation bzw. einer Extremgefahr begründen.
Rz. 15
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
Rz. 16
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Unterschriften
Prof. Dr. Berlit, Prof. Dr. Kraft, Fricke
Fundstellen