Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenersatz, Heranziehung zum – wegen schuldhaft sozialwidrigen Verhaltens für Zeiten einer Untersuchungshaft und einer Ersatzfreiheitsstrafe. Ersatzfreiheitsstrafe und Kostenersatz. sozialwidriges Verhalten. Untersuchungshaft und Kostenersatz
Leitsatz (amtlich)
- Die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK inhaltlich näher ausgeformte Unschuldsvermutung gebietet es nicht, von einer Heranziehung zum Kostenersatz nach § 92a Abs. 1 BSHG bis zum rechtskräftigen Abschluss eines anhängigen Strafverfahrens abzusehen, wenn sie auf ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges sozialwidriges Verhalten unabhängig von dessen Strafbarkeit gestützt wird.
- Eine sozialwidrig herbeigeführte Mittellosigkeit als im Sinne des § 92a Abs. 1 BSHG haftungsauslösender Umstand kann – bei Vorliegen der Verschuldensvoraussetzungen dieser Bestimmung – eine Heranziehung zum Kostenersatz für die den unterhaltsberechtigten Angehörigen gewährte Sozialhilfe auch für Zeiten einer Untersuchungshaft und einer Ersatzfreiheitsstrafe rechtfertigen.
Normenkette
BSHG § 92a Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 2
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 05.12.2001; Aktenzeichen 7 S 2825/99) |
VG Karlsruhe (Entscheidung vom 19.03.1999; Aktenzeichen 2 K 2952/97) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 5. Dezember 2001 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu Kostenersatz für Sozialhilfe, welche der Beklagte der geschiedenen Ehefrau des Klägers und den drei aus dieser Ehe hervorgegangenen Kindern gewährt hat.
Der Kläger war seit 1982 in der Verwaltung von Eigentumswohnungen tätig und dabei Mitgesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die später in eine OHG umgewandelt wurde. Die Geschäfte wurden wegen fehlender Buchhaltung bei zunehmendem Geschäftsvolumen nicht mehr ordnungsgemäß abgewickelt, die Geschäftsbereiche wurden nicht ordnungsgemäß getrennt, ausstehende Zahlungen wurden nicht beigetrieben und offene Darlehen nicht getilgt. Es kam zur Überschuldung der Gesellschaft und zum Vermögensverfall; gegen den Kläger und seinen Mitgesellschafter wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.
Am 28. Juli 1993 wurde der Kläger verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, aus der er erst ein Jahr später – am 20. Juli 1994 – entlassen wurde. Vom 7. September bis zum 5. Oktober 1993 wurde die Untersuchungshaft zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen, welche an Stelle einer vom Amtsgerichts W.… mit Urteil vom 13. Juli 1993 verhängten Geldstrafe wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 90 DM getreten war, da der Kläger nicht in der Lage war, die Geldstrafe zu bezahlen.
Mit Urteil vom 31. März 1998 hat das Landgericht M.… den Kläger wegen Untreue in 142 Fällen, wegen Betruges in zwei Fällen, wegen Verletzung der Buchführungspflicht in zwei Fällen, wegen Bankrotts in vier Fällen sowie wegen verspäteter Konkursanmeldung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Bereits 1994 war der Beklagte nach der Entlassung des Klägers aus der Untersuchungshaft an ihn herangetreten und hatte mit Schreiben vom 11. August 1994 mitgeteilt, dass er der früheren Ehefrau des Klägers und den drei Kindern seit September 1993 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt gewähre. Gemäß § 91 BSHG sei der Unterhaltsanspruch auf den Sozialhilfeträger übergegangen. Der Kläger wurde aufgefordert, Auskunft über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu erteilen, um seine Unterhaltsfähigkeit feststellen zu können. Mit Schreiben vom 27. Juli 1995 wurde ihm mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ihn wegen der Sozialhilfeaufwendungen gemäß § 92a BSHG in Anspruch zu nehmen.
Mit Bescheid vom 5. November 1996 zog der Beklagte den Kläger in Höhe von insgesamt 29 806,49 DM zum Ersatz der Sozialhilfeleistungen für die Zeit vom 1. September 1993 bis zum 31. Dezember 1994 heran. Der Kläger habe den Ausfall der Unterhaltsleistungen durch seine Inhaftierung mindestens grob fahrlässig herbeigeführt. Der Widerspruch des Klägers wurde mit der Begründung zurückgewiesen, er habe sich sozialwidrig verhalten, indem er durch seine Straftaten die Sozialhilfedürftigkeit der Unterhaltsberechtigten zumindest grob fahrlässig herbeigeführt habe. Wegen zwischenzeitlicher Verbuchung von Einnahmen wurde der zu erstattende Gesamtaufwand auf 29 015,44 DM festgesetzt (Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1997).
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben, soweit mehr als 29 015,44 DM vom Kläger gefordert wurden und bei der Berechnung des Kostenersatzes der Garantiebetrag nach den Sozialhilferichtlinien Nr. 92a.04 i.V.m. Nr. 85.23 nicht berücksichtigt wurde, im Übrigen aber die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. März 1999). Der Verwaltungsgerichtshof hingegen hat die angefochtenen Bescheide in entsprechender Änderung des erstinstanzlichen Urteils in vollem Umfang aufgehoben (Urteil vom 5. Dezember 2001). Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt:
Bei dem Ersatzanspruch nach § 92a Abs. 1 BSHG handele es sich um einen quasi-deliktischen Anspruch, der von einem schuldhaften Verhalten des Ersatzpflichtigen abhänge. Die Gewährung von Sozialhilfe müsse objektiv sozialwidrig herbeigeführt worden und der Ersatzpflichtige müsse sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst gewesen sein. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Für den Zeitraum vom 21. Juli bis 31. Dezember 1994, in dem der Kläger sich weder in Straf- noch in Untersuchungshaft befunden habe, enthielten die angefochtenen Bescheide schon keine Begründung, worin das sozialwidrige Verhalten des Klägers zu sehen sei. Für die Sozialhilfezahlungen in der Zeit der Untersuchungshaft (1. bis 6. September 1993 und 6. Oktober 1993 bis 20. Juli 1994) könne kein Kostenersatz geltend gemacht werden, weil nach verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten für Untersuchungsgefangene bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung gelte. Die Untersuchungshaft habe ausschließlich strafverfahrenssichernde Funktion und stelle keine Schuldfeststellung dar; deshalb könne der Sozialhilfeträger vor dem rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens eine Kostenersatzforderung nicht auf einen derartigen Sachverhalt stützen. Die spätere strafrechtliche Verurteilung sei für die Frage der Heranziehung zum Kostenersatz ohne Bedeutung, denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Bescheide sei der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Vor rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens sei die Heranziehung zum Kostenersatz wegen der Untersuchungshaft immer ein Bescheid auf Verdacht und nicht auf gesicherter tatsächlicher Grundlage. Auch während der Inhaftierung vom 7. September bis 5. Oktober 1993 zur Vollstreckung einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Trunkenheit sei ein Kostenersatzanspruch nicht gegeben. Unter welchen Voraussetzungen die Verbüßung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe als sozialwidrig anzusehen sei, könne dahinstehen, denn im vorliegenden Fall handele es sich lediglich um eine Ersatzfreiheitsstrafe aufgrund des Umstandes, dass der Kläger nicht in der Lage gewesen sei, eine verhängte Geldstrafe zu bezahlen. Er sei mithin in dieser Zeit nicht in Haft gewesen, weil er eine strafbare Handlung begangen habe, sondern weil er mittellos gewesen sei. Mittellosigkeit stelle aber keine Sozialwidrigkeit i.S. von § 92a BSHG dar. Für diesen Zeitabschnitt könne ihm auch deshalb nicht der Vorwurf sozialwidrigen Verhaltens gemacht werden, weil er während der Inhaftierung gearbeitet habe und das geringe Arbeitsentgelt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 (BVerfGE 98, 169) mit dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot unvereinbar sei.
Mit der Revision, deren Gegenstand gemäß Schriftsatz vom 21. Januar 2002 zunächst ausdrücklich auf den Zeitraum der Untersuchungshaft (1. bis zum 6. September 1993 und 6. Oktober 1993 bis 20. Juli 1994) beschränkt war, in der Revisionsbegründung vom 20. Februar 2002 aber auf den Zeitraum der Ersatzfreiheitsstrafe (7. September bis zum 5. Oktober 1993) erweitert worden ist, rügt der Beklagte die Verletzung des § 92a BSHG.
Der Kläger und der Vertreter des Bundesinteresses unterstützen das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Beklagten, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist zulässig und begründet. Das angefochtene Berufungsurteil verletzt Bundesrecht. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und mangels Entscheidungsreife zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Der Gegenstand der zunächst ausdrücklich auf die Zeit der Untersuchungshaft beschränkten Revisionseinlegung konnte auch nach Ablauf der Einlegungsfrist mit der Revisionsbegründung auf den Zeitraum der Ersatzfreiheitsstrafe erweitert werden. Da die Revision selbst nur das angefochtene Urteil bezeichnen (§ 139 Abs. 1 Satz 3 VwGO) und erst die Revisionsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten muss (§ 139 Abs. 3 VwGO), ist es unschädlich, dass der Gegenstand der Revision erst mit der Revisionsbegründung erweitert wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 1991 – 3 C 6.89 – , NJW 1992, 703 ≪704≫ für den umgekehrten Fall der nachträglichen Revisionsbeschränkung).
2. Zu Unrecht ist die Vorinstanz unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1987 – 2 BvR 589/79, 740/81 und 284/85 – (BVerfGE 74, 358) der Auffassung, der Beklagte sei durch die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde und im Lichte des Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegende Unschuldsvermutung gehindert, das der Untersuchungshaft vorausgehende Verhalten des Klägers sozialhilferechtlich als sozialwidrig zu bewerten, solange das Strafverfahren nicht rechtskräftig abgeschlossen sei.
Die sozialhilferechtliche Bewertung eines bestimmten Handelns ist unabhängig davon, ob es auch den Gegenstand eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens bildet; dies gilt auch für die Bewertung des Verhaltens als schuldhaft sozialwidrig einerseits, strafbar andererseits. Ein anhängiges Strafverfahren und die Unschuldsvermutung hindern den Sozialhilfeträger daher nicht an der eigenständig, nach sozialhilferechtlichen Kriterien vorzunehmenden Bewertung eines Handelns nur deswegen, weil es zugleich nach strafrechtlichen Maßstäben in einem Strafverfahren zu bewerten ist.
Der Vorwurf schuldhaft sozialwidrigen Verhaltens, der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dem Haftungstatbestand des Kostenersatzanspruches gemäß § 92a Abs. 1 BSHG als engem, deliktsähnlichem Ausnahmetatbestand zugrunde liegt (vgl. zu § 92a Abs. 1 BSHG bzw. der Vorgängerbestimmung in § 92 Abs. 2 BSHG F. 1961 Urteile vom 30. August 1967 – BVerwG 5 C 192.66 – ≪BVerwGE 27, 319, 321≫, vom 24. Juni 1976 – BVerwG 5 C 41.74 – ≪BVerwGE 51, 61, 63 f.≫, vom 14. Januar 1982 – BVerwG 5 C 70.80 – ≪BVerwGE 64, 318, 320 f.≫ und vom 23. September 1999 – BVerwG 5 C 22.99 – ≪BVerwGE 109, 331≫), setzt nicht notwendig ein im Sinne des Rechts der unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB) rechtswidriges oder ein strafbares Verhalten voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1976, a.a.O. S. 63; Urteil vom 14. Januar 1982, a.a.O. S. 320; Urteil vom 23. September 1999, a.a.O. S. 332), das dem Kläger erst nach erfolgter strafrechtlicher Verurteilung vorgehalten werden könnte. Der spezifisch sozialhilferechtliche Vorwurf der Sozialwidrigkeit ist nicht im Begehen einer Straftat, sondern darin begründet, dass der Betreffende in – im Sinne eines objektiven Unwerturteils – zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Dementsprechend hat der Senat bereits entschieden, dass ein Tun (Unterlassen) einen Anspruch des Trägers der Sozialhilfe auf Kostenersatz (auch) dann begründet, wenn es aus der Sicht der Gemeinschaft, die – was die Sicherung von Mitteln für eine Hilfeleistung in Notlagen angeht – eine Solidargemeinschaft ist, zu missbilligen ist (BVerwG, Urteile vom 14. Januar 1982, a.a.O. S. 321, und vom 23. September 1999, a.a.O. S. 333). Ob ein Verhalten sozialwidrig ist, ist dann nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen. Es muss eine spezifische Beziehung zwischen dem Verhalten selbst und dem Erfolg bestehen, um das Verhalten selbst als “sozialwidrig” bewerten zu können. Voraussetzung ist weiter, dass Mittellosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit nicht nur tatsächlich eintreten, sondern dieser Erfolg vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt ist. Schuldhaft, d.h. vorsätzlich oder grob fahrlässig im Sinne von § 92a Abs. 1 Satz 1 BSHG verhält sich dabei nur, wer sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst ist (BVerwG, Urteil vom 23. September 1999, a.a.O. S. 333).
Mit Blick auf die Untersuchungshaft des Klägers bedeutet dies, dass sein fortgesetztes rechtswidriges, gegebenenfalls strafbares geschäftliches Verhalten als sozialwidrige Verursachung der Bedürftigkeit der unterhaltsberechtigten Angehörigen bewertet werden kann, wenn dabei im Sinne grober Fahrlässigkeit die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist und der Kläger dasjenige nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste, wenn also für ihn vorhersehbar war, dass dieses Verhalten ihn in Untersuchungshaft bringen konnte mit der Folge, dann wegen eigener Mittellosigkeit unterhaltsbedürftigen Angehörigen keinen Unterhalt mehr zahlen zu können. Maßgeblich für die Bewertung des Verhaltens des Klägers ist die konkrete Feststellung und Würdigung der zur Inhaftierung führenden Umstände, welche dem Revisionsgericht verwehrt ist. Als rechtlich maßgeblichen Bezugszeitpunkt für die Bewertung hat die Vorinstanz zutreffend auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abgehoben, welcher hier in die Zeit nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft, aber vor der strafgerichtlichen Entscheidung über die der Haft zugrunde liegenden Tatvorwürfe fällt. Dass die Beurteilung der Sozialwidrigkeit eines Verhaltens bei laufendem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren das Risiko birgt, dass sich später zusätzliche Erkenntnisse ergeben, macht die Beurteilung nicht zu einer lediglich vorläufigen und steht der Heranziehung zum Kostenersatz nicht notwendig entgegen. Gerade im Bereich von Wirtschaftsdelikten muss die Sozialhilfebehörde sich mit einer Beurteilung auf der Basis der ihr zugänglichen Erkenntnisse begnügen können, da andernfalls gerade in schwerwiegenden oder schwierigen Fällen, deren Aufklärung komplizierte Ermittlungen voraussetzt, der Kostenersatzanspruch infolge der Dreijahresfrist des § 92a Abs. 3 Satz 1 BSHG bereits vor der Möglichkeit einer abschließenden Klärung erloschen wäre. Für die Beurteilung, ob ein Verhalten, das von der Behörde als sozialwidrig bewertet worden ist, einen Kostenersatzanspruch rechtfertigt, kommt es allein darauf an, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 92a Abs. 1 BSHG im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung vorgelegen haben. Nicht erforderlich ist hingegen, dass bereits in diesem Zeitpunkt alle Erkenntnisse vorgelegen haben, die diese Beurteilung des den Hilfebedarf auslösenden Verhaltens des Klägers als richtig stützen. Für die unabhängig von der strafrechtlichen Bewertung des Verhaltens des Klägers vorzunehmende gerichtliche Überprüfung der Frage, ob die Behörde den unbestimmten Rechtsbegriff der Sozialwidrigkeit zutreffend ausgelegt und einzelfallbezogen angewendet hat, können für die Beurteilung auch zusätzliche Erkenntnisse aus dem Strafverfahren herangezogen werden, wenn und soweit sie sich auf Tatsachen und Vorgänge beziehen, die vor dem Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung liegen und im Wesentlichen denselben Lebenssachverhalt betreffen, den auch die Behörde herangezogen hatte.
3. Auch die infolge der Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe aus der im Jahre 1993 erfolgten Verurteilung wegen einer Trunkenheitsfahrt eingetretene Hilfebedürftigkeit unterhaltsbedürftiger Angehöriger des Klägers kann eine vorhersehbare und in den Vorwurf schuldhaft sozialwidrigen Verhaltens einzubeziehende Handlungsfolge seines rechtswidrigen geschäftlichen Verhaltens sein. Wenn für den Kläger die Hilfebedürftigkeit seiner unterhaltsbedürftigen Angehörigen vorhersehbar und vermeidbar war, kann dies grundsätzlich auch für die infolge der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe eintretende Hilfebedürftigkeit gelten. Der Umstand, dass die zur Ersatzfreiheitsstrafe führende Mittellosigkeit des Klägers auch durch die Untersuchungshaft bedingt war und seine Unfähigkeit zu Unterhaltsleistungen während der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nach den Feststellungen der Vorinstanz auch dadurch verursacht war, dass das Entlohnungssystem in der Strafhaft nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung entsprach (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 – 2 BvR 441, 493/90, 618/92, 212/93 und 2 BvL 17/94 – ≪BVerfGE 98, 169≫), entlastet den Kläger nicht vom Vorwurf sozialwidrigen Verhaltens. Auch insoweit wird die Vorinstanz der Frage der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit der infolge der Ersatzstrafhaft eingetretenen Hilfebedürftigkeit der Angehörigen des Klägers in Bewertung des der Inhaftierung vorausgehenden Verhaltens des Klägers nachzugehen haben.
Zusammengefasst wird das Berufungsgericht sowohl für die Zeit der Untersuchungshaft wie die der Ersatzstrafhaft die nach den vorstehenden Maßstäben erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen haben, ob das sozialhilferechtlich relevante Verhalten des Klägers vor Antritt der Untersuchungshaft und Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe als sozialwidrig zu beurteilen war.
Unterschriften
Dr. Säcker, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke, Prof. Dr. Berlit
Fundstellen
Haufe-Index 974456 |
FamRZ 2004, 194 |
DÖV 2004, 206 |
FEVS 2004, 110 |
NDV-RD 2004, 4 |
ZfSH/SGB 2004, 27 |
BayVBl. 2004, 216 |
DVBl. 2004, 51 |