Leitsatz (amtlich)
Ein vorläufiges Dienstausübungsverbot nach § 22 SG wird nicht allein durch die spätere Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens und die Möglichkeit einer wehrdisziplinarrechtlichen Suspendierung nach § 126 WDO rechtswidrig.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Süd (Beschluss vom 10.03.2021; Aktenzeichen S 3 BLa 5/20 und S 3 RL 2/21) |
Tenor
Der Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 10. März 2021 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Truppendienstgericht Süd zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
Rz. 1
Die Rechtsbeschwerde des Bundesministeriums der Verteidigung betrifft die Frage, ob ein auf § 22 SG gestütztes Dienstausübungs- und Uniformtrageverbot nach der Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens wegen derselben Vorwürfe rechtswidrig wird.
Rz. 2
Im Ausgangsverfahren wendet sich der Antragsteller gegen ein Dienstausübungs- und Uniformtrageverbot. Er ist Berufssoldat und war im Bereich... des K eingesetzt. Seine Dienstzeit endet regulär mit dem März 2028.
Rz. 3
Mit Schreiben vom 29. November 2019 unterrichtete das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) das P über den Antragsteller betreffende Erkenntnisse mit Bezug zum Extremismus, die sich aus der Auswertung seiner Profilbilder bei Messenger-Diensten und seinen Tätowierungen ergaben. Daraufhin ordnete der Kommandeur des K gegenüber dem Antragsteller mit Verfügung vom 2. Dezember 2019 das Verbot der Ausübung des Dienstes und des Tragens der Uniform an. Mit Beschluss vom 10. März 2021 hob das Truppendienstgericht diese Verfügung auf. Ein Rechtsbehelf des Bundesministeriums der Verteidigung hiergegen ist ohne Erfolg geblieben.
Rz. 4
Mit Schreiben vom 5. Februar 2020 unterrichtete das BAMAD das P über weitere den Antragsteller betreffende Erkenntnisse mit Bezug zum Extremismus, die sich aus der Auswertung seines unter dem Namen "..." geführten Facebook-Profils ergäben.
Rz. 5
Daraufhin verbot der Kommandeur des K dem Antragsteller mit der hier streitgegenständlichen Verfügung vom 16. März 2020 erneut die Ausübung des Dienstes und untersagte ihm das Tragen der Uniform.
Der Antragsteller habe über seinen Facebook-Account "..." zwischen 2015 und 2018 Einträge mit Inhalten der Reichsbürgerszene sowie mit ausländerfeindlichen und rassistischen Inhalten eingestellt bzw. geteilt. Hieraus ergäben sich Zweifel an seinem Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Vor dem Hintergrund der andauernden Presseberichterstattung mit dem Fokus K bestehe die Gefahr der massiven Beeinträchtigung des Ansehens der Bundeswehr in der Öffentlichkeit. Es gebe damit zwingende dienstliche Gründe nach § 22 SG für die ergriffene Maßnahme.
Rz. 6
Die Beschwerde des Antragstellers hiergegen wurde mit Bescheid des Kommandeurs der Division S vom 16. April 2020 zurückgewiesen. Nachdem über seine weitere Beschwerde nicht entschieden wurde, beantragte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 30. Mai 2020 die Entscheidung des Truppendienstgerichts. Das Kommando... trat dem Antrag entgegen.
Rz. 7
Mit Verfügung vom 28. Mai 2020 leitete der Kommandeur der Division S gegen den Antragsteller wegen eines Teils der ursprünglich angeführten Tatvorwürfe ein gerichtliches Disziplinarverfahren ein.
Rz. 8
Mit Beschluss vom 10. März 2021 hat das Truppendienstgericht Süd die Verfügung vom 16. März 2020 und den Beschwerdebescheid vom 16. April 2020 aufgehoben. Es bedürfe keiner Entscheidung, ob die Voraussetzungen des Verbots am 16. März 2020 vorgelegen hätten. Die Verbotsverfügung sei jedenfalls "bei summarischer Prüfung" zum Zeitpunkt der Entscheidung durch die Kammer offensichtlich rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 22 SG müssten während der gesamten Geltungsdauer des Verbotes vorliegen. Die Verbotsverfügung sei vorrangig aus disziplinaren Gründen ergangen. In einem solchen Fall dürfe ein Verbot nach § 22 SG aber nur bis zur Einleitung des sachgleichen gerichtlichen Disziplinarverfahrens angeordnet werden. Nach der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens könne wegen der zugrunde liegenden Pflichtwidrigkeiten nur die vorläufige Dienstenthebung nach § 126 WDO ausgesprochen werden. Gegen die uneingeschränkte Fortgeltung des Verbots der Ausübung des Dienstes über den Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens hinaus spreche, dass das Verbot der Dienstausübung gegenstandslos werde, wenn die Einleitungsbehörde den Soldaten bei oder nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 126 WDO vorläufig des Dienstes enthebe. Auch wenn das Dienstausübungsverbot nicht in Konkurrenz mit einer ausdrücklichen vorläufigen Dienstenthebung stehe, sei von einem Vorrang der vorläufigen Dienstenthebung nach § 126 WDO auszugehen, wenn dem Soldaten wegen des Verdachts eines Dienstvergehens die Ausübung des Dienstes verboten werde. Die vorläufige Dienstenthebung sei sachnäher. § 126 WDO sei die gegenüber § 22 SG speziellere Norm. Der Fortbestand eines Dienstausübungsverbots nach § 22 SG unterlaufe systemwidrig die Prüfung der Voraussetzungen des § 126 WDO, der neben der Störung oder Gefährdung des Dienstbetriebs auch die Prognose der Verhängung mindestens einer Dienstgradherabsetzung verlange. Zudem ermögliche § 126 WDO schärfere Rechtsfolgen als § 22 SG. Ab der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens werde der Zweck des § 22 SG durch § 126 WDO gewährleistet. Da die Einleitungsbehörde mit Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens keine vorläufige Dienstenthebung angeordnet habe, die die Verbotsverfügung hätte gegenstandslos werden lassen, hätte der Kommandeur K seine Verbotsverfügung unverzüglich aufheben müssen. Sieben Monate nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens sei der zeitliche Rahmen der Geltung eines zuvor verfügten Dienstausübungsverbots deutlich überschritten.
Rz. 9
Am 9. April 2021 hat das Bundesministerium der Verteidigung die vom Truppendienstgericht zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt und begründet. Es macht geltend, das Verbot der Ausübung des Dienstes nach § 22 SG und die vorläufige Dienstenthebung nach § 126 WDO stünden grundsätzlich nebeneinander und ergänzten sich. Das Verbot der Ausübung des Dienstes habe auch dann Bestand, wenn durch die Einleitungsbehörde ohne vorläufige Dienstenthebung ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet werde. Die Regelungen verfolgten jeweils unterschiedliche Zwecke, hätten grundlegend andere Voraussetzungen und unterschiedliche Zuständigkeiten. § 126 WDO sei daher nicht lex specialis zu § 22 SG. § 22 Satz 2 SG enthalte die einzige Verbindung zwischen dem Disziplinarverfahren und dem Verbot der Ausübung des Dienstes. Im Umkehrschluss sei dieser Bestimmung zu entnehmen, dass ein zuvor ausgesprochenes Dienstausübungsverbot nach rechtzeitiger Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens Bestand haben solle. Die größere Sachnähe der Einleitungsbehörde hinsichtlich disziplinarer Gesichtspunkte werde nicht eingeschränkt, da sie durch eine Anordnung nach § 126 WDO das Dienstausübungsverbot gegenstandslos machen könne. Das Truppendienstgericht verkenne das differenzierte Zusammenspiel der beiden Normen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Zwecken. Auch wenn unter disziplinaren Aspekten eine vorläufige Dienstenthebung nicht geboten sei, könnten die von § 22 SG geschützten dienstlichen Interessen ein Dienstausübungsverbot verlangen. Auch wenn die angefochtene Verfügung vorrangig aus disziplinaren Gründen ergangen sein sollte, benenne sie ausdrücklich die Gefahr der massiven Beeinträchtigung des Ansehens der Bundeswehr in der Öffentlichkeit als Entscheidungsgrund. Unabhängig von der disziplinaren Relevanz der Vorwürfe stelle der Verbleib des Antragstellers im Dienst nicht nur nach außen eine Gefahr dar, sondern gefährde auch nach innen die Funktionsfähigkeit des K. Die Voraussetzungen einer vorläufigen Dienstenthebung würden nicht systemwidrig unterlaufen. Vielmehr hätten beide Instrumente unterschiedliche Voraussetzungen und Funktionen. Ob der Fortbestand des Dienstausübungsverbots als Umgehung strengerer Voraussetzungen der vorläufigen Dienstenthebung missbräuchlich sei, sei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Verbotsdauer zu prüfen. Die Einleitungsbehörde habe eine Entscheidung nach § 126 WDO nur wegen des Fortbestandes des Verbotes nach § 22 SG nicht getroffen. Auf das entsprechende Verhältnis der Parallelregelungen im Beamtendisziplinar- und Beamtenstatusrecht werde hingewiesen.
Rz. 10
Das Bundesministerium der Verteidigung beantragt,
den Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 10. März 2021 aufzuheben und die Anträge des Antragstellers zurückzuweisen,
hilfsweise den Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 10. März 2021 aufzuheben und die Sache an das Truppendienstgericht zurückzuverweisen.
Rz. 11
Der Antragsteller tritt der Rechtsbeschwerde entgegen. Das Truppendienstgericht gehe zu Recht von einem Vorrang der vorläufigen Dienstenthebung nach § 126 WDO aus. Dies ergebe sich schon daraus, dass das Verbot nach § 22 SG gegenstandslos werde, wenn die Einleitungsbehörde den Soldaten vorläufig des Dienstes enthebe. Für den Vorrang des § 126 WDO spreche auch der effektivere Rechtsschutz. Selbst wenn diese Rechtsauffassung nicht zutreffen sollte, wäre die Entscheidung des Truppendienstgerichts im Ergebnis nicht zu beanstanden, weil das Verbot der Ausübung des Dienstes rechtswidrig sei. Die das Dienstausübungsverbot begründenden Vorwürfe seien unzutreffend. Das Bild mit den Reichsbürgerthesen habe er - wie zwischenzeitlich auch das BAMAD einräume - weder gelikt noch geteilt. Er habe zwar weitere Beiträge Dritter geteilt, sie also weitergeleitet, sich diese aber dadurch weder zu Eigen gemacht, noch sie befürwortet. Die Aussagen zahlreicher Zeugen im Disziplinarverfahren hätten bestätigt, dass er keine faschistoiden Äußerungen getätigt, die NS-Zeit nicht verherrlicht hätte und keinen Bezug zur Reichsbürgerszene habe. Zudem sei er nicht mehr im K eingesetzt, sondern seit Juli 2020 an die F versetzt. Die vermeintliche mediale Negativwirkung trage das Dienstausübungsverbot nicht. Der Kommandeur des K sei wegen der Unschuldsvermutung auch nach Bekanntwerden der "..." im Dienst verblieben. Er sei schon seit Jahren nicht mehr als... eingesetzt gewesen. In seinem Facebook-Profil trete er weder als Soldat noch als Vorgesetzter auf. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft habe keinen ihm unterstellten Kameraden benannt, dem die geteilten Beiträge zur Kenntnis gelangt seien.
Rz. 12
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Verfahrensakten des Truppendienstgerichts haben dem Senat bei der Beratung vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 13
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere vom Truppendienstgericht mit bindender Wirkung für den Senat zugelassen (§ 22a Abs. 1, Abs. 3 WBO) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
Rz. 14
2. Die Rechtsbeschwerde ist mit dem Ergebnis der Zurückverweisung begründet.
Rz. 15
a) Ohne Rechtsfehler hat das Truppendienstgericht die Zulässigkeit des Antrages festgestellt. Insbesondere ist der Rechtsweg zu den Wehrdienstgerichten eröffnet und der Aufhebungsantrag statthaft (BVerwG, Beschluss vom 12. April 1978 - 1 WB 159.76, 1 WB 5.77 - BVerwGE 63, 32 ≪33≫). Durch die Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens innerhalb der Frist des § 22 Satz 2 SG ist das Verbot der Dienstausübung auch nicht erloschen und keine Erledigung eingetreten (vgl. auch zu § 39 BeamtStG: OVG Münster, Beschluss vom 25. Juni 2020 - 6 B 238/20 - DÖD 2020, 251 ≪252≫).
Rz. 16
b) Der angegriffene Beschluss beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Denn er stützt die Begründetheit des Antrages tragend auf die Rechtsauffassung, ein auf Dienstpflichtverletzungen gestütztes Dienstausübungsverbot nach § 22 SG werde nach der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens automatisch rechtswidrig. Dem folgt der Senat nicht.
Rz. 17
aa) Es trifft zwar zu, dass nach der gesetzlichen Modellvorstellung des § 22 SG das vorläufige Dienstausübungsverbot des Disziplinarvorgesetzten bei gewichtigen disziplinaren Vorwürfen regelmäßig nur den Zeitraum der disziplinaren Vorermittlungen abdecken soll. Dies folgt daraus, dass einerseits § 22 Satz 2 SG in diesen Fällen die Fortgeltung des Dienstausübungsverbots von der zügigen Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens innerhalb von drei Monaten abhängig macht und dass andererseits § 126 WDO nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens die Einleitungsbehörde ermächtigt, auf der Grundlage des Ergebnisses der Vorermittlungen ebenfalls eine vorläufige Dienstenthebung mit Uniformtrageverbot und in besonders schweren Fällen mit Bezügekürzung zu verfügen. Aufgrund dieser im Gesetz vorgesehenen zeitlichen Abfolge erledigt sich das ursprüngliche soldatenrechtliche Dienstausübungsverbot in anderer Weise nach § 43 Abs. 2 VwVfG, wenn die Einleitungsbehörde für das weitere disziplinarrechtliche Verfahren erneut eine dauerhafte Suspendierung anordnet (vgl. Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 126 Rn. 11; Metzger, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2020, § 22 Rn. 34; Nr. 1162 ZDv A-2160/6).
Rz. 18
Dies rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, ein Dienstausübungsverbot nach § 22 SG werde schon allein nicht deshalb durch die spätere Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens rechtswidrig.
Rz. 19
Die Vorinstanz verkennt, dass die Folge des Wirksamwerdens einer Maßnahme nichts darüber aussagt, welche Folge das Unterbleiben einer Maßnahme hat. Dass eine vorläufige disziplinarrechtliche Dienstenthebung ein vorausgehendes soldatenrechtliches Dienstausübungsverbot gegenstandslos werden lässt, besagt nicht, dass das soldatenrechtliche Dienstausübungsverbot auch ohne nachfolgende disziplinarrechtliche Suspendierung gegenstandslos oder rechtswidrig wird (a.A. Weiß, in: GKÖD, Stand 2021, § 126 WDO Rn. 15). Eine derartige rechtliche Verknüpfung ist gerade nicht in § 22 SG oder § 126 WDO ausdrücklich geregelt. Die einschlägigen gesetzlichen Regelungen fixieren keinen Zeitpunkt, an dem die soldatenrechtliche Suspendierung durch die disziplinarrechtliche Dienstenthebung zwingend abgelöst werden muss. Vielmehr überlässt es § 22 SG dem Disziplinarvorgesetzten, ob er ein befristetes oder unbefristetes vorläufiges Dienstausübungsverbot ausspricht, und § 126 WDO überlässt es dem pflichtgemäßen Ermessen der Einleitungsbehörde, ob und wann sie eine vorläufige Dienstenthebung nach § 126 WDO erlässt. Auch wenn sich die beiden gesetzlichen Regelungen in zeitlicher Hinsicht ergänzen, bleibt es dem Ermessen der beteiligten Stellen überlassen, ob und wann in zeitlicher Hinsicht von einer Maßnahme auf die andere übergegangen wird.
Rz. 20
bb) Entgegen der Auffassung des Truppendienstgerichts wird das Dienstausübungsverbot auch nicht deshalb durch die Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens rechtswidrig, weil § 126 WDO als speziellere oder sachnähere Norm § 22 SG verdrängen würde. § 126 WDO verdrängt § 22 SG auch dann nicht, wenn der Verdacht von Dienstpflichtverletzungen die zwingenden dienstlichen Gründe verursacht, die der zuständigen Stelle das Dienstausübungsverbot nach pflichtgemäßem Ermessen geboten erscheinen lassen (so im Ergebnis auch zum Beamten- und Beamtendisziplinarrecht: OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. Dezember 2009 - 1 M 87/09 - juris Rn. 13; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. April 2010 - 5 ME 282/09 - juris Rn. 22; OVG Münster, Beschluss vom 25. Juni 2020 - 6 B 238/20 - DÖD 2020, 251 Rn. 4; OVG Koblenz, Beschluss vom 18. Januar 2021 - 2 B 11504/20 - DÖD 2021, 156 Rn. 10).
Rz. 21
(1) Zwar stehen die Anwendungsbereiche von § 22 SG und § 126 WDO logisch in einem Verhältnis der Spezialität zueinander. Im logischen Verhältnis der Spezialität zueinander stehen zwei Normen dann, wenn der Anwendungsbereich der spezielleren Norm völlig in dem der allgemeineren Norm aufgeht, wenn also alle Fälle der spezielleren Norm auch solche der allgemeineren Norm sind. Das ist der Fall, wenn der Tatbestand der spezielleren Norm alle Merkmale der allgemeineren Norm und darüber hinaus noch mindestens ein zusätzliches Merkmal enthält (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 267; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 12. Aufl. 2021, S. 32).
Rz. 22
§ 126 Abs. 1 WDO formuliert als tatbestandliche Voraussetzung nur die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens und eröffnet als Rechtsfolge Ermessen über die vorläufige Dienstenthebung. Die Rechtsfolge der Eröffnung von Ermessen knüpft § 22 SG an die tatbestandliche Voraussetzung des Vorliegens zwingender dienstlicher Gründe, die in einer erheblichen Beeinträchtigung des Dienstbetriebes oder anderen gewichtigen dienstlichen Nachteilen bestehen. Im Vergleich der jeweiligen Wortlaute gibt es also keinen Überschneidungsbereich von Voraussetzungen des § 22 SG, die auf der Tatbestandsebene von § 126 WDO ebenfalls enthalten und durch weitere ergänzt sind. Allerdings fordert die Rechtsprechung für die Rechtmäßigkeit einer vorläufigen Dienstenthebung nach § 126 WDO das Vorliegen eines besonderen rechtfertigenden Grundes. Ein solcher wird regelmäßig dann angenommen, wenn zumindest eine Dienstgradherabsetzung im Raum steht und der Dienstbetrieb beim Verbleib des Soldaten im Dienst empfindlich gestört oder in besonderem Maße gefährdet wird (BVerwG, Beschlüsse vom 9. Oktober 2019 - 2 WDB 3.19 - Buchholz 450.2 § 126 WDO 2002 Nr. 8 Rn. 17 und vom 27. Juli 2020 - 2 WDB 5.20 - Buchholz 450.2 § 126 WDO 2002 Nr. 12 Rn. 24 jeweils m.w.N.). Hiernach gibt es keinen Fall im Anwendungsbereich des § 126 WDO, der nicht zugleich die Voraussetzungen eines zwingenden dienstlichen Grundes gemäß § 22 SG erfüllt.
Rz. 23
Ein Spezialitätsverhältnis ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass § 22 SG auf die objektive Gefährdung des Dienstes abstellt und vorwerfbares Fehlverhalten eines Soldaten nicht voraussetzt (BVerwG, Beschlüsse vom 12. April 1978 - 1 WB 159.76, 1 WB 5.77 - BVerwGE 63, 32 ≪34 und vom 17. Juli 1979 - 1 WB 67.78 - BVerwGE 63, 250 ≪251≫). Hiernach kann zwar unabhängig von disziplinarrechtlich relevanten Sachverhaltskonstellationen - also etwa bei einer Dienstunfähigkeit eines Soldaten, bei der ein Dienstvergehen gar nicht im Raum steht - ein Dienstausübungsverbot ausgesprochen werden. Dass nicht alle Fälle der allgemeineren Norm zugleich in den Anwendungsbereich der spezielleren Norm fallen, ist mit einem Spezialitätsverhältnis aber notwendig verbunden.
Rz. 24
(2) Nach der gesetzgeberischen Wertung ist mit diesem Verhältnis aber keine Verdrängung der allgemeineren durch die speziellere Regelung verbunden.
Rz. 25
In Konkurrenzfällen verdrängt die speziellere Norm die allgemeine, wenn die Rechtsfolgen der beiden Normen sich ausschließen. Sind die Rechtsfolgen miteinander verträglich, kommt es darauf an, ob nach der Regelungsabsicht des Gesetzes die Rechtsfolgen der spezielleren Norm an die Stelle derjenigen der allgemeinen treten oder sie nur ergänzen oder modifizieren soll (Larenz, a.a.O. S. 268).
Rz. 26
§ 22 SG und § 126 WDO stehen aber selbstständig nebeneinander und ergänzen sich (BVerwG, Beschlüsse vom 12. April 1978 - 1 WB 159.76, 1 WB 5.77 - BVerwGE 63, 32 ≪34≫ und vom 17. Juli 1979 - 1 WB 67.78 - BVerwGE 63, 250 ≪251≫). Die Rechtsfolgen der beiden Normen schließen sich nicht nur nicht aus, sie sind in ihrem Kern identisch, insoweit sie beide eine Herauslösung des Betroffenen aus dem Dienstbetrieb und die Suspendierung seiner Dienstleistungspflicht bewirken.
Rz. 27
Dass ein Nebeneinander von Dienstausübungsverbot nach § 22 Satz 1 SG und gerichtlichem Disziplinarverfahren systemkonform ist, ergibt sich bereits aus einem Umkehrschluss zu § 22 Satz 2 SG: Erlischt das Verbot, sofern ein gerichtliches Disziplinarverfahren nicht eingeleitet wird, bleibt es in Kraft, wenn es eingeleitet wird. Damit integriert das gesetzliche System ohne Weiteres auch das Nebeneinander von laufendem gerichtlichen Disziplinarverfahren und Dienstausübungsverbot nach § 22 Satz 1 SG. Gerade im Lichte dieser Norm müsste der Gesetzgeber ausdrücklich regeln, wenn ein Dienstausübungsverbot nach der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens zwar fortbestehen, aber rechtswidrig werden sollte. Eine solche Bestimmung fehlt aber.
Rz. 28
cc) Entgegen der Einschätzung der Vorinstanz werden die strengeren Voraussetzungen des § 126 WDO durch eine Fortgeltung des vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens ausgesprochenen Dienstausübungsverbots nicht systemwidrig unterlaufen. Denn die Annahme des Truppendienstgerichts trifft nicht zu, dass die von § 22 SG geforderten zwingenden Gründe einer Suspendierung weniger schwerwiegend sein können als der von der Rechtsprechung bei § 126 WDO geforderte rechtfertigende Grund. Beide Rechtsfiguren sind Ausdruck des verfassungsmäßigen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der eine Suspendierung vom Dienst nur bei schwerwiegenden Gründen zulässt. Lediglich der persönliche und sachliche Anwendungsbereich des § 22 SG geht über den auf das Disziplinarrecht beschränkten Anwendungsbereich des § 126 WDO hinaus. Deswegen können auch andere als disziplinarrechtliche Gründe bei entsprechenden Gewicht ein Dienstausübungsverbot nach § 22 SG rechtfertigen. So kann ein vorläufiges Dienstausübungsverbot auch darauf gestützt werden, dass bei einem vorübergehenden Verbleib des Soldaten im Dienst eine erhebliche Unruhe in der Einheit entstünde, dass der Erfolg disziplinarischer Ermittlungs- und Untersuchungshandlungen gefährdet oder dass für das Ansehen der Bundeswehr ein gravierender Schaden zu befürchten wäre. Diese oder andere Gründe können auch dann ein Dienstausübungsverbot nach § 22 SG zwingend erforderlich machen, wenn das disziplinarrechtlich verfolgte Dienstvergehen nicht die im Rahmen des § 126 WDO geforderte Schwere aufweist und damit die Suspendierung nicht rechtfertigt. Mithin sind die Zwecke des § 22 SG nach Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens keineswegs vollständig durch § 126 WDO erreichbar. Auch deswegen kann nicht von einer automatischen Rechtswidrigkeit des vorläufigen Dienstausübungsverbots nach § 22 SG bei Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens ausgegangen werden.
Rz. 29
3. Nach § 22a Abs. 6 Satz 2 WBO kann der Senat bei einer begründeten Rechtsbeschwerde entweder in der Sache selbst entscheiden oder den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache an das Truppendienstgericht zur anderweitigen Verhandlung zurückverweisen. Im vorliegenden Fall macht er von der zweiten Alternative Gebrauch, weil es an den notwendigen tatsächlichen Feststellungen für die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 SG und der Ermessensausübung durch die Vorinstanz fehlt. Aus diesem Grund kann auch nicht geprüft werden, ob sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 144 Abs. 4 VwGO).
Rz. 30
Nicht alle tatsächlichen Umstände, auf die es für die Überprüfung der materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit des Dienstausübungsverbots ankommt, sind unstreitig. Der Antragsteller räumt zwar einige, aber nicht alle der ihm in den genannten Bescheiden vorgeworfenen Facebook-Aktivitäten ein. Er stellt in Abrede, dass der unter einem Alias-Namen geführte Facebook-Account in der Öffentlichkeit ihm und damit der Bundeswehr zugeordnet werden konnte.
Außerdem bestreitet er, mit dem bloßen Weiterleiten - nicht "liken" - von einzelnen Einträgen hierzu konkludent seine volle inhaltliche Zustimmung erklärt zu haben. Auch die Frage, welche konkludente Erklärung mit dem Weiterleiten von Einträgen anderer Facebook-Nutzer verbunden ist, ist eine Tatsachenfrage, zu der sich der angegriffene Beschluss nicht verhält. Ebenfalls die tatsächliche Ebene betrifft die Frage, welche Rückschlüsse diesen (konkludenten) Erklärungen auf die Verfassungstreue des Antragstellers erlauben. Es fehlt des Weiteren an einer tatrichterlichen Überprüfung der von der Verbotsverfügung angeführten Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr. Daher bleiben die auf eine Sachentscheidung des Senats gerichteten Anträge ohne Erfolg, während der Hilfsantrag durchgreift.
Rz. 31
4. Für die erneute Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass im vorliegenden Fall die tatbestandlichen Voraussetzungen und das Ermessen bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu prüfen sind. Hierauf kommt es auch für ein auf § 126 WDO gestütztes Dienstausübungsverbot an (BVerwG, Beschluss vom 31. März 2020 - 2 WDB 2.20 - Buchholz 450.2 § 126 WDO 2002 Nr. 11 Rn. 16 m.w.N.). Dies hat seinen Grund darin, dass das vorläufige Dienstausübungsverbot im vorliegenden Fall nicht auf einen überschaubaren Zeitraum angelegt ist. Es ist weder ausdrücklich noch stillschweigend auf eine mehrmonatige Zeitspanne befristet, sondern gilt unbeschränkt für die Zukunft. Bei der gerichtlichen Überprüfung von Dauerverwaltungsakten kommt es jedoch regelmäßig auf die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage an (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Oktober 2014 - 9 B 32.14 - juris Rn. 3 m.w.N.). Soweit der Senat auch bei unbefristeten vorläufigen Dienstausübungsverboten nach § 22 SG in der Vergangenheit auf den Zeitpunkt des Erlasses abgestellt hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17. Juli 1979 - 1 WB 67. 78 - BVerwGE 63, 250 ≪251≫ und vom 19. November 1998 - 1 WB 36.98 - Buchholz 236.1 § 22 SG Nr. 2 S. 2), hält er daran nicht mehr fest. Beim Erlass eines auf unbestimmte Zeit währenden Dienstausübungsverbots nach § 22 SG muss der Disziplinarvorgesetzte ebenso wie die Einleitungsbehörde nach § 126 Abs. 5 WDO jederzeit von Amts wegen prüfen, ob die für eine vorläufige Suspendierung geltend gemachten Gründe noch vorliegen und weiterhin solches Gewicht haben, dass sie eine Fortdauer des Eingriffs in das Recht eines Soldaten auf amtsangemessene Beschäftigung rechtfertigen. Dementsprechend kommt es bei dem vorliegenden Dienstausübungsverbot, das auf die Gefahr eines... weiteren Ansehensverlusts der Bundeswehr gestützt worden ist, darauf an, ob diese Gründe nach der Wegversetzung des Soldaten und nach Ablauf von zwei Jahren noch vorliegen und hinreichend gewichtig sind. Da bei der gerichtlichen Kontrolle eines auf Dauer angelegten Dienstausübungsverbots der Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz maßgeblich ist, kann der Disziplinarvorgesetzte seine Ermessensentscheidung für die Aufrechterhaltung eines Dienstausübungsverbots allerdings auch auf nach Erlass der Suspendierung eingetretene neue Umstände stützen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C 46.12 - BVerwGE 147, 81 Rn. 33).
Rz. 32
Soweit sich die Fortdauer des Dienstausübungsverbots nur noch auf die im Disziplinarverfahren folgenden Dienstpflichtverletzungen stützen lässt, sind zudem an den zwingenden dienstlichen Grund im Sinne des § 22 SG dieselben Maßstäbe anzulegen, die für den besonderen rechtfertigenden Grund im Sinne von § 126 WDO gelten. Denn das Erfordernis eines rechtfertigenden Grundes beruht auf dem verfassungsmäßigen Grundsatz des Übermaßverbots. Für die Verhältnismäßigkeit einer allein auf disziplinare Erwägungen gestützten Suspendierung kann es aber nicht darauf ankommen, in welchem Verfahren der Dienstherr diese Gründe geltend macht.
Fundstellen
Haufe-Index 15008119 |
BVerwGE 2022, 94 |