Entscheidungsstichwort (Thema)
Abschiebungsanordnung gegen einen radikal-islamistischen Gefährder
Leitsatz (amtlich)
Eine terroristische Gefahr im Sinne des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt eine unmittelbare räumliche Beziehung zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Bundesrepublik Deutschland nicht voraus.
Normenkette
AsylVfG 1992 § 4 Abs. 1; AufenthG § 11 Abs. 5, § 60 Abs. 5, § 11 Abs. 1-2, § 58a Abs. 1 Sätze 2, 1, § 60 Abs. 1-2; EURL 2017/541 Art. 14 Abs. 3, Art. 3, 9 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8 Abs. 1, Art. 3; VwGO § 50 Abs. 1 Nr. 3
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, ein 21 Jahre alter türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Anordnung seiner Abschiebung in die Türkei.
Rz. 2
Er ist als zweitjüngstes von fünf Kindern seiner Eltern im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Seine Eltern und seine beiden Schwestern leben im Bundesgebiet, seine beiden älteren Brüder waren zuletzt in der Türkei aufhältig, in der auch weitere Verwandte leben. Er besuchte nach der Grundschule zunächst die Hauptschule. Zur siebten Klasse wechselte er auf eine Förderschule. Nach deren Abschluss und der Absolvierung eines Berufsvorbereitungsjahres erwarb er den qualifizierten Hauptschulabschluss. Den Besuch einer Berufsfachschule beendete er vorzeitig. Hiernach war er in der Zeit von März 2016 bis Ende 2016 als Aushilfe und in der Zeit von März 2017 bis Dezember 2017 als Kurierfahrer und Lagerarbeiter tätig. Im November 2013 wurde ihm eine Niederlassungserlaubnis erteilt.
Rz. 3
Der Kläger wurde am 18. Dezember 2017 am Flughafen bei der Ausreise festgenommen. Mit nicht rechtskräftigem Urteil vom 4. Juni 2018 sprach ihn das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - im Zusammenhang mit der von ihm beabsichtigten Ausreise vom Vorwurf der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a Abs. 2a StGB frei. Über die seitens der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung ist noch nicht entschieden worden.
Rz. 4
Mit einer ohne Briefkopf ausgefertigten Verfügung vom 24. Oktober 2018 ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport - gestützt auf § 58a AufenthG - die Abschiebung des Klägers in die Türkei an. Noch am gleichen Tag wurde dieser festgenommen und gegen ihn zur Sicherung seiner Abschiebung Haft angeordnet. Am 2. November 2018 stellte das Hessische Ministerium des Innern und für Sport dem Kläger und seinem Prozessbevollmächtigten eine mit Briefkopf ausgefertigte inhaltsgleiche Verfügung vom gleichen Tag zu. Darin ordnete es erneut die Abschiebung des Klägers in die Türkei an (Ziffer I). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1, 2, 3, 5 und 7 AufenthG, die seiner Abschiebung in die Türkei entgegenstehen könnten, nicht vorlägen (Ziffer II) und dass das mit seiner Abschiebung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG unbefristet gilt und keine Ausnahme hiervon zugelassen wird (Ziffer III). Zur Begründung der von dem Kläger ausgehenden besonderen Gefahrenlage führte es aus, dieser identifiziere sich mit dem jihadistischen Islamismus, pflege enge Kontakte zu wenigstens gleichgesinnten Personen, sei bereit, nach Syrien oder in den Nordirak auszureisen, um sich an der Waffe ausbilden zu lassen und dort in einem vermeintlich religiösen Krieg zu kämpfen, und heiße den Märtyrertod gut. Er habe umfangreiches Ton- und Videomaterial besessen, das als Propagandamaterial jihadistischer (Terror-)Organisationen bewertet worden sei, und nicht nur ein reges Interesse, sondern eine Begeisterung für und den Willen zur Teilnahme an dem Jihad entwickelt. Er habe beabsichtigt, zum Zwecke der Teilnahme an einem solchen Kampf nach Syrien oder in den Nordirak auszureisen. Der Freispruch von dem Vorwurf der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat widerstreite der Annahme eines entsprechenden beachtlichen Risikos nicht, da sich die gefahrenabwehrrechtlichen Prüfungsmaßstäbe von denen des Strafrechts unterschieden. Die persönliche und charakterliche Entwicklung des Klägers sei von einer zunehmenden Radikalisierung geprägt. So sei er Mitglied des Vereins "Die wahre Religion" gewesen und habe sich im Jahr 2016 wiederholt an der Koranverteilaktion "LIES!" beteiligt. Die Mitgliedschaft in dem Verein "Ansaar International e.V." habe er angestrebt. Er habe religiöse Vorträge unter anderem des salafistischen Predigers Pierre Vogel besucht und die Aufmerksamkeit von Bernhard Falk, einer bundesweit bekannten Größe in der salafistischen und islamistischen Szene, auf sich gezogen. Intensiven Kontakt habe er mit einem Koranlehrer gepflegt, der ihn als "geistiger Führer" mit seinem zumindest fundamentalistischen Islamverständnis und salafistischer Religiosität beeinflusst habe. Über seinen Facebook-Account habe er im Internet ein Zitat eines D. D. kundgetan, dass, wer den Propheten beleidige, getötet werden müsse. Er habe zeitweise einen Salafistenbart getragen und wiederholt den Tauhid-Finger gezeigt. Das Ausmaß seiner Radikalisierung lasse es als hinreichend wahrscheinlich erscheinen, dass er seiner Überzeugung Taten folgen lassen und im Einklang mit dieser Überzeugung zu jihadistischen, mithin terroristischen Maßnahmen auch im Bundesgebiet greifen werde. Seine Unterweisung in einem Ausbildungslager etwa im Umgang mit Schusswaffen oder Sprengvorrichtungen lasse für den Fall einer Rückkehr eine massive Bedrohungslage für die innere Sicherheit besorgen.
Rz. 5
Am 30. November 2018 hat der Kläger bei dem Bundesverwaltungsgericht Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, die in der Verfügung vom 2. November 2018 zur Begründung der Abschiebungsanordnung angeführten Tatsachen rechtfertigten nicht die Prognose, von seiner Person gehe eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr aus. Sämtliche Erkenntnisse datierten aus dem Zeitraum 2016 und 2017. Die Aktion "LIES!" habe er nur einmalig beziehungsweise für die Dauer von zwei Monaten beziehungsweise fünf bis sechs Mal unterstützt. An der Aktion "We love Mohammed" habe er sich niemals beteiligt. Über Gespräche und Kontakte mit den in der Abschiebungsanordnung bezeichneten Personen sei er in die salafistische Szene hineingeraten. Zu der Person des Bernhard Falk habe es nur einen einmaligen Kontakt gegeben, der zudem nicht von ihm ausgegangen sei und in dessen Rahmen er diesen um die Benennung eines geeigneten Rechtsanwalts gebeten habe. In diese Zeit sei auch die Äußerung "Wer den Propheten beleidigt, muss getötet werden" einzuordnen. Diese stamme nicht von ihm, sondern sei der Titel eines Vortrages. Er habe bekundet, dass die betreffende Aussage falsch sei. Ihm sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei dem Tauhid-Finger um ein Symbol für den islamischen Monotheismus handle. Von radikalen salafistischen Kräften habe er sich abgegrenzt; von dem Terrorismus distanziere er sich; die Terrororganisation IS lehne er ab. Ein Foto, welches ihn gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern mit einer Langwaffe seines Großvaters zeige, sei ein Familienfoto. Nur ein Teil der abgehörten Telefonate sei in das Verfahren eingeführt worden. Kommunikationen, die er vor der Polizei habe verheimlichen wollen, habe er ohnehin über andere Dienste geführt. Die Befürchtung seiner Eltern, er habe im Dezember 2017 beabsichtigt, nach Syrien zu reisen, sei unbegründet gewesen. Mit der Behauptung, er werde "zum Jihad gehen", habe er lediglich seine Mutter provozieren wollen. Er sei noch nie in Syrien gewesen. Der in Telefonaten verwendete Begriff "Honig" habe als Umschreibung seines seinerzeit regelmäßigen Besuchs bei Prostituierten beziehungsweise dazu gedient, die Polizei zu verwirren. Der Umstand, dass er mit einem One-Way-Ticket in die Türkei habe fliegen wollen, rechtfertige nicht die Annahme, er habe sich seinerzeit nach Syrien begeben wollen. Auch bei einem Türkei-Aufenthalt im Jahr 2016 habe er sein Rückflugticket in der Türkei erworben. Sein Ankunftsort N. liege mehr als 550 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Mit dem bei dem Ausreiseversuch im Dezember 2017 mitgeführten Bargeld habe er seinen Unterhalt bestreiten, Geschenke für seine Familienmitglieder kaufen, Unterkünfte bezahlen, das Rückflugticket erwerben und sich gegebenenfalls von der Einziehung zum Militärdienst freikaufen wollen. Seiner Einordnung als radikaler Salafist widerstreite auch, dass er einen Hund halte, der ihm äußerst wichtig sei. Er sei im Bundesgebiet in das Leben seiner Familie integriert. Seine Eltern beabsichtigten nicht, ihr Hausgrundstück zu verkaufen, um in die Türkei zurückzukehren. Er habe sich nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in Kooperation mit der Arbeitsverwaltung um eine Weiterbildung zum LKW-Fahrer bemüht. Zudem gebe er Sportunterricht für Jugendliche. In der Abschiebungshaft führe er sich vorbildlich. Aufgrund seines beanstandungsfreien Verhaltens seien ihm Vergünstigungen zugestanden worden. Die Türkei kenne er allein aus Urlaubsreisen und Besuchsaufenthalten bei seinen Verwandten.
Rz. 6
Der Kläger beantragt,
die Verfügung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 2. November 2018 aufzuheben.
Rz. 7
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Rz. 8
Er verteidigt die angegriffene Verfügung.
Rz. 9
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich nicht an dem Verfahren.
Rz. 10
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beteiligten eine Liste mit Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand Januar 2019) zur Kenntnis gebracht.
Rz. 11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte dieses und des Verfahrens BVerwG 1 VR 12.18, den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten, die Ausländerakte, die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft (im Folgenden: Ermittlungsakte) und die Gefangenenpersonalakte.
Entscheidungsgründe
Rz. 12
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Verfügung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 2. November 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rz. 13
1. Alleiniger Gegenstand des von dem Bundesverwaltungsgericht zu entscheidenden Rechtsstreits ist die in Ziffer I der Verfügung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 2. November 2018 erlassene Abschiebungsanordnung. Mit dieser hat die Erlassbehörde zugleich konkludent ihre Verfügung vom 24. Oktober 2018 mit Wirkung ex nunc aufgehoben. Der Regelungsgehalt eines Verwaltungsakts ist durch Auslegung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung des Empfängerhorizontes in entsprechender Anwendung der §§ 133 und 157 BGB zu ermitteln (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C 46.12 - BVerwGE 147, 81 Rn. 27 m.w.N.). Danach stellte sich die Ordnungsverfügung vom 2. November 2018 aus der Perspektive ihres Adressaten nicht als bloße Wiederholung eines bereits erlassenen Verwaltungsakts ohne erneute Sachentscheidung, sondern ob des neu gewählten Erlassdatums als eigenständiger neuer Verwaltungsakt dar, der die zuvor ohne Briefkopf erlassene Verfügung vom 24. Oktober 2018 mit Wirkung für die Zukunft ersetzen sollte. Hierfür streitet entscheidend, dass der Erlass der zweiten Verfügung dazu bestimmt war, das Risiko einer etwaigen Nichtigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr. 1 des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (HVwVfG) in der Fassung vom 15. Januar 2010 (GVBl. I S. 18), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 12. September 2018 (GVBl. I S. 570), auszuschließen und zugleich zu vermeiden, der mit Beschluss des Amtsgerichts vom 24. Oktober 2018 nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147), angeordneten Haft zur Sicherung der Abschiebung des Klägers nachträglich die Grundlage zu entziehen.
Rz. 14
Der in Ziffer II der Ordnungsverfügung vom 2. November 2018 getroffenen Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1, 2, 3, 5 und 7 AufenthG, die der Abschiebung des Klägers in die Türkei entgegenstehen könnten, nicht vorlägen, kommt keine eigenständige Regelungswirkung bei. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Feststellung ist Teil der gerichtlichen Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung.
Rz. 15
Die sich aus § 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO ergebende erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts über Streitigkeiten gegen Abschiebungsanordnungen nach § 58a AufenthG und deren Vollziehung erstreckt sich nicht auf das von dem Beklagten zusammen mit der Abschiebungsanordnung verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot (vgl. insoweit den Trennungs- und Verweisungsbeschluss des Senats vom 6. Februar 2019 - 1 A 1.19 ≪1 A 3.18≫ -).
Rz. 16
2. Maßgeblich für die gerichtliche Beurteilung einer Abschiebungsanordnung ist in Fällen, in denen der Ausländer weder abgeschoben wurde noch freiwillig ausgereist ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des nach § 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO in erster und letzter Instanz zuständigen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 14).
Rz. 17
Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen.
Rz. 18
2.1 Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 16; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 20 ff. und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - NVwZ 2017, 1530 Rn. 18).
Rz. 19
Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ANBA 1981 S. 4) - ARB 1/80 - steht der Anwendbarkeit von § 58a AufenthG unabhängig davon, ob der Kläger sich (noch) auf den Schutz dieser Regelung berufen kann, nicht entgegen. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Selbst bei unterstellter Anwendbarkeit dieser Norm auf den Kläger und der Annahme, dass es sich bei § 58a AufenthG um eine "neue Beschränkung" im Sinne von Art. 13 ARB 1/80 handelt, wäre eine daraus resultierende Verschlechterung der rechtlichen Situation des Klägers jedenfalls gerechtfertigt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die Schaffung einer "neuen Beschränkung" nämlich dann nicht verboten, wenn diese zu den in Art. 14 ARB 1/80 aufgeführten Beschränkungen gehört oder "durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet [ist], die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und [...] nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus[geht]" (EuGH, Urteil vom 29. März 2017 - C-652/15 [ECLI:EU:C:2017:239] - Rn. 33). Dies ist vorliegend der Fall. § 58a AufenthG dient dem Schutz höchster Schutzgüter, ist geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen, und geht nicht über das notwendige Maß hinaus. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 58a AufenthG mit der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl. 1972 II S. 385), da eine Aufenthaltsbeendigung nach § 58a AufenthG durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil vom 21. August 2018 - 1 A 16.17 - juris Rn. 18 m.w.N.).
Rz. 20
2.2 Die Abschiebungsanordnung vom 2. November 2018 ist formell rechtmäßig. Der formellen Rechtmäßigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass der Kläger vor Erlass der Verfügung nicht angehört worden ist.
Rz. 21
a) Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob eine Anhörung des Klägers nach nationalem Verfahrensrecht entbehrlich war, da eine solche jedenfalls nachgeholt worden ist.
Rz. 22
§ 58a AufenthG schreibt eine Anhörung weder ausdrücklich vor, noch verbietet er eine solche, sodass § 28 HVwVfG anzuwenden ist. Nach dieser Regelung ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Abs. 1). Nach § 28 Abs. 2 HVwVfG kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist, insbesondere wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint (Nr. 1).
Rz. 23
Einer abschließenden Würdigung des Umstandes, dass sich der Kläger im Zeitpunkt des Ergehens der hier angegriffenen Verfügung vom 2. November 2018 bereits auf richterliche Anordnung in Abschiebungshaft befand, im Lichte des § 28 Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG bedarf es hier nicht, da ein nach dieser Norm nicht gerechtfertigtes Unterbleiben einer Anhörung des Klägers zwischenzeitlich gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 HVwVfG geheilt worden wäre. Danach ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 44 HVwVfG nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Eine entsprechende Heilung setzt voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene Gelegenheit hat, seine Einwendungen vorzubringen, und die Behörde diese nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Von Letzterem ist auszugehen, wenn sich die Behörde nicht darauf beschränkt, die einmal getroffene Sachentscheidung zu verteidigen, sondern das Vorbringen des Betroffenen erkennbar zum Anlass nimmt, die Entscheidung kritisch zu überdenken (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 7 C 5.14 - BVerwGE 153, 367 Rn. 17 m.w.N.). Gemessen daran ist eine funktionsgerechte Anhörung hier nachgeholt und ein etwaiger Anhörungsmangel dadurch geheilt worden. Der Beklagte hat dem Kläger mit Schreiben vom 23. Januar 2019 Gelegenheit gegeben, zu den für die Entscheidung über die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erheblichen Tatsachen und rechtlichen Wertungen Stellung zu nehmen. Diese Gelegenheit hat der Kläger innerhalb der ihm gesetzten Frist nicht wahrgenommen. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich erklärt, auch in Ansehung des bisherigen Vortrages des Klägers und nach neuerlicher Prüfung der Sach- und Rechtslage an der Abschiebungsanordnung und den diese stützenden Gründen festzuhalten.
Rz. 24
b) Selbst wenn man unterstellt, dass die Abschiebungsanordnung eine dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) unterfallende Rückkehrentscheidung darstellt, genügt die Nachholung der Anhörung auch den sich hieraus dann ergebenden unionsrechtlichen Vorgaben.
Rz. 25
Die Richtlinie 2008/115/EG enthält selbst nicht ausdrücklich ein Anhörungsgebot vor Erlass einer Rückkehrentscheidung. Dieses gilt aber als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. näher EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13 [ECLI:EU:C:2014:2336], Mukarubega - Rn. 40 bis 45). Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen. Die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, soll der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind Grundrechte wie das Recht auf Beachtung der Verteidigungsrechte aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Boudjlida - Rn. 43). Dabei ist auch das Ziel der Richtlinie, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in ihr Herkunftsland, zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 - Rn. 45).
Rz. 26
Sind - wie im Ausgangsverfahren - weder die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte von Drittstaatsangehörigen zu gewährleisten ist, noch die Folgen der Missachtung dieser Rechte unionsrechtlich festgelegt, richten sich diese Bedingungen und Folgen nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 - Rn. 51 ff.).
Rz. 27
Gemessen daran wurde den Erfordernissen in Bezug auf die Äquivalenz und Effektivität durch die Ermöglichung der nachträglichen Wahrnehmung der Verteidigungsrechte bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens nach Maßgabe des § 45 Abs. 1 Nr. 3 HVwVfG entsprochen.
Rz. 28
2.3 Die Abschiebungsanordnung vom 2. November 2018 ist auch materiell nicht zu beanstanden. Sie ist gegenüber der Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr, die auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr zielt. Eine solche Gefahr geht von dem Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auf der Grundlage einer auf Tatsachen gestützten Prognose aus.
Rz. 29
a) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 ≪120 f.≫). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 21).
Rz. 30
Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt. Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist es nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 23).
Rz. 31
Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet, in den letzten Jahren zugenommen und sich seither rasch gewandelt haben. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Union im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3), dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) und Art. 3 der Richtlinie (EU) 2017/541 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates und zur Änderung des Beschlusses 2005/671/JI des Rates (ABl. L 88 S. 6) gewonnen werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 ≪129 f.≫). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und geeignet sind, die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 22). Die Bedrohungen sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt. Sie gefährden die Sicherheitsinteressen der Staatengemeinschaft. Die Nationalstaaten sind aufgerufen, terroristischen Gruppen, die Möglichkeit zu verwehren, Wurzeln zu schlagen und sichere Zufluchtsorte zu schaffen (UN-Sicherheitsrat, Resolution 2178 ≪2014≫ vom 24. September 2014, S/RES/2178 ≪2014≫ S. 1). Eine akute und zunehmende Bedrohung geht von terroristischen Kämpfern, mithin von Personen aus, die in einen Staat reisen, der nicht der Staat der Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit ist, um terroristische Handlungen zu begehen, zu planen, vorzubereiten oder sich daran zu beteiligen oder Terroristen auszubilden oder sich zu Terroristen ausbilden zu lassen (UN-Sicherheitsrat, Resolution 2178 ≪2014≫ vom 24. September 2014, S/RES/2178 ≪2014≫ S. 2 und 5). Die Rückkehr terroristischer Kämpfer in Staaten ihrer Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit erhöht die Sicherheitsbedrohung weiter (Erwägungsgrund 4 Satz 3 der Richtlinie ≪EU≫ 2017/541). Die vorstehenden Ausführungen lassen deutlich werden, dass die Annahme einer terroristischen Gefahr eine unmittelbare räumliche Beziehung zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Bundesrepublik Deutschland nicht voraussetzt (so auch Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 58a AufenthG Rn. 23; a.A. Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier ≪Hrsg.≫, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand Januar 2019, § 58a AufenthG Rn. 19). Terroristische Bedrohungen gefährden die Sicherheitsinteressen der Staatengemeinschaft und nicht allein desjenigen Staates, in dessen Gebiet sie nach dem Willen der terroristischen Kämpfer Platz greifen sollen.
Rz. 32
Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zweck der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO). Ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 24).
Rz. 33
Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen vom 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mithilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine besondere Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 25).
Rz. 34
Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 26). Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten Jihad als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - juris Rn. 18). Gefahrerhöhende Umstände können sich auch aus einem freiwilligen Aufenthalt im Ausland im unmittelbaren Umfeld jihadistischer oder sonstiger terroristischer oder extremistischer Vereinigungen ergeben (BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2018 - 1 VR 3.18 - juris Rn. 21). Eine hinreichend konkretisierte terroristische Gefahr kann überdies anzunehmen sein, wenn sich eine solche Person mit dem Ziel, am militärischen Jihad teilzunehmen und/oder sich in Fertigkeiten unterweisen zu lassen, die der Begehung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten dienen, ins Ausland zu begeben sucht.
Rz. 35
Für eine entsprechende "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen beziehungsweise Spekulationen nicht ausreichen. Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 27).
Rz. 36
Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. Als ein derartiger Umstand ist die vollendete oder versuchte Ausreise einer salafistisch radikalisierten Person anzusehen, die mit dem Ziel erfolgt, an dem militärischen oder terroristischen "Kampf zur Verteidigung des Islams" teilzunehmen und/oder sich für terroristische Zwecke ausbilden zu lassen, um sodann als "Märtyrer" ins Paradies einzuziehen. Ist eine solche Reise für diese oder andere terroristische Zwecke bestimmt, so ist es für die Annahme jedenfalls einer terroristischen Gefahr grundsätzlich unerheblich, dass diese Person noch keine konkreten Vorstellungen von dem Ort der Begehung terroristischer Straftaten entwickelt hat.
Rz. 37
In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalles - in der Gesamtschau schon daraus ergeben, dass ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer sich in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 28). Erst recht kann ein solches beachtliches Eintrittsrisiko anzunehmen sein, wenn die Radikalisierung eines solchen Ausländers ein Stadium erreicht, in dem sich dieser nach reiflicher Abwägung verpflichtet fühlt, seine Religion mit dem Mittel des gewaltsamen Kampfes zu verteidigen. Dies gilt auch, wenn dieser Kampf zunächst im Ausland erfolgen soll.
Rz. 38
Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt ihr Handeln nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 29).
Rz. 39
b) In Anwendung dieser Grundsätze ist aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose davon auszugehen, dass von dem Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein beachtliches Risiko einer terroristischen Gefahr im Sinne des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgeht, auch wenn den Sicherheitsbehörden noch kein konkreter Plan zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden ist. Es besteht ein zeitlich und sachlich beachtliches Risiko, dass der Kläger, im Falle seiner Entlassung aus dem öffentlichen Gewahrsam neuerlich versuchen wird, seine religiös motivierten Ziele durch gewaltsame oder terroristische Handlungen im syrischen Konfliktgebiet durchzusetzen.
Rz. 40
Der Kläger ist der radikal-salafistischen Szene in Deutschland zuzurechnen (aa). Zum Ende des Jahres 2017 kulminierte die von ihm infolge seiner zunehmend radikal-salafistischen Grundhaltung ausgehende Bedrohungssituation in dem Versuch, sich im Ausland einer Terrormiliz anzuschließen und sich in der Herstellung von oder im Umgang mit inkriminierten Gegenständen oder in sonstigen Fertigkeiten, die der Begehung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten dienen, unterweisen zu lassen (bb). Die insoweit hinreichend konkretisierte terroristische Gefahr wird auch nicht durch sonstige Umstände relativiert (cc).
Rz. 41
aa) Die Zugehörigkeit des Klägers zu dem radikal-salafistischen Milieu im Bundesgebiet belegen insbesondere seine nach außen bekundete Einstellung (1), seine Teilnahme an Aktionen und Veranstaltungen (2), die von ihm gepflegten Kontakte (3) sowie die bei ihm aufgefundenen Gegenstände und Dokumente (4).
Rz. 42
(1) Der Kläger hat in den zurückliegenden Jahren eine radikal-salafistische Einstellung angenommen.
Rz. 43
Er bekennt sich offen zur Scharia (Bl. 1343 der Ermittlungsakte) und bekundet, als Muslim glaube er "an Gottes Gesetz und nicht" an "von Menschen gemachte Gesetze" (Bl. 116 der Ermittlungsakte). Über sein Facebook-Profil appellierte er an andere, sich nicht "von Menschen gemachten Gesetzen" zu beugen (Blatt 18 der Ermittlungsakte). Desgleichen gab er im Einklang mit dem salafistischen Islamverständnis zu verstehen, dass er als Muslim nichts von Demokraten halte (Bl. 418, 450 und 534 der Ermittlungsakte).
Rz. 44
Seiner salafistischen Prägung hat er in diversen Äußerungen Ausdruck verliehen. Gegenüber seinem Freund P. W. bekundete er, "Hidschra machen" und "nie wieder komm[en]" zu wollen (Bl. 255 der Ermittlungsakte). Aus der "Hidschra" (wörtlich übersetzt: Migration/Auswanderung) wurde von der Terrororganisation "Islamischer Staat" die Verpflichtung abgeleitet, als Jihadist speziell ins "IS"-Kalifat zu reisen (https://de.wikipedia.org/wiki/Hidschra m.w.N.; https://de.qantara.de/inhalt/dschihadismus-wie-der-islamische-staat-den-sinn-der-hidschra-pervertiert). Seinen Eltern gegenüber zitierte er den "heiligen Propheten" mit den Worten, "[d]er Urlaub meiner Glaubensgemeinschaft ist der Jihad" (Bl. 248 der Ermittlungsakte). Seiner Mutter eröffnete er, bereit zu sein, in den Jihad zu ziehen (Bl. 584 und 587 der Ermittlungsakte). Aufgrund dieser Äußerungen ging sie davon aus, er wolle "in das Paradies, indem er Märtyrer [werde]" (Bl. 344 der Ermittlungsakte). Aussagen wie "Wir lieben den Tod, so wie die das Leben" (Bl. 421 und 537 der Ermittlungsakte) unterstreichen die Realitätsnähe dieses Befundes. Sie offenbaren, wie sehr sich der Kläger dem salafistischen Islamverständnis verschrieben hat, dem zufolge diesseitige Werte und profane Erfolge wertlos sind, da sie nicht zum Erreichen des Paradieses beizutragen vermöchten (vgl. insoweit auch die islamwissenschaftliche Stellungnahme des polizeilichen Staatsschutzes vom 29. September 2017, Bl. 453 der Ermittlungsakte). Seinem Freund P. W. gegenüber rezitierte der Kläger den Koran-Vers "Ich bin mit denen als Märtyrer, egal was kommt" (Bl. 321, 323 und 715 der Ermittlungsakte). Die sich darin widerspiegelnde Bereitschaft, den Märtyrertod zu erleiden, klingt auch in der Äußerung an, er habe aufgrund von Träumen das Gefühl, dass er bald sterben werde, und hoffe, dass er entweder auf dem Weg zur Moschee, bei einem Gebet oder woanders sterben werde (Bl. 312 und 718 der Ermittlungsakte). Dass er innere Vorbehalte gegenüber dem Märtyrertod nicht kennt, belegt auch der wohl scherzhaft geäußerte Satz "Machen wir Istis[hhad] in Frankfurt." (Istishhad = Märtyrertod) (Bl. 341 der Ermittlungsakte). Unter anderem die Legitimation jihadistischer Gewalt ist Gegenstand der Sure 8 ("al-Anfal"/"die Beute") des Korans, die der Kläger auswendig zu lernen beabsichtigte (Bl. 418 und 450 der Ermittlungsakte). In einem Telefonat mit einem Bekannten singt er "Bedirler uhudlar örnektir bana", einen religiösen Sprechgesang, der unter anderem die Verse "Ich soll für den Weg Gottes sterben, Mutter!", "Mein Blut soll fließen..., Mutter." und "Es werden auf jeden Fall die Köpfe der Ungläubigen abgeschlagen." beinhaltet (Bl. 447 f. der Ermittlungsakte). Eine islamwissenschaftliche Stellungnahme des polizeilichen Staatsschutzes weist dieses Lied als projihadistisch aus (Bl. 918 der Ermittlungsakte). Während die Märtyrer im Jenseits paradiesische Belohnungen erwarteten, seien den Ungläubigen die Köpfe abzuschlagen, bevor sie zur Hölle führen (Bl. 449 der Ermittlungsakte).
Rz. 45
(2) Seine Nähe zum radikalen Salafismus dokumentierte der Kläger zudem durch die Teilnahme an verschiedenen Aktionen und Versammlungen.
Rz. 46
In I. nahm er wiederholt an der maßgeblich von dem salafistischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie unter der Bezeichnung "LIES!" organisierten Koran-Verteilaktion teil, die erst durch das in Bestandskraft erwachsene Verbot der salafistischen Vereinigung "Die wahre Religion" alias "LIES!Stiftung"/"Stiftung LIES" einschließlich ihrer Teilorganisationen durch das Bundesministerium des Innern mit Verfügung vom 25. Oktober 2016 beendet wurde (Bl. 22 der Ermittlungsakte). Dabei hat er auch Ibrahim Abou-Nagie "erlebt" (Bl. 423 der Ermittlungsakte). Die Richtigkeit der Darstellung, er habe nur vier beziehungsweise fünf bis sechs Mal, verteilt auf einen Zeitraum von zwei Monaten, bei dieser Aktion geholfen (S. 1 des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018), unterliegt zumindest Zweifeln und ändert jedenfalls nichts an der Indizwirkung der zugestandenen Aktivitäten. Der Kläger wurde als vielfacher Teilnehmer an der Aktion identifiziert (Bl. 22 der Ermittlungsakte). Bei seiner Vernehmung am 28. Dezember 2016 wusste er nicht, wie häufig er teilgenommen hat (Bl. 123 der Ermittlungsakte); im Strafverfahren hat er dann eine achtmalige Mitwirkung angegeben (Bl. 1339 der Ermittlungsakte). Die auf die Frage, ob die Verteilung immer durch die gleichen Personen durchgeführt worden sei, getätigte weitere Äußerung, "von einer Woche zur dritten/vierten Woche [sei] es mal gleich [gewesen] und dann [sei] jemand anderes dazu[gekommen]" (Bl. 123 der Ermittlungsakte), deutet ebenfalls nicht darauf hin, dass sich das Engagement des Klägers auf vier Einsätze beschränkte. Der Kläger hatte Kenntnis davon, dass diverse Teilnehmer der LIES!-Aktion "nach Syrien gegangen" sind (Bl. 593 und 688 der Ermittlungsakte).
Rz. 47
Des Weiteren besuchte er eigenen Angaben zufolge im Jahr 2016 in K. eine Veranstaltung des bundesweit bekannten salafistischen "Predigers" Pierre Vogel (Abu Hamza), der als eine der einflussreichsten Personen der Konvertitenszene gilt (Bl. 101 f., 112 der Ermittlungsakte). Seine Sympathie bekundete er auch für den ebenfalls zum Islam konvertierten salafistischen "Prediger" Sven Lau (Abu Adam), der wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung im Jahr 2017 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Zugleich äußerte er die Absicht, "zu [diesem zu] gehen" und "dort einen Antrag [zu] stellen" (Bl. 332 der Ermittlungsakte).
Rz. 48
Dass der Kläger weitere Veranstaltungen besucht hat, legen die Worte seiner Mutter nahe, die in einem Gespräch mit seinem Vater am 6. Mai 2017 bekundete, "[d]er" - gemeint ist der Kläger - "soll[e] nicht zu diesen Versammlungen [gehen]" (Bl. 343 der Ermittlungsakte).
Rz. 49
(3) Durch sein salafistisches Engagement zog der Kläger die Aufmerksamkeit des Konvertiten Bernhard Falk (= Bernhard Uzun, Muntasir bi-Ilah) auf sich, einer in der salafistischen und islamistischen Szene bundesweit bekannten Größe, die, so der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf im September 2014, "Gefangenenhilfe" für terrorverdächtige Islamisten betreibt (https://www.ruhrbarone.de/wo-terrorverdachtige-islamisten-hilfe-finden/89997#more-89997, Bl. 212 der Ermittlungsakte). Einer gelöschten Konversation in Facebook ist zu entnehmen, dass der Kläger dem Falk auf dessen "Möge ALLAH dich beschützen" mit einem "Möge Allah dich im Jannah Firdaus eintreten lassen!" den Zugang zu dem höchsten und besten Platz im Paradies wünschte (Bl. 143 der Ermittlungsakte). Dass es sich hierbei um eine möglicherweise nur kurzzeitige Kommunikation gehandelt haben mag, ändert nichts an dem Befund, dass dem Kläger aufgrund seines Engagements für die salafistische Sache in der Szene Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Rz. 50
Eine enge Lehrer-Schüler-Beziehung unterhielt der Kläger zu seinem Koranlehrer M. N. Dieser bezeichnete die Scharia als "[s]eine Lebensregel" (Bl. 1065 der Ermittlungsakte), für die es zu kämpfen gelte (Bl. 423 der Ermittlungsakte), und pries das salafistische Engagement von Pierre Vogel (Bl. 420 der Ermittlungsakte). Er bestärkte den Kläger, von dem er sagte, er sei "auf der Suche und sehr beeinflussbar" beziehungsweise "sehr belehrbar" (Bl. 1068 der Ermittlungsakte), mittelbar und subtil (vgl. Bl. 1069 der Ermittlungsakte) sowohl in dem Willen, für die Scharia zu kämpfen (Bl. 423 der Ermittlungsakte), als auch in dem Bestreben, in den militärischen Jihad zu ziehen (Bl. 383 der Ermittlungsakte). Dafür zeugen verschiedene zumindest mehrdeutige Bemerkungen wie "Jede[r] Tag ist Jihad, verstehst Du?" (Bl. 589 der Ermittlungsakte) oder "Guck mal Bruder, wir haben Trainingslager in Afghanistan, wir haben Trainingslager in Syrien, wir haben Trainingslager in Irak... verstehst Du? Wir haben Trainingslager in Philippinen, in Süd-Philippinen... weißt Du das?" (Bl. 420 der Ermittlungsakte). In der Erkenntnis, dass er einen starken Einfluss auf den Kläger ausübte (Bl. 983 der Ermittlungsakte), propagierte er gegenüber diesem, "Wir terrorisieren euren Kufr" (= Unglauben), eure Schwulen, eure Lesben, eure pornographische Gesellschaft, eure ekelhaften und gelogenen Regeln, weißt Du. Ja, das terrorisieren wir!" (Bl. 423 der Ermittlungsakte). Der Kläger erwiderte, "Wir sind nicht umsonst hier Bruder, in diesem Land, denn es gibt überall 'Dschundullah' (= Soldaten Gottes) und jeder Dschundullah hat seine Aufgabe, der Eine so, der Andere so" (Bl. 423 der Ermittlungsakte), und äußerte, in der G.-Moschee könne er nicht so handeln wie gewünscht, da die Verantwortlichen für diesen Fall ihm gegenüber ein Moschee-Verbot aussprächen und ihm Radikalität vorwürfen (Bl. 424 und 540 der Ermittlungsakte).
Rz. 51
Der Kläger nahm zudem wahr, dass sich auch sein Freund P.W., ein syrischer Staatsangehöriger, dem Jihad zugewandt hatte. Im Zusammenhang mit einer Reise, die sein Freund nach Georgien in Gebiete unweit der Grenze der Türkei unternommen hatte, hielt der Kläger Dritte an, diese Reise in Befragungen durch die Polizei als Urlaubsreise oder den Besuch von Freunden zu deklarieren (Bl. 515 der Ermittlungsakte). Tatsächlich hatte ihn sein Koranlehrer darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Reise seines Freundes dazu gedient habe, "die Türkei-Grenze [zu] probieren/[zu] testen" (Bl. 519 der Ermittlungsakte) beziehungsweise "einen Weg [zu] such[en], um nach Syrien zu kommen" (Bl. 1074 der Ermittlungsakte). Die Einlassung des P.W., seine Reise habe darauf abgezielt, mit einem Syrer eine Vereinbarung über den Import von Honig und Bekleidung zu treffen, ist schon deshalb nicht glaubhaft (Bl. 1215 der Ermittlungsakte), weil nicht erkennbar ist, weshalb es für diesen Fall der ihm seitens des Klägers angeratenen Datenlöschungen bedurft hätte (Bl. 517 der Ermittlungsakte).
Rz. 52
(4) Weitere - für die Gefahrenprognose relevante - Erkenntnisse ergeben sich aus den bei dem Kläger sichergestellten Gegenständen und Dokumenten.
Rz. 53
Der Kläger hat eine grundsätzliche Offenheit im Umgang mit Waffen. Aus abgehörten Telefonaten und der Durchsuchung der von ihm genutzten Räumlichkeiten wurde bekannt, dass er eine Softair-Pistole des Typs Walter P99 (Bl. 763 und 958 der Ermittlungsakte) besaß, die er nach eigenen Angaben für 20 € bei dem Portal amazon erworben und mit der er seinem Vorbringen zufolge bereits geschossen hatte (Bl. 303, 325, 585, 595 und 1341 f. der Ermittlungsakte; vgl. aber auch Bl. 806 der Ermittlungsakte). In dem von ihm in seinem Elternhaus bewohnten Zimmer wurde des Weiteren ein Foto aufgefunden, das ihn zeigt, wie er eine Langwaffe auf ein unbestimmbares Ziel richtet (Bl. 59, 91 und 177 f. der Ermittlungsakte). Selbst wenn es sich hierbei - so die Einlassung des Klägers im polizeilichen Ermittlungsverfahren (Bl. 196 der Ermittlungsakte) - nur um eine Softair-Waffe gehandelt hätte, was seitens der Ermittlungsbehörden nicht bestätigt werden konnte (Bl. 178 der Ermittlungsakte), ist die in seiner Vernehmung am 28. Dezember 2016 getätigte Äußerung, es sei "[et]was Gruseliges", "eine Waffe in der Hand zu halten und jemanden zu erschießen" (Bl. 122 der Ermittlungsakte), als Schutzbehauptung zu würdigen, da er im Rahmen seiner verantwortlichen Vernehmung vom 19. Dezember 2017 und bestätigend in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angab, als Kind und im Urlaub mit einem Jagdgewehr auf Vögel geschossen zu haben, und sich ohne Skrupel als "sehr treffsicher" rühmte (Bl. 693 der Ermittlungsakte) sowie in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht bekundete, er habe es "cool" gefunden, sich mit der Waffe ablichten zu lassen (Bl. 1342 der Ermittlungsakte).
Rz. 54
Der Kläger beherrscht als Kampfsportler zudem Techniken, andere Personen unschädlich zu machen. Neben weiteren Kampfsportarten betreibt er - unter anderem in Wettkämpfen - Mixed Martial Arts, eine Vollkontakt-Kampfsportart (Bl. 390 der Ermittlungsakte).
Rz. 55
Bezüge zu islamistisch legitimierter Gewalt weisen auch bei dem Kläger aufgefundene Bücher auf. In ihnen wird etwa der islamrechtliche Hintergrund des Jihads erläutert und das jihadistische Engagement eines Jihad-Führers beschrieben (Bl. 142 der Ermittlungsakte).
Rz. 56
In einer bei der Durchsuchung des von dem Kläger im Elternhaus bewohnten Zimmers vorgefundenen Tasche fand sich ein handschriftlich verfasster Brief, der die Aussage "Der Anfang der Angelegenheit ist der Islam, seine Säule ist das Gebet. Und sein Gipfel ist der Jihad" enthielt (Bl. 59 der Ermittlungsakte).
Rz. 57
Wie der Kläger selbst einräumt, waren auf seinem Laptop Kampfvideos der Terrororganisation "Islamischer Staat" gespeichert. Seine Einlassung, er zeige diese in seinem Umfeld, um die Brutalität des "IS" vorzuführen (Bl. 102 der Ermittlungsakte), widerstreitet der Annahme seiner Einbindung in die radikal-salafistische Szene und dessen Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zur Verteidigung des Islams nicht.
Rz. 58
Auf seinem Mobiltelefon wurden diverse Dateien aufgefunden, die einen Bezug zu der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU), einer militanten islamistischen Organisation aus Usbekistan, aufweisen. In jihadistischen Propagandavideos werden unter anderem Gewalt religiös legitimiert, die Pflicht, in den Jihad zu ziehen, unterstrichen und jihadistische Märtyrer glorifiziert. In islamwissenschaftlichen Stellungnahmen des polizeilichen Staatsschutzes werden die Darstellungen - vom Kläger unwidersprochen - als geeignet angesehen, die Grundhaltung bezüglich religiös motivierter Gewalt zu manipulieren, eine projihadistische Einstellung anzuregen oder zu begünstigen (Bl. 160 ff., 1050, 1098, 1241 ff., 1404 ff. und 1476 ff. der Ermittlungsakte). Dass ein erheblicher Teil dieser Dateien bereits aus der Zeit bis zum Jahr 2012 datiert, nimmt den in ihnen vermittelten Aussagen nichts an ihrer Aktualität.
Rz. 59
Unter seinem Facebook-Profil veröffentlichte der Kläger einen Beitrag mit der Überschrift "Tod der Pro NRW". Dieser Überschrift fügte er die einem D. D. zugeschriebene Äußerung "Wer den Propheten beleidigt, ob Muslim oder Kafir, muss getötet werden", hinzu. Durch dieses Hinzufügen machte er sich die Äußerung konkludent zu eigen (Bl. 18 der Ermittlungsakte).
Rz. 60
Bei der Würdigung der Fundstücke und Äußerungen des Klägers kann nicht außer Betracht bleiben, dass diesem spätestens seit seiner Vernehmung als Beschuldigter am 28. Dezember 2016 positiv bekannt war, dass seine Kommunikation polizeilich überwacht wurde (vgl. nur Bl. 212, 216, 264 und 332 der Ermittlungsakte), und er seine diesbezügliche Kenntnis auch in verschiedener Weise in sein Verhalten hat einfließen lassen. So hat er vereinzelt Unterhaltungen geführt, die offensichtlich darauf gerichtet waren, mit den Sicherheitsbehörden "zu spielen" (Bl. 212 und 515 der Ermittlungsakte) oder diese zu provozieren (Bl. 213 der Ermittlungsakte). Der Großteil seiner Äußerungen vermittelt indes den Eindruck, dass es ihm ein tiefes inneres Bedürfnis war, seiner salafistischen Überzeugung Ausdruck zu verleihen.
Rz. 61
Angesichts seiner Einbindung in die radikal-salafistische Szene stellt sich die Darstellung des Klägers, ihm sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei dem sogenannten "Tauhid-Finger", mit dem er verschiedentlich abgebildet wird (Bl. 144, 173 und 203 der Ermittlungsakte), (jedenfalls auch) um ein Symbol für den islamischen Monotheismus handelt ("Es gibt keinen Gott außer Allah"), als gänzlich unglaubhaft dar. Der Umstand, dass er mit dieser Bekundung zugleich konkludent vermittelt, er wisse nicht, dass diese Geste in den zurückliegenden Jahren von Anhängern des politischen Islamismus und Jihadisten für Propagandazwecke verwendet wurde, stellt auch seine Glaubwürdigkeit infrage.
Rz. 62
bb) Das Verhalten des Klägers im zweiten bis vierten Quartal des Jahres 2017 lässt zur Überzeugung des Senats nur den Schluss zu, dass er konkret beabsichtigte, sich einer Terrormiliz anzuschließen und sich in der Herstellung von oder im Umgang mit inkriminierten Gegenständen oder in sonstigen Fertigkeiten, die der Begehung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten dienen, unterweisen zu lassen.
Rz. 63
Hierauf weist zunächst das starke Interesse hin, welches er an entsprechenden Kampfgruppen zeigte. So wies er etwa am 5. Juni 2017 seinen Bekannten P. W. konspirativ auf "Tahrirus Sam Özel Kuvvetler (= Komitee zur Befreiung der Levante), eine seinerzeit in Syrien aktive salafistisch-jihadistische Miliz, hin (Bl. 307 f. und 346 ff. der Ermittlungsakte). Am Folgetag fragte er seinen Freund, ob sich dieser das bei YouTube eingestellte Video dieser Kampfgruppe angesehen habe. Im gleichen Kontext bekundete er, er wolle "mit der zusammen sein" (Bl. 349 der Ermittlungsakte).
Rz. 64
Davon, dass der Kläger eine Ausreise nach Syrien plante, gingen seinerzeit auf der Grundlage abgehörter Telefongespräche auch seine Eltern aus. Ihre gegenteiligen Aussagen im Strafverfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat lassen eine starke Ausweich- und Entlastungstendenz erkennen, welche die Glaubhaftigkeit der jetzigen Bekundungen nachhaltig infrage stellt. Die Mutter des Klägers hatte noch am 6. Mai 2017 ihrem Ehemann gegenüber bekundet, er, der Kläger, habe sich "wieder verändert", sie "sollten ihn nicht aus den Augen [...] und nirgends hingehen lassen" (Bl. 343 f. der Ermittlungsakte). In einem am 3. Juni 2017 geführten Telefonat klagte sie ihm, dem Kläger, gegenüber, es wäre [viel] besser, wenn seine Reise nach Syrien nicht wäre, wenn er die Reise nach Syrien nicht im Kopf hätte (Bl. 247 und 546 der Ermittlungsakte). Wie ernst es diesem mit der Umsetzung seines Plans war, verdeutlicht auch, dass er sich von dessen Realisierung auch nicht durch die Klagen seiner Mutter, sie werde sterben, wenn er weg sei, werde wie eine lebende Tote leben (Bl. 344 und 545 der Ermittlungsakte), abhalten ließ. Am 25. November 2017 war sich seine Mutter nach einem neuerlichen Gespräch mit dem Kläger sicher, dass dieser "zum Jihad gehen" werde (Bl. 587 der Ermittlungsakte). Am 11. Dezember 2017 mutmaßte sie gegenüber ihrem Ehemann und ihrem Sohn V., dass der Kläger "wahrscheinlich wieder zu [der] gleichen Ortschaft gehen [werde]", wo er schon einmal gewesen sei; im Folgesatz äußerte sie, der Kläger habe ihr gesagt, er werde ihr "Honig aus Syrien schicken" (Bl. 1121 der Ermittlungsakte). Soweit die Mutter später in Vernehmungen äußerte, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn in den Jihad zu gehen beabsichtigte (vgl. aber auch Bl. 706 der Ermittlungsakte), änderte selbst ein diesbezügliches Nichtwissen nichts daran, dass sie - wie auch ihr Ehemann - zumindest erwartete, dass der Kläger beabsichtigte, von der Türkei aus nach Syrien weiterzureisen (vgl. nur Bl. 771 und 775 der Ermittlungsakte). Im Lichte dessen ist die nicht näher substantiierte Aussage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, man habe Angst gehabt, weil man mitbekommen habe, dass "ein Sohn einer anderen Person dort hingegangen" sei, in Bezug auf ihren Sohn habe man sich vor dessen Ausreiseversuch indes keine Sorgen gemacht, als gänzlich unglaubhaft zu würdigen. Dass der Vater des Klägers am 19. Dezember 2017 vorgab, der Vorhalt, sein Sohn wolle in den Jihad ziehen, überrasche ihn (Bl. 669 und 801 der Ermittlungsakte), und sodann äußerte, der Kläger gehe nicht "in den Jihad" (Bl. 802 der Ermittlungsakte), entspricht nicht nur in Anbetracht der zuvor geführten Gespräche nicht der Wahrheit, sondern spiegelte auch nicht dessen Erwartung wider (vgl. insoweit auch Bl. 982 f. der Ermittlungsakte). Gleiches gilt für die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bekräftigte Aussage, seine Frau und er hätten sich im Herbst 2017 keine Sorgen gemacht, dass der Kläger beabsichtigt habe, nach Syrien weiterzureisen, er selbst habe niemals das Gefühl gehabt, sein Sohn habe sich radikalisiert. Noch am 9. Dezember 2017 hatte er gegenüber seinem Sohn V. geäußert, "der Gedanke [des Klägers sei], dass er da als Märtyrer [sterbe], wenn er hingeh[e]" (Bl. 1122 der Ermittlungsakte). Der Kläger selbst verabschiedete sich von seinem Vater in einem mit diesem am 14. Dezember 2017, mithin vier Tage vor seiner geplanten Ausreise in die Türkei, geführten Telefonat mit den Worten "Wir sehen uns im Jenseits" (Bl. 759 und 1123 der Ermittlungsakte). Dass dieser diese Worte - seiner Aussage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zufolge - als Spaß aufgefasst haben will, ist geeignet, die Glaubwürdigkeit des Zeugen nachhaltig infrage zu stellen. Am 9. Dezember 2017 bekundete der Kläger gegenüber seinem Bruder V., "wie der Sohn von Bin Laden, der würde jetzt auch kämpfen" (Bl. 788 der Ermittlungsakte). Dieser Äußerung ist besonderes Gewicht beizumessen, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat eingeräumt hat, die Thematik mit seinem Bruder offen erörtert zu haben. Seine am 9. Dezember 2017 getätigten Äußerungen stehen in einem auch auf Vorhalt unaufgelösten Widerspruch zu der in der mündlichen Verhandlung bekräftigten Behauptung, er habe nicht nach Syrien gehen wollen. Im Lichte dieser Ausführungen können seine Einlassung in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht, warum habe er sich dem Jihad anschließen sollen, er habe doch im Bundesgebiet ein gutes Leben und einen Job (Bl. 1338 der Ermittlungsakte), ebenso wie die Darstellung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, er habe seine Mutter nur provozieren wollen, nur als Schutzbehauptungen gewürdigt werden.
Rz. 65
Die Deutung der von dem Kläger in einem Telefonat mit seinem Freund P. W. am 14. Dezember 2017 gesprochenen Sätze "da gibt’s einen Mann, der kennt ein Restaurante, ok? Diese Restaurante ist geheim, da kann nicht jeder hin, und wenn er dich dahin zum Essen bringt, dann musst du dem 500 Euro geben", "kostet 500 Euro, [d]as[s] der dich zum Restaurante bringt", "Alles zusammen 500. Aber dafür gibt’s gutes Essen.", "aber ich hab einen Freund gefragt, der hat gesagt, ja, das ist ein normaler Preis. Das ist ein guter Preis." (Bl. 658 f. der Ermittlungsakte), als Umschreibung für die Schleusung des Klägers in ein Ausbildungslager einer Miliz in Syrien (Bl. 1124 der Ermittlungsakte) ist im Lichte der vorstehenden Erkenntnisse zumindest plausibel. Eine dieser Deutung widerstreitende schlüssige Auflösung des verwendeten Codes ergibt sich nicht aus dem Vorbringen des Klägers. Während er auf eine sexuelle Verbindung zu einer Frau, mit der er sich vergnügt habe, verwiesen hat (Bl. 691 der Ermittlungsakte), war sein Freund P. W. im gleichen Zusammenhang bemüht, einen sportlichen Kontext herzustellen (Bl. 660 der Ermittlungsakte). Diese beiden "Verschlüsselungssachverhalte" sind nicht nachvollziehbar zusammenzuführen. Auf die Frage, was es mit dem Betrag von 500 € auf sich habe, der in beiden Kontexten Erwähnung fand, hat der Kläger nur dargelegt, dass es in dem einen Gespräch um ein Restaurant und in dem anderen um Training gegangen sei (Bl. 692 der Ermittlungsakte), ohne den Einsatz des Geldbetrages nachvollziehbar zu erläutern. Seine Einlassung, der Betrag sei für das Essen und das Training zu zahlen gewesen (Bl. 693 der Ermittlungsakte), steht in einem unaufgelösten Widerspruch zu seiner Behauptung, den Betrag erhalte derjenige, der ihn "zum Restaurante" bringe (Bl. 658 der Ermittlungsakte). Nachdem ihm sein Freund P. W., der in dem Telefonat erkennbar Anstoß an dem Preis von 500 € nahm, nur wenige Stunden später eröffnete, er habe nunmehr "alles klar gemacht", der Kläger "brauch[e] gar kein[en] Cent", bekundete dieser, er freue sich schon, "wenn [er] kämpfen d[ü]rf[e]" (Bl. 660 und 670 der Ermittlungsakte).
Rz. 66
Keine nachvollziehbare Erklärung ergibt sich auch für die in einem Gespräch am 11. Dezember 2017 getätigte Äußerung des Klägers, in einer Woche "Honig essen [zu] gehen" (Bl. 691 und 727 der Ermittlungsakte). Mag ein sexueller Kontext (Bl. 691 und 727 der Ermittlungsakte) im Gespräch mit seinem Freund P. W. noch vorstellbar sein, so ist ein solcher im Rahmen einer Konversation mit seiner Mutter schlechthin nicht nachzuvollziehen. Dem Erklärungsversuch widerstreitet zudem, dass auch der Vater des Klägers in einem Telefonat mit seinem Sohn V., der seinerzeit in der Türkei Militärdienst leistete und befürchtete, im Nordirak eingesetzt zu werden, diesem sagte, er könne sich demnächst mit dem Kläger in Mossul treffen, der dort "Honig essen" werde (Bl. 708 der Ermittlungsakte). Dass angesichts der Sorgen, die die Eltern seinerzeit plagten, diese Unterhaltung ein "Spaß" gewesen sei (Bl. 804 der Ermittlungsakte) oder - wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat behauptet - dazu gedient habe, der Polizei ein Rätsel aufzugeben, liegt ebenso fern wie die Glaubhaftigkeit der Einlassung des Klägers in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht, "es [gebe] kein Restaurant, kein[en] Honig, kein[en] Teller, es war nur[,] um die Polizei zu ärgern" (Bl. 1344 der Ermittlungsakte).
Rz. 67
Die Absicht des Klägers, sich in das Kampfgebiet in Syrien schleusen zu lassen, wird auch aus einem Gespräch offenbar, dass er am 9. Dezember 2017 mit seinem in der Türkei aufhältigen Bruder V. führte. Auf seine Frage, was dieser machen würde, wenn er "heute nach Syrien" ginge, und ob er ihn aufhielte (Bl. 753 der Ermittlungsakte), antwortete der Bruder, er hätte nichts dagegen, wenn der Kläger "für so was kämpfen" ginge, sofern er zuvor sorgsam recherchiere, "wohin er [gehe]" (Bl. 753 der Ermittlungsakte). Hierauf erwiderte der Kläger, "das [sei] ja das Problem, das habe [er] ja schon gemacht, [s]chon seit drei Jahren, [j]eden Tag". Diese Aussage offenbart, dass die Absicht des Klägers, "endlich" aktiv zu werden, auf gefestigter, reiflicher Überlegung gründet. Im Lichte dessen ist die Einlassung im Rahmen seiner verantwortlichen Vernehmung am 19. Dezember 2017, Syrien sei ein schwieriges Thema, "da sollte man in dieser Zeit nicht hingehen", als ausweichende Schutzbehauptung zu würdigen (Bl. 685 der Ermittlungsakte).
Rz. 68
Für die Absicht des Klägers, nicht lediglich in einen Urlaub aufzubrechen, streitet zudem, dass er seine Schwester unter Überlassung seiner Bankkarte gebeten hatte, wöchentlich einen Betrag in Höhe von 150 € an die in N. lebende Frau seines Bruders V. zu überweisen (Bl. 774 und 1008 der Ermittlungsakte). Eine solche Übergabe machte nur für den Fall Sinn, dass der Kläger - anders als von ihm bekundet - nicht vorhatte, seine Familie in N. zu besuchen und nach zweieinhalb Wochen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (Bl. 1126 der Ermittlungsakte). In gleicher Weise lassen die vorstehenden Erkenntnisse seine Einlassung, er habe in der Türkei gemeinsam mit einer Cousine Urlaub machen wollen (Bl. 684, 1336 und 1338 der Ermittlungsakte), als unglaubhaft erscheinen. Dies gilt umso mehr, als diese Kenntnis nicht einmal von dem Kommen des Klägers, geschweige denn von einem unmittelbar bevorstehenden gemeinsamen Urlaub hatte (Bl. 1347 der Ermittlungsakte). Der Einlassung in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht, er habe allein Urlaub machen, also die Familie besuchen wollen (Bl. 1335 f. der Ermittlungsakte), widerspricht, dass es gerade das Bestreben des Klägers war, seine in N. lebenden Verwandten zumindest überwiegend in Unkenntnis über seine Reise zu lassen (Bl. 785, 1006 und 1190 der Ermittlungsakte). Die Behauptung, er habe in Aussicht genommen (Bl. 1338 der Ermittlungsakte), eventuell auch mit seinem Bruder weiterzureisen, kann in Anbetracht des Vorstehenden nur ebenfalls als unglaubhaft gewürdigt werden. Dem widerspricht auch nicht der nicht näher substantiierte Vortrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, sein Großvater, sein Vater, seine Cousine und sein Bruder hätten von seiner Reise Kenntnis gehabt, da auch sein Bruder von seinen Reiseabsichten nur über seine Eltern Kenntnis erlangte. Die Darstellung, er habe zwei Nächte in einem Hotel in N. gebucht, um "sich spontan zu halten", niemandem zur Last fallen und nicht in einer ausgekühlten Wohnung schlafen zu müssen, ist allenfalls für die auf die Ankunft nachfolgende Nacht nachvollziehbar. Dass der Kläger Bargeld in Höhe von 2 700 € mit sich geführt hat, ist ebenfalls nicht nachvollziehbar erläutert. Die Angabe des Klägers, davon habe er während des Urlaubs seinen Unterhalt bestreiten, Geschenke für seine Familienmitglieder kaufen, seine Unterkünfte bezahlen und ein Rückflugticket erwerben wollen (vgl. auch Bl. 697, 1336, 1353 und 1360 der Ermittlungsakte), erklärt die Höhe des mitgeführten Betrages nur unzureichend. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er sich zudem dahin eingelassen, mit dem Betrag habe er sich im Bedarfsfall von der Einziehung zum Militärdienst freikaufen wollen. Diese Einlassung ist vor dem Hintergrund, dass dieser Verwendungszweck in seinen vorherigen Äußerungen nicht einmal ansatzweise erwähnt worden ist und es sich um "gesteigerten Vortrag" handelt, unglaubhaft. Als unrichtig erwies sich schließlich die Darstellung, er habe eine Eintrittskarte für ein nach seiner Rückkehr stattfindendes DFB-Pokalspiel zwischen den Vereinen Eintracht Frankfurt und FC Schalke 04 besessen (Bl. 1349 und 1415 f. der Ermittlungsakte).
Rz. 69
Der Einlassung, seine geplante Reise in die Türkei habe dem Besuch seiner Familienangehörigen und Urlaubszwecken gedient, widerstreitet zudem, dass der Kläger, der wusste, dass seine Telefonate abgehört wurden (Bl. 1337 und 1341 der Ermittlungsakte), stets sehr darauf bedacht war, seine Aktivitäten zu verschleiern. Bereits anlässlich eines Türkei-Aufenthalts in der Zeit vom 28. Oktober 2016 bis zum 28. Dezember 2016 ließ er eigenem Bekunden zufolge sowohl seine zuvor benutzte deutsche SIM-Karte als auch eine in der Türkei eingesetzte türkische SIM-Karte dort zurück (Bl. 127 der Ermittlungsakte). In Telefonaten mit Familienangehörigen und Bekannten mahnte er wiederholt, über bestimmte Themen, insbesondere solchen im Zusammenhang mit seiner für den 18. Dezember 2017 geplanten Ausreise, nicht am Telefon zu sprechen (Bl. 247, 593 und 657 der Ermittlungsakte), "schlau [zu] antworten" (Bl. 518 der Ermittlungsakte) und Mitteilungen, Kommunikationen beziehungsweise "alles" zu löschen (vgl. nur Bl. 347, 515 und 517 der Ermittlungsakte). In gleicher Weise sind in Bezug auf die Reise seines Freundes P. W. getätigte Äußerungen wie "Sie sollen aufpassen, was sie gegenüber der Polizei sagen. Sie sollen sagen, dass er [= P.] Urlaub gemacht habe und dort bei Freunden gewesen sei." (Bl. 515 der Ermittlungsakte) zu würdigen. Dass die Angst seiner Mutter, er werde in den Jihad ziehen, begründet war, sie die Lage richtig beurteilte (vgl. auch Bl. 705, 709, 790, 1006 der Ermittlungsakte) und - entgegen der auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat wiederholten Schutzbehauptung des Klägers (Bl. 668, 688 und 1348 der Ermittlungsakte) - keineswegs unter Paranoia litt, indiziert auch die durch den Kläger vorgenommene Löschung sämtlicher Kommunikationen auf WhatsApp und Telegram und seine Ankündigung, unter der Mobilrufnummer, mit der er bei diesen Diensten angemeldet war, nicht mehr erreichbar zu sein (Bl. 656 der Ermittlungsakte). Im Lichte der vorstehenden Erkenntnisse ist ein solches Verhalten selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Mobiltelefon seinem seinerzeitigen Arbeitgeber gehörte und dieser es ihm untersagt hatte, das Gerät mit auf Auslandsreisen zu nehmen (Bl. 687 der Ermittlungsakte), nicht nur ungewöhnlich, sondern mit der angeblichen Planung einer zweieinhalbwöchigen Urlaubsreise nicht plausibel zu erklären. Gleiches gilt für die Löschung der Navigationsdaten in dem von ihm genutzten Fahrzeug seines Arbeitgebers (vgl. Bl. 909 der Ermittlungsakte). Vorstehendes wird nicht relativiert durch eine vom Kläger geltend gemachte Selektivität der Auswahl der in das behördliche, polizeiliche, staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Verfahren eingeführten Protokolle der Überwachung seiner Kommunikationen. Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als Zeugin vernommene KOK’in X. hat überzeugend dargelegt, dass auch eine neuerliche Überprüfung der Protokolle der in den zwei Monaten vor der am 18. Dezember 2017 versuchten Ausreise geführten Telefonate keine Hinweise auf entlastende Erkenntnisse zu Tage gefördert hätte. Dem ist der Kläger nicht entgegengetreten.
Rz. 70
Dass sich der Kläger seinen Vollbart mit rasiertem Oberlippenbart (sogenannter "Salafistenbart") (Bl. 21 der Ermittlungsakte) im Vorfeld der für den 18. Dezember 2017 beabsichtigten Ausreise in die Türkei stutzte, diente auf den durch seinen Bruder eingeholten Rat einer türkischen Sicherheitskraft hin allein der Vermeidung einer Festnahme bei der Einreise in die Türkei wegen seines äußeren Erscheinungsbildes (Bl. 381 und 404 der Ermittlungsakte) und streitet nicht für einen Wandel seiner Anschauungen.
Rz. 71
cc) Umstände, welche das Risiko einer von dem Kläger ausgehenden terroristischen Gefahr verringern, sind ebenso wenig ersichtlich wie Anhaltspunkte für eine Deradikalisierung.
Rz. 72
In seiner verantwortlichen Vernehmung am 18. Dezember 2017 bekundete der Kläger gegenüber der vernehmenden Beamtin, diese brauche keine Ehrlichkeit von ihm zu erwarten (Bl. 694 der Ermittlungsakte). Er stehe zu seinen mit einer Zuwendung zu Scharia und Jihad einhergehenden religiösen Überzeugungen. Bei einem Besuch seines Vaters in der Justizvollzugsanstalt am 25. Januar 2018 äußerte er, er habe seinen Glauben zuvor aufgrund der Lebensumstände, insbesondere seiner täglichen Arbeit und seines regelmäßigen Trainings nicht richtig ausleben können, in der Haft lese er jeden Tag ein Buch über den Islam, über das er sich in Ruhe seine Gedanken machen könne (Bl. 980 der Ermittlungsakte). Dass er auf der Basis dieses Studiums zu gemäßigteren Erkenntnissen gelangt wäre, ist weder vorgetragen noch ersichtlich und wird auch nicht durch sein beanstandungsfreies Verhalten im Vollzug oder in der Abschiebungshaft indiziert. Vielmehr ist er in seinem Vortrag im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erkennbar bemüht, seine Radikalisierung zu verharmlosen. So führt er etwa aus, er habe seinen Koranlehrer "des Öfteren getroffen und auch zur Beantwortung religiöser Fragen angesprochen" (S. 2 des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018). Dass der Tauhid-Finger ein Symbol für den islamischen Monotheismus darstellt, sei ihm auch Ende des Jahres 2018 noch nicht bekannt gewesen (S. 4 des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018). Seine gegenüber seiner Mutter getätigte Äußerung, er werde zum Jihad gehen, habe er "so nicht gemeint", vielmehr habe er lediglich seine Mutter provozieren wollen (S. 5 des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018). Eine Radikalisierung habe er abgelehnt (S. 6 des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018). All dies weist nicht auf einen Wandel der radikal-salafistischen Überzeugungen des Klägers.
Rz. 73
Die von dem Kläger ausgehende terroristische Gefahr wird auch nicht durch dessen geltend gemachte Integration in das Familienleben gemindert, da es weder seinen Eltern noch seiner jüngeren Schwester gelungen ist, der Radikalisierung des Klägers etwas entgegenzusetzen. Dass der Kläger seine Eltern zur Einhaltung der Gebetsvorschriften mahnte (Bl. 431, 587 und 759 der Ermittlungsakte) und seine Schwester wegen des Tragens einer Hose, die deren Knöchel nicht verdeckte, als "Schlampe" titulierte (Bl. 687 f., 703 f. und 1123 der Ermittlungsakte), unterstreicht, wie wenig Gewicht der Kläger selbst engsten familiären Bindungen in Abwägung mit seinen salafistischen Überzeugungen beimaß. Seine Mutter äußerte seinem Vater gegenüber, der Kläger "ha[be] die Nase voll[,] mit [ihnen] zusammenzuleben" (Bl. 587 der Ermittlungsakte). Dass Freunde und eine in dem Bericht des Leiters der Justizvollzugsanstalt vom 2. November 2018 erwähnte Freundin hierzu einen Beitrag zu leisten vermöchten, ist nicht erkennbar, zumal sich der Kläger in der Vergangenheit im Wesentlichen mit Bekannten aus dem radikal-salafistischen Spektrum umgab.
Rz. 74
Auf eine gewisse Ambivalenz deutet das Vorbringen des Klägers, er setze sich bewusst über das islamische Verbot hinweg, einen Hund zu halten (S. 4 f. des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018). Indes bekundete er in einem am 3. Juni 2017 geführten Gespräch mit seinem Vater, er wolle seinen Hund nicht mehr (Bl. 246, 269 und 298 der Ermittlungsakte). In einem am 3. August 2017 geführten Telefonat mit seinem Koranlehrer gab er an, den Hund über das Portal Ebay-Kleinanzeigen zum Verschenken angeboten zu haben, der Portalanbieter habe jedoch das Inserat entfernt (Bl. 507 der Ermittlungsakte). Am 11. Oktober 2017 bekundete er, die Welpen seiner Hündin verkaufen zu wollen (Bl. 385 und 590 der Ermittlungsakte). Am 9. Dezember 2017 gab er an, das Tier bei seiner Ausreise zurücklassen zu wollen (Bl. 753 der Ermittlungsakte).
Rz. 75
Der Anzeige der beabsichtigten Ausreise bei der Polizei ist angesichts der dem Kläger bekannten polizeilichen Überwachungsmaßnahmen letztlich kein Gewicht beizumessen.
Rz. 76
dd) Die Gesamtwürdigung der den Kläger betreffenden Erkenntnisse, seiner Persönlichkeit, seines Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren Einstellung und der Verbindung zu anderen radikal-islamischen Personen ergibt, dass der Grad seiner Radikalisierung, der nicht zuletzt in dem gescheiterten Vorhaben, für terroristische Zwecke über die Türkei nach Syrien zu reisen, zum Ausdruck gelangt, konkret besorgen lässt, dass er weiterhin bereit ist, seiner islamistischen Überzeugung durch terroristische Aktivitäten Ausdruck zu verleihen.
Rz. 77
Der Kläger hat sich seit Ende des Jahres 2016 (vgl. Bl. 773 der Ermittlungsakte) zunehmend islamistisch radikalisiert. Seine Aussagen, seine Kontakte und die bei ihm aufgefundenen Erkenntnisse zeigen in aller Deutlichkeit, dass er dem radikalen jihadistisch-salafistischen Spektrum zuzuordnen ist. Er beließ es indes nicht bei einer innerlichen Identifikation mit dem jihadistischen Salafismus, sondern trug seine extreme ideologische Überzeugung bewusst nach außen. Wer, wie er, den Bereich einer rein innerlichen Identifikation mit einer Ideologie verlässt, die seine Anhänger zum Handeln ("Jihad") auffordert, hat einen großen Schritt dahin getan, seiner Einstellung auch eigene Taten folgen zu lassen. Die bei ihm aufgefundenen Bilder und Videos, seine Kontakte zu bekannten Salafisten, der Einfluss, den sein ebenfalls dem salafistischen Spektrum zuzurechnender Koranlehrer auf ihn ausübte, und seine Freundschaft mit dem gleichgesinnten P. W. trieben ihn dazu, seinen über einen mehrjährigen Zeitraum gewonnenen radikal-salafistischen Überzeugungen Taten folgen zu lassen. In der zweiten Hälfte des Jahres 2017 verspürte der Kläger einen stetig zunehmenden inneren Druck, sich wie viele andere jihadistische Salafisten als "Gotteskrieger" am gewaltsamen Kampf der Muslime gegen die "Feinde des Islams" zu beteiligen. Die Gefahr, in Kampfhandlungen zu sterben, schreckte ihn nicht, verhieß der Märtyrertod für ihn doch, mit dem Einzug ins Paradies belohnt zu werden. Mit dem am 18. Dezember 2017 unternommenen Versuch, sein Vorhaben zu realisieren, ist sein Verhalten von einer einstmals passiven Ausrichtung ins Aktive umgeschlagen. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass sich der hohe innere Druck, "für die Sache Allahs" zu kämpfen, infolge des Umstands, dass er seinerzeit an der Ausreise in die Türkei gehindert wurde und ihm dadurch eine Teilnahme an Kampfhandlungen in einer Krisenregion gegen seinen Willen verwehrt blieb, vermindert hätte, sind nicht erkennbar. In Ansehung seiner Orientierung an der Scharia, der für sich als gottgefällige Tat und religiöse Pflicht empfundenen Teilnahme an dem Jihad und der Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist vielmehr konkret zu besorgen, dass er weiterhin bemüht sein wird, seinen radikal-salafistischen Anschauungen terroristische Straftaten folgen zu lassen. Nicht zuletzt mit Blick auf den Umstand, dass der Kläger dem Einsatz von Waffen zumindest offen gegenübersteht, ist davon auszugehen, dass sich die von ihm ausgehende Bedrohungssituation jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr umschlagen kann.
Rz. 78
Auch die persönliche Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die auf einer soliden Tatsachengrundlage fußende Gefahrenprognose nicht zu entkräften vermocht. Seine Angaben hat der Senat zur Kenntnis genommen, würdigt sie aber angesichts der zahlreichen Unstimmigkeiten und inneren Brüche nicht in dem vom Kläger erkennbar angestrebten Sinne.
Rz. 79
Der Senat war bei seiner Gefahrenprognose auch nicht an die Einschätzung des Jugendschöffengerichts in dem nicht rechtskräftigen Urteil vom 4. Juni 2018 gebunden, mit dem es den Kläger vom Vorwurf der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat aus tatsächlichen Gründen freigesprochen hat. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte auch im Zusammenhang mit dem Erlass und der Überprüfung von Abschiebungsanordnungen nach § 58a AufenthG von erheblichem tatsächlichen Gewicht. Eine Bindungswirkung geht von ihnen im ausländerrechtlichen Verfahren jedoch nicht aus. Die aufenthaltsrechtliche Prognose, ob von dem Ausländer eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr ausgeht, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen obersten Landesbehörden und bei der gerichtlichen Überprüfung das Bundesverwaltungsgericht eine eigenständige Prognose über die von dem Ausländer ausgehende Gefahr anzustellen (vgl. zum Ausweisungsrecht BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 - Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 15 Rn. 23 m.w.N.). Dabei haben sie auch sonstige, den Strafgerichten möglicherweise nicht bekannte oder von ihnen nicht beachtete Umstände des Einzelfalles heranzuziehen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen. Im vorliegenden Fall ist der Senat auf der Grundlage einer Würdigung der Erkenntnisse sowohl des straf- als auch des ausländerrechtlichen Verfahrens und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung zu einer abweichenden Einschätzung der Gefährlichkeit des Klägers gelangt. Die tatsächlichen Feststellungen und deren tatrichterliche Würdigung ermöglichen dem Senat die eigenständige rechtliche Beurteilung, dass von dem Kläger eine terroristische Gefahr im Sinne des § 58 a AufenthG ausgeht.
Rz. 80
c) Unterstellt, dass die Abschiebungsanordnung dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG unterfällt, ist sie auch mit den sich hieraus ergebenden materiellen unionsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren. Der Kläger war mit Bekanntgabe der sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung illegal aufhältig, weil seine Niederlassungserlaubnis damit erlosch (§ 51 Abs. 1 Nr. 5a AufenthG). Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG erlaubt es, die Entscheidung über die Beendigung des legalen Aufenthalts zugleich mit der Rückkehrentscheidung zu treffen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 - C-181/16 [ECLI:EU:C:2018:465], Gnandi - Rn. 49 f.); damit ist auch kein Grund ersichtlich, warum die Rechtsfolgen dieser beiden - kombinierbaren - Entscheidungen nicht durch eine einzige behördliche Entscheidung (die noch dazu auch die Abschiebung anordnet), bewirkt werden können sollen.
Rz. 81
Eine Frist zur freiwilligen Ausreise musste dem Kläger nach Unionsrecht wegen der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung einer terroristischen Gewalttat nicht eingeräumt werden (Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG; vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 35).
Rz. 82
d) Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung steht auch nicht entgegen, dass der Beklagte mit der Abschiebungsanordnung keine Ausnahme nach § 11 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf die Dauer des nach nationalem Recht mit dem Vollzug einer Abschiebungsanordnung entstehenden Einreise- und Aufenthaltsverbot zugelassen hat. In diesem Zusammenhang bedarf es keiner Entscheidung, ob und inwieweit die Regelungen in § 11 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG, wonach bei jeder Abschiebung kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot eintritt, das von der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG nicht befristet werden darf, solange die oberste Landesbehörde nicht im Einzelfall eine Ausnahme zulässt, für die hier gegenständliche Fallkonstellation einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG an der Richtlinie 2008/115/EG zu messen und mit dieser gegebenenfalls zu vereinbaren ist. Dies hängt davon ab, ob die Richtlinie 2008/115/EG auch ein Einreiseverbot erfasst, das - wie hier - nicht im Zusammenhang mit einer Rückführung wegen Verletzung geltender Migrationsbestimmungen steht, sondern der Sache nach an eine Abschiebungsanordnung zum Schutze der öffentlichen Sicherheit wegen der von einem Drittstaatsangehörigen ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags anknüpft. Hierbei könnte es sich auch um ein neben der Rückführungsrichtlinie zulässiges nationales Einreiseverbot zu nicht migrationsbedingten Zwecken handeln (vgl. hierzu die Ausführungen des Senats im Verweisungsbeschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 6 m.w.N. und der neuerliche Hinweis in der Empfehlung ≪EU≫ 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames "Rückkehr-Handbuch" ≪ABl. L 339 S. 124≫, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist).
Rz. 83
Diese Frage ist hier aber nicht entscheidungserheblich. Denn es geht im vorliegenden Verfahren um die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung, die nach nationalem Recht nicht mit einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden ist. Auch eine fehlerhafte behördliche Entscheidung zur Dauer des hier unbefristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots würde nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen, da unionsrechtlich ein Einreiseverbot zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet wird (vgl. Art. 11 Abs. 1a der Richtlinie 2008/115/EG: "gehen... einher"), aber gleichwohl eine eigenständige Entscheidung darstellt, die gesondert anfechtbar ist (vgl. Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG; vgl. auch BVerwG, Urteile vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 36 sowie vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 - InfAuslR 2019, 3). Ausgehend davon lassen sich der Richtlinie 2018/115/EG Anhaltspunkte für einen "Rechtswidrigkeitszusammenhang" zwischen dem Einreiseverbot und seiner Befristung einerseits und der Rückkehrentscheidung andererseits nicht entnehmen (BVerwG, Urteil vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 - InfAuslR 2019, 3 Rn. 22).
Rz. 84
e) Die Abschiebungsanordnung ist weder unverhältnismäßig (aa) noch sonst ermessensfehlerhaft (bb) noch widerstreitet ihr höherrangiges Recht (cc).
Rz. 85
aa) Sie steht im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 86
Die Maßnahme verfolgt mit der Abwehr der von ausländischen terroristischen Kämpfern ausgehenden Gefahr einen legitimen Zweck. Das Interesse der Staatengemeinschaft erstreckt sich ausdrücklich auch darauf, Reisen, die dem Erhalt einer Ausbildung für terroristische Zwecke zu dienen bestimmt sind (vgl. Art. 3 und 4 des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus vom 22. Oktober 2015, SEV 217 S. 2), zum einen zu unterbinden (UN-Sicherheitsrat, Resolution 2178 ≪2014≫ vom 24. September 2014, S/RES/2178 ≪2014≫ S. 2) und zum anderen unter Strafe zu stellen (vgl. Erwägungsgrund 12 der Richtlinie ≪EU≫ 2017/541).
Rz. 87
Auch die Anordnung der Abschiebung von Ausländern, die den Versuch unternehmen, in ein anderes Land zu reisen, um sich dort in spezifischen Methoden oder Verfahren der Begehung terroristischer Straftaten unterweisen zu lassen oder unmittelbar terroristische Zwecke zu verfolgen (vgl. Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 oder 8 i.V.m. Art. 14 Abs. 3 der RL ≪EU≫ 2017/541), in den Staat ihrer Staatsangehörigkeit kann geeignet sein, die Realisierung einer terroristischen Gefahr nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. Hiervon kann, so auch hier, etwa auszugehen sein, wenn der Ausländer durch die Abschiebung gezwungen wird, sein ihn negativ beeinflussendes, seine terroristischen Aktivitäten begünstigendes, wenn nicht gar ermöglichendes soziales Umfeld zu verlassen (vgl. auch Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 58a AufenthG Rn. 23) und sich in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit eine neue Existenz aufzubauen. In diesem Sinne führt der Beklagte in der angegriffenen Ordnungsverfügung hier noch frei von Rechtsfehlern aus, dass die Erreichung des Zwecks vorliegend dadurch begünstigt werde, dass der Kläger schon räumlich durch eine Abschiebung in die Türkei dem Einfluss derjenigen Personen, die maßgeblich für seine Radikalisierung verantwortlich seien, entzogen werde, und die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht werde, dass er von seinem Vorhaben, in ein Jihad-Gebiet auszureisen, Abstand nehme. Dessen ungeachtet verfügten die türkischen Behörden über hinreichende Möglichkeiten, eine Weiterreise nach Syrien zu verhindern.
Rz. 88
Der Erlass der Abschiebungsanordnung war auch erforderlich. Da sich der Kläger nicht nur entschlossen hatte, sich auf eine Reise für terroristische Zwecke zu begeben, sondern konkret versuchte, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen und ihm Taten folgen zu lassen, gab es gegenüber dem Erlass der Abschiebungsanordnung kein gleich geeignetes, aber weniger belastendes Mittel. Für das Erreichen des auch angestrebten Zwecks, der Verhinderung jihadistischer Akte in der Bundesrepublik Deutschland, kommt dabei dem vom Beklagten angeführten, mit dem Erlass der Abschiebungsanordnung gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG gesetzlich verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbot besondere Bedeutung zu.
Rz. 89
Dass der Beklagte dem öffentlichen Interesse an der Abwehr der von dem Kläger ausgehenden terroristischen Gefahr ein höheres Gewicht beimisst als dessen Interesse am Verbleib in Deutschland, ist auch nicht unangemessen. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 96 und 132; Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 ≪402 f.≫). Die Abwehr der von dem Kläger ausgehenden terroristischen Gefahr steht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs.
Rz. 90
Die Abschiebungsanordnung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie nach deutscher Rechtslage - deren Vereinbarkeit mit Unionsrecht allerdings noch nicht abschließend geklärt ist - im Falle einer Abschiebung mit einem grundsätzlich unbefristeten Fernhalten vom Bundesgebiet verbunden ist (§ 11 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 und 5 AufenthG). Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob das von dem Beklagten angeordnete unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtmäßig ist. Denn bei einer nachhaltigen Verhaltensänderung des Klägers besteht nach § 11 Abs. 4 und 5 AufenthG jedenfalls die Möglichkeit einer nachträglichen Aufhebung oder Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.
Rz. 91
bb) Die Ausübung des behördlichen Ermessens ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden.
Rz. 92
Der Beklagte hat bei seiner Entscheidung gewürdigt, dass der Kläger einerseits im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist, auf der Grundlage eines durchgängig rechtmäßigen Aufenthalts sein gesamtes Leben verbracht hat, die deutsche Sprache beherrscht und über enge Kontakte zu seiner Familie verfügt, mit der er bis zuletzt zusammengelebt hat, dass er andererseits ledig und kinderlos ist. Weiter wurde berücksichtigt, dass er sich für die Scharia und gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung als gesellschaftliches Ordnungssystem ausspricht und wiederholt davon gesprochen hat, dauerhaft in die Türkei auswandern zu wollen, sowie dass sich seine sozialen Kontakte weit überwiegend auf Personen und Einrichtungen beschränken, die ebenfalls Teil der radikal-islamistischen Szene sind, und er mit seinen Eltern über deren religiöse Lebensführung wiederholt in Streit geraten ist.
Rz. 93
Mit Recht hat der Beklagte zudem angenommen, dass sich der Kläger auch wirtschaftlich nicht nachhaltig im Bundesgebiet integriert hat. Beide von ihm begründeten Beschäftigungsverhältnisse währten nur mehrere Monate. Die nach seinem Vorbringen zuletzt in Kooperation mit der Arbeitsverwaltung in Aussicht genommene Ausbildung zum LKW-Fahrer war noch nicht beendet und sollte im Hinblick auf die zur Überzeugung des Senats bestehenden Ausreiseabsichten auch nicht beendet werden. Eine Eingliederung in die Lebensverhältnisse seines Herkunftsstaates ist ihm möglich und zumutbar. Es spricht nichts dafür, dass er seine Existenzgrundlage in der Türkei nicht auf einem bescheidenen Niveau wird sichern können. Er ist einundzwanzig Jahre alt, ledig, kinderlos und der türkischen Sprache mächtig. Wenngleich er die Republik Türkei nur von Verwandtenbesuchen und Urlaubsreisen her kennen mag, verfügt er dort über umfangreiche verwandtschaftliche Beziehungen (vgl. Bl. 2 des Jugendgerichtshilfeberichts vom 28. Mai 2018), die ihm einen Neuanfang etwa in der Heimat seiner Eltern in jeder Hinsicht zu erleichtern vermögen. Dies gilt umso mehr als sich auch seine Eltern seit längerer Zeit mit dem Gedanken tragen, ihren Wohnsitz zumindest teilweise in die Türkei zu verlegen. Die Darstellung, die Schlussfolgerung des Beklagten, man habe "die Wohnung verkaufen wollen, um in die Türkei auszuwandern", sei "falsch" (S. 3 des Schriftsatzes vom 28. Dezember 2018), steht - ohne dass es hierauf letztlich ankommt - im Widerspruch zu diversen Äußerungen im Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfahren (vgl. Bl. 15, 16, 23, 37, 38, 40, 59, 106 f., 130, 261, 305, 756 f. der Ermittlungsakte). Jedenfalls leben seine Großeltern und seine beiden Brüder gegenwärtig in der Türkei.
Rz. 94
Für die Verhältnismäßigkeit der Abschiebungsanordnung ist es ohne Aussagekraft, dass sich der Kläger während der Abschiebungshaft beanstandungsfrei verhält und ihm Vollzugslockerungen gewährt werden. Gleiches gilt für den Umstand, dass er in der Vergangenheit Jugendliche in Kampfsportarten unterrichtet habe.
Rz. 95
cc) Die Aufenthaltsbeendigung steht im Einklang mit dem grund- und menschenrechtlichen Schutz der Familie und des Privatlebens (Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK). Der Beklagte durfte angesichts der vom Kläger ausgehenden terroristischen Gefahr von einem Überwiegen des Schutzes der öffentlichen Sicherheit gegenüber dem von ihm erkannten und rechtsfehlerfrei gewichteten Privat- und Familienleben des Klägers ausgehen.
Rz. 96
dd) Für den Fall, dass der Kläger als Kind seiner Eltern neben seiner Niederlassungserlaubnis ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 erworben hat, konnte die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 beendet werden. Danach muss sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Aufenthaltsbeendigung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 80 ff.; siehe auch § 53 Abs. 3 AufenthG). Diese Voraussetzungen lagen hier vor, da der vom Kläger ausgehenden Gefahr nicht auf andere Weise gleich wirksam begegnet werden konnte wie durch die Beendigung des Aufenthalts. Das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu erfüllende Erfordernis einer gegenwärtigen "konkreten Gefährdung" der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 - NVwZ 2012, 422 Rn. 84 f.) bedeutet, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht auf vergangenes strafbares Verhalten gestützt werden dürfen, sondern gegenwärtig noch eine konkrete Bedrohung für hochrangige Rechtsgüter vorliegen muss. Eine "konkrete Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts wird damit nicht gefordert, vielmehr reicht eine terroristische Gefahr im Sinne von § 58a Abs. 1 AufenthG aus, die gegenwärtig ist und sich jederzeit realisieren kann.
Rz. 97
2.4 Die Abschiebungsanordnung ist schließlich nicht wegen eines Abschiebungsverbots (teil-)rechtswidrig, da im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG bestand. Nach der gesetzlichen Konstruktion des § 58a AufenthG führt das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat, nach (rechtzeitiger) Ankündigung aber in einen anderen (aufnahmebereiten oder -verpflichteten) Staat abgeschoben werden darf. Die zuständige Behörde hat beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der beabsichtigten Abschiebung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder in Anknüpfung an den subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Wird im gerichtlichen Verfahren ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt, bleibt die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung im Übrigen hiervon unberührt (§ 58a Abs. 3 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung).
Rz. 98
a) Für eine Verfolgung des Klägers wegen dessen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG liegen keine Anhaltspunkte vor. Selbst wenn dem Kläger in der Türkei eine Bestrafung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristischer Betätigung drohte, wofür keine Anhaltspunkte bestehen, stellte dies grundsätzlich keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG dar. Auch eine etwaig drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist nicht schon für sich genommen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung. Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 - 9 C 131.90 - Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 21 S. 63; Beschluss vom 2. Juni 2017 - 1 B 108.17 u.a. - juris Rn. 10 m.w.N.). Anderes folgt hier auch nicht aus Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9), wonach eine Verfolgungshandlung vorliegt bei "Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen". Selbst wenn der Kläger den Militärdienst verweigern sollte - wofür sich in Anbetracht der auf seinem Smartphone sichergestellten Bilder und Videos mit Jihad-Szenen, des Besitzes einer Softair-Waffe und der Bereitschaft, sich mit einer Langwaffe ablichten zu lassen, schutzwürdige Gründe nicht aufdrängen -, lässt sich den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen nichts Substantiiertes dafür entnehmen, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in einem "Konflikt" eingesetzt würde, in dem der Militärdienst die genannten Verbrechen oder sonstigen Handlungen umfassen würde. Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass eine Bestrafung wegen (unterstellter) Wehrdienstverweigerung - wie nach § 3a Abs. 3 und § 3b AsylG gefordert - an einen tatsächlich vorhandenen oder dem Kläger zugeschriebenen Verfolgungsgrund anknüpfen würde (vgl. dazu auch BVerwG, Beschluss vom 21. November 2017 - 1 B 148.17 u.a. - juris Rn. 12).
Rz. 99
b) Es bestand auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG oder nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Dem Kläger droht bei Abschiebung weder die Gefahr der Todesstrafe (aa), noch die Gefahr der Folter oder einer anderen gegen Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (bb).
Rz. 100
aa) Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht schon deshalb nicht, weil die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft ist. Seit dem Jahr 2004 ist in Art. 38 der Verfassung der Republik Türkei verankert, dass die Todesstrafe unzulässig ist. Zudem hat die Türkei die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ebenso wie die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe unterzeichnet und ratifiziert. Zwar wird seit dem Putschversuch im Juli 2016 um die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert. Die Realisierung einer solchen Wiedereinführung ist indes gegenwärtig nicht absehbar (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht vom 3. August 2018 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juli 2018, S. 26).
Rz. 101
bb) Dem Kläger drohte im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch nicht wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer islamistisch-extremistischen terroristischen Vereinigung beziehungsweise wegen der Gründe der Abschiebungsanordnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG und/oder eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen werden selbst Anhänger der Terrororganisation "Islamischer Staat", von der sich der Kläger ausdrücklich distanziert, in der Türkei zwar grundsätzlich strafrechtlich verfolgt. Aus der Antwort des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017 auf Fragen des Senats in dem Verfahren BVerwG 1 A 7.17 - als Erkenntnismittel in das hiesige Verfahren eingeführt - ergibt sich, dass sich im Februar 2017 nach Angaben des türkischen Justizministeriums insgesamt 498 ausländische "IS"-Anhänger in türkischen Haftanstalten befunden haben sollen, davon 470 in Untersuchungshaft und 28 im Strafvollzug. Zahlen zu türkischen Staatsangehörigen liegen dem Auswärtigen Amt nicht vor. Es verfügt auch nicht über offizielle Angaben zu den angewandten Strafvorschriften und zur Strafhöhe. Nach Pressemeldungen zu Einzelfällen seien Art. 309 und 314 tStGB angewandt worden. Amnesty International hat auf eine Anfrage des Senats in dem Verfahren BVerwG 1 A 7.17 mit Schreiben vom 29. August 2017 - als Erkenntnismittel in das hiesige Verfahren eingeführt - mitgeteilt, die Organisation verfüge über keine eigenen Erkenntnisse darüber, in welchem Ausmaß, mit welcher Konsequenz und ab welchem Grad der Unterstützungsaktivität "IS"-Anhänger in der Türkei verfolgt würden. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes geht der Senat allerdings davon aus, dass eine Strafverfolgung auch wegen Aktivitäten außerhalb der Türkei grundsätzlich möglich erscheint.
Rz. 102
Nach einem Bericht von Tahiroglu/Schanzer, Islamic State Networks in Turkey, March 2017, S. 17 ff., auf den das Auswärtige Amt in der vorgenannten Auskunft für aktuellere Angaben verwiesen hat, wird die Strafverfolgung von "IS"-Anhängern in der Türkei allerdings nicht mit Nachdruck betrieben. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums hätten türkische Sicherheitskräfte im Jahr 2016 22 größere terroristische Vorfälle mit "IS"-Bezug verhindert; 1 338 "IS"-Verdächtige, darunter 694 ausländische Staatsangehörige, seien im Laufe des Jahres 2016 verhaftet worden; Anfang Februar 2017 seien 820 "IS"-Verdächtige in einer "Zwei-Tages-Kampagne" verhaftet worden. Die Bemühungen der Türkei, die jihadistische Gefahr einzudämmen, seien aber zu gering und kämen zu spät. Die seit 2016 ansteigende Zahl von Verhaftungen sei irreführend, da viele "IS"-Verdächtige binnen Tagen oder Wochen wieder freigelassen worden seien. Während sich die Türkei damit brüste, 1 338 "IS"-Verdächtige verhaftet zu haben, sei es nur zu sieben Verurteilungen gekommen. Die gesetzlichen Standards für die Verurteilungen von Jihadisten in der Türkei lägen zu hoch. Türkische Kämpfer, die aus "IS"-Kampfgebieten im Irak oder Syrien zurückkehrten, würden nur verurteilt, wenn ihnen nachgewiesen werde, dass sie das Staatsgebiet oder Bürger der Türkei direkt angegriffen hätten. Ein früherer "IS-Henker" lebe ausweislich eines im Juli 2015 gegebenen Interviews derzeit unbehelligt in Ankara und arbeite dort als Parkplatzwächter. Ein anderer "IS"-Angehöriger, der beim Erschießen eines Menschen in Syrien gefilmt worden sei, sei im Juli 2016 wegen "guter Führung" nur zu einer reduzierten Freiheitsstrafe verurteilt worden. "IS"-Mitglieder, die Anschläge gegen die Türkei verübt haben, würden weder zeitnah noch mit der vollen Härte des Gesetzes verurteilt. So seien die Verantwortlichen für den "IS"-Anschlag von März 2014 in Zentralanatolien erst 2016 verurteilt worden. Die Verhandlung sei mehrmals verschoben und der Richter viermal ausgetauscht worden. Überdies würden dieselben Verdächtigen oft mehrmals verhaftet und wieder freigelassen, wofür mehrere Beispiele genannt werden. Dieses nachlässige Vorgehen stehe in auffälligem Kontrast zur Behandlung kurdischer Nationalisten und anderer Oppositioneller in der Türkei. Kurdische Politiker und Zivilpersonen würden häufig unter dubiosen Terrorismusvorwürfen verhaftet und verurteilt.
Rz. 103
Angesichts dieser Lageeinschätzung ist in Bezug auf den Kläger, der sich in den zurückliegenden Jahren wiederholt ablehnend gegenüber der Terrororganisation des "IS" geäußert hat und in der Türkei bislang erkennbar keinerlei Engagement für diese oder andere Terrororganisationen entfaltet hat, im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") davon auszugehen, dass gegen ihn bei Rückführung in die Türkei aufgrund der in Deutschland erhobenen Terrorismusvorwürfe und des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens ein Strafverfahren geführt oder es über eine Befragung hinaus sonst zu einer Inhaftierung kommen würde.
Rz. 104
Zwar interessieren sich die türkischen Behörden ausweislich der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017 (- 508-31-516.80/49703 -) für Strafverfahren gegen eigene Staatsangehörige, die Terrorismusvorwürfe zum Gegenstand haben. Ein solches wird gegen den Kläger im Bundesgebiet im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geführt; das insoweit ergangene erstinstanzliche Urteil, das einen Freispruch vorsieht, ist noch nicht in Rechtskraft erwachsen. Allein dieses Interesse begründet indes keine beachtliche Gefahr Art. 3 EMRK nichtachtender behördlicher Maßnahmen.
Rz. 105
Auch aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes, wonach sich die türkischen Behörden für die Gründe derartiger Abschiebungen interessierten, ergibt sich keine andere Einschätzung, weil durch die deutschen Behörden auf Nachfrage der türkischen Behörden keine näheren Angaben zu den Gründen gemacht werden, die über die Feststellung des unrechtmäßigen Aufenthalts hinausgehen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017 - 508-31-516.80/49703 -), sodass insbesondere davon auszugehen ist, dass jenseits eines möglichen Hinweises auf eine beabsichtigte Weiterreise nach Syrien Einzelheiten über die hier vorliegenden Ermittlungserkenntnisse und Beweismittel nicht an die türkischen Behörden weitergegeben werden. Zudem weisen die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe keinen unmittelbaren Bezug zur Republik Türkei auf; namentlich ist bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht davon auszugehen, dass der Kläger aus der Sicht der türkischen Strafverfolgungsbehörden bereits spezifisch türkische Interessen verletzt hatte.
Rz. 106
Sofern der Kläger in der Türkei Terrororganisationen unterstützende Aktivitäten entfalten beziehungsweise Terroranschläge planen oder unterstützen sollte, wäre ein solches Verhalten nach der Abschiebung nicht geeignet, bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Abschiebungsverbot zu begründen.
Rz. 107
Soweit er in einem Telefonat am 2. August 2017 unter Bezugnahme auf seinen Türkeiaufenthalt im Herbst 2016 ausführte, die türkische Polizei suche ihn "jetzt", sie habe bei seinem Bruder angerufen und nach ihm, dem Kläger, gefragt (Bl. 402 der Ermittlungsakte), hat er dieses in keiner Weise substantiierte Vorbringen im vorliegenden Verfahren nicht aufgegriffen. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er vielmehr bekundet, die Suche habe nicht ihm, sondern einer anderen Person gegolten.
Rz. 108
Ist nach dem Vorstehenden nicht damit zu rechnen, dass der Kläger nach seiner Abschiebung - über eine kurzzeitige Befragung im Zusammenhang mit der Abschiebung hinaus - in den Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden geraten wird, bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass ihm Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung drohen würden. Ebenso wenig rechtfertigen Tatsachen die Annahme einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung. Die Richtigkeit dieser Prognose wird letztlich auch durch das Verhalten des Klägers selbst bestätigt, der jedenfalls am 18. Dezember 2017 nach vorheriger Rücksprache mit seinem in der Türkei aufhältigen Bruder und dessen Kontaktaufnahme mit einer Sicherheitsperson das Risiko, in der Türkei festgenommen zu werden, als nicht so hoch einschätzte, dass es ihm Veranlassung gegeben hätte, von einer Ausreise Abstand zu nehmen.
Rz. 109
Mangels beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung des Klägers nach seiner Abschiebung bedurfte es auch keiner Zusicherung bezüglich der Gestaltung der Haftbedingungen und der Ermöglichung von Besuchen eines Rechtsbeistandes. Insofern ergibt sich auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2017 - 2 BvR 2259/17 - (NVwZ 2018, 318) kein weiterer Aufklärungsbedarf zu den Haftbedingungen in der Türkei.
Rz. 110
c) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 oder 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK folgt auch nicht aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei zur Ableistung des Wehrdienstes einberufen wird. Für eine im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits erfolgte Wehrdienstverweigerung, die eine Bestrafung nach sich ziehen könnte, bestehen keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat selbst nicht vorgetragen, dass er, insbesondere während seines Aufenthalts in der Türkei von Ende Oktober bis Ende Dezember 2016, bereits gemustert bzw. einberufen worden wäre oder er sogar schon gegenüber den türkischen Behörden erklärt hätte, den Wehrdienst zu verweigern. Auch aus der möglichen Annahme einer künftigen, erst nach der Rückkehr des Klägers in die Türkei erklärten Wehrdienstverweigerung und der damit einhergehenden Möglichkeit einer Bestrafung, folgt hier nichts anderes. Zwar kann sich aus einem erst künftig zu erwartenden Geschehen ein Abschiebungsverbot ergeben, wenn bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung ein Kausalverlauf in Gang gesetzt worden ist, der bei ungehindertem Ablauf zwingend dazu führt, dass die Gründe für ein Abschiebungsverbot eintreten werden. Davon ist vorliegend aber nicht auszugehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft. Die Wehrdienstverweigerern in der Türkei drohende Mehrfachbestrafung verletzt nach dieser Rechtsprechung Art. 3 EMRK (EGMR, Urteil vom 12. Juni 2012 - Nr. 42730/05, Savda/Türkei -). Danach kommt ein Abschiebungsverbot allerdings nur dann in Betracht, wenn der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert (zu einem solchen Fall vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Dezember 2017 - OVG 10 B 10.12 -). Daran fehlt es bei dem Kläger. Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Oktober 1972 - 8 C 46.72 - BVerwGE 41, 53 ≪55≫ und vom 1. Februar 1989 - 6 C 61.86 - BVerwGE 81, 239 ≪240 f.≫). Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 5. Februar 2016 - 9 B 16/16 - juris Rn. 30). Hierfür bietet das Vorbringen des Klägers keine Anhaltspunkte. Die Behauptung einer ernsthaften Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen wird hier überdies durch die auf den beschlagnahmten Datenträgern vorgefundenen zahlreichen Aufnahmen unter anderem von Hinrichtungen und getöteten Kämpfern sowie die im Rahmen einer Durchsuchungsmaßnahme sichergestellte Softair-Pistole wie auch ein Foto, das den Kläger mit einer angelegten Langwaffe zeigt, widerlegt. Seit der Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (Auswärtiges Amt, Bericht vom 3. August 2018 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juli 2018, S. 20). Sollte der Kläger wider Erwarten den Wehrdienst verweigern und aus diesem Grund in der Türkei nicht zu einer Geld-, sondern zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, wäre dieses künftige - nicht auf einer bindenden Gewissensentscheidung beruhende - Verhalten nicht geeignet, im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Abschiebungsverbot zu begründen (zur Relevanz "zumutbaren Alternativverhaltens" vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. April 2018 - 1 B 8.18 - juris Rn. 17 m.w.N.).
Rz. 111
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 13041917 |
BVerwGE 2020, 317 |
DÖV 2019, 570 |
InfAuslR 2019, 224 |
JZ 2019, 574 |
VR 2019, 287 |
ZAR 2020, 151 |
BayVBl. 2019, 3 |
DVBl. 2019, 3 |
SächsVBl. 2019, 2 |