Entscheidungsstichwort (Thema)
Niederlassungserlaubnis. Voraufenthaltszeiten. Sieben-Jahres-Frist. Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Titelbesitz. Anrechnung. Aufenthaltszeiten. Asylverfahren. Unterbrechung. Duldung. Ermessen. Integration. Aufenthaltsverfestigung. Kindernachzug. Sicherung des Lebensunterhalts
Leitsatz (amtlich)
1. Auf den für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erforderlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis seit sieben Jahren ist die Aufenthaltszeit des Asylverfahrens, das der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangen ist, nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG auch dann anzurechnen, wenn zwischen dem Abschluss des Asylverfahrens und der ersten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis der Aufenthalt des Ausländers über einen längeren Zeitraum nur geduldet war.
2. Die Ausländerbehörde kann im Rahmen des ihr bei der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG eröffneten Ermessens mit Blick auf die Gesamtumstände des Falles eine gewisse Mindestzeit des Besitzes eines Aufenthaltstitels verlangen und die Gründe für eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Abschluss des Asylverfahrens berücksichtigen.
Normenkette
AufenthG § 9 Abs. 2, § 26 Abs. 4, § 35 Abs. 1, § 102 Abs. 2, § 104 Abs. 2; AuslG 1990 § 35; SGB II § 11
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Urteil vom 30.08.2010; Aktenzeichen 9 A 2034/09) |
VG Darmstadt (Urteil vom 11.12.2008; Aktenzeichen 7 E 1457/07 (2)) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. August 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Rz. 1
Der Kläger, ein 1979 geborener äthiopischer Staatsangehöriger, erstrebt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 26 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Rz. 2
Er reiste im März 1996 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland ein und beantragte im Mai 1996 Asyl. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) – Bundesamt – lehnte den Asylantrag ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz 1990 (AuslG 1990) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG 1990 nicht vorliegen. Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg. Das Asylverfahren ist seit März 2005 rechtskräftig abgeschlossen. Im Mai 2005 erhielt der Kläger von der Ausländerbehörde des Beklagten eine Duldung.
Rz. 3
Im Oktober 2005 beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Nach Vorlage eines gültigen äthiopischen Nationalpasses erteilte ihm die Ausländerbehörde im März 2007 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG. Diese wurde inzwischen bis März 2013 verlängert.
Rz. 4
Am 25. März 2007 beantragte der Kläger die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Diesen Antrag lehnte die Ausländerbehörde mit Bescheid vom 23. Juli 2007 ab. Der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG, da er nicht seit sieben Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei. Auf diese Frist könne die Dauer seines Asylverfahrens nicht angerechnet werden, da sein Aufenthalt danach 22 Monate lang nur geduldet worden sei.
Rz. 5
Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage mit Urteil vom 11. Dezember 2008 im Wesentlichen stattgegeben und den Beklagten zur Neubescheidung verpflichtet. Auf die Sieben-Jahres-Frist sei gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Dauer des vorangegangenen Asylverfahrens anzurechnen. Dem stehe nicht entgegen, dass der Aufenthalt nach Abschluss des Asylverfahrens bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nur geduldet gewesen sei. Der Beklagte habe daher unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die beantragte Niederlassungserlaubnis zu entscheiden.
Rz. 6
Auf die Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 30. August 2010 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt: Der Kläger erfülle nicht die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Die Aufenthaltszeit während des Asylverfahrens könne nicht angerechnet werden, da § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG den ununterbrochenen Besitz eines Aufenthaltstitels voraussetze. Dieser Grundgedanke sei nicht nur bei der Anrechnung von Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder Duldung vor dem 1. Januar 2005 gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG anzuwenden, sondern gelte auch bei § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG. Die Vorschrift laufe hierdurch nicht leer, da Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von bis zu einem Jahr nach § 85 AufenthG außer Betracht bleiben könnten. Im vorliegenden Fall liege aber eine Unterbrechung von mehr als einem Jahr vor. In dieser Zeit habe der Kläger auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gehabt.
Rz. 7
Der Kläger erstrebt mit seiner Revision die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Er ist der Auffassung, dass bei der Anrechnung nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG – wie bei der Vorgängerregelung in § 35 AuslG 1990 – spätere Unterbrechungen unschädlich seien. Hinsichtlich der weiteren Integrationsvoraussetzungen könne er sich auf § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 AufenthG und auf eine entsprechende Anwendung der Übergangsregelung in § 104 Abs. 2 AufenthG berufen.
Rz. 8
Der Beklagte verteidigt die Entscheidung des Berufungsgerichts.
Entscheidungsgründe
II
Rz. 9
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Berufungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG schon daran scheitert, dass der Kläger im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht die erforderlichen zeitlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt. Unter Verstoß gegen Bundesrecht ist es davon ausgegangen, dass auf die Sieben-Jahres-Frist des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Dauer des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens nicht gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG angerechnet werden kann, weil der Aufenthalt des Klägers nach Abschluss des Asylverfahrens länger als ein Jahr nur geduldet war. Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht selbst abschließend entscheiden kann, ob der Kläger die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt, bei deren Vorliegen die Ausländerbehörde gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG nach Ermessen über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zu entscheiden hat, war die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 10
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens auf Neubescheidung des Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, hier also im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 30. August 2010. Es ist deshalb auf die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) abzustellen, die – soweit hier einschlägig – auch derzeit noch unverändert gelten.
Rz. 11
Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG wird auf die Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG die Zeit des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder Duldung vor dem 1. Januar 2005 angerechnet. Ferner wird gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG – abweichend von § 55 Abs. 3 AsylVfG – die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens auf die Frist angerechnet. Nach § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG kann für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, § 35 AufenthG entsprechend angewandt werden.
Rz. 12
Der Kläger war im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung, also am 30. August 2010, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes. Ihm wurde im März 2007 auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, die inzwischen bis 2013 verlängert wurde. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verfügte der Kläger zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung auch über die nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen vorangegangenen Zeiten eines solchen Titelbesitzes “seit sieben Jahren”.
Rz. 13
Zutreffend ist das Berufungsgericht zunächst davon ausgegangen, dass mit der Voraussetzung des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis “seit sieben Jahren” grundsätzlich ein ununterbrochener Titelbesitz während dieses Zeitraums verlangt wird (vgl. Urteil vom 10. November 2009 – BVerwG 1 C 24.08 – BVerwGE 135, 225 Rn. 15). Nach der Rechtsprechung des Senats stehen den Zeiten des Titelbesitzes Zeiten gleich, in denen der Ausländer zwar keinen Aufenthaltstitel besessen hat, er aber nach der vom Gericht inzident vorzunehmenden Prüfung einen Rechtsanspruch auf den Aufenthaltstitel gehabt hat (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 15). Das Erfordernis eines grundsätzlich durchgehenden Titelbesitzes gilt nach der Rechtsprechung des Senats auch im Rahmen der Anrechnung der Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder Duldung vor dem 1. Januar 2005 gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG. Diese Anrechnungsvorschrift ist im Lichte der von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geforderten qualifizierten Aufenthaltszeit – in Gestalt eines ununterbrochen legalen Aufenthalts, dokumentiert durch den Besitz eines Aufenthaltstitels – und deren Sinn und Zweck auszulegen. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs des Zuwanderungsgesetzes (BTDrucks 15/420 S. 100) ging es dem Gesetzgeber mit der Übergangsregelung darum, “die Ausländer nicht zu benachteiligen, die nach dem Aufenthaltsgesetz eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, jedoch nach dem Ausländergesetz – zum Teil seit vielen Jahren – lediglich eine Duldung erhielten”. Der Gesetzgeber wollte also sowohl die Duldungs- als auch die Aufenthaltsbefugniszeiten vor dem 1. Januar 2005 den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht gleichstellen (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 16). Duldungszeiten nach dem 1. Januar 2005, wie sie bei dem Kläger vorliegen, sind dagegen nicht auf den Sieben-Jahres-Zeitraum anzurechnen.
Rz. 14
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts setzt die Anrechnung der Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG hingegen keinen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Abschluss des Asylverfahrens und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis voraus. Die Regelung in § 26 Abs. 4 AufenthG über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis unter Anrechnung der Aufenthaltszeit des vorangegangenen Asylverfahrens entspricht nach der Gesetzesbegründung der früheren Regelung in § 35 Abs. 1 AuslG 1990 (BTDrucks 15/420 S. 80). Die Wartezeit wurde lediglich von acht Jahren auf nunmehr sieben Jahre verkürzt, um den unter dem Ausländergesetz bestehenden Wertungswiderspruch zu den Einbürgerungsvorschriften zu vermeiden. Außerdem knüpfte die Vorgängerregelung – entsprechend den damals geltenden Aufenthaltstiteln – an den Besitz einer Aufenthaltsbefugnis an. Hinsichtlich der Anrechnungsregelung in § 35 Abs. 1 AuslG 1990 ist der Senat mit Urteil vom 15. Juli 1997 – BVerwG 1 C 15.96 – (Buchholz 402.240 § 35 AuslG 1990 Nr. 2) davon ausgegangen, dass die Zeiten eines Asylverfahrens anzurechnen sind, auch wenn sich daran zunächst nicht anrechenbare Zeiten einer Duldung anschließen und dem Ausländer erst später eine Aufenthaltsbefugnis erteilt wurde. Begründet hat er dies mit dem Zweck des § 35 Abs. 1 AuslG 1990, einen aufgrund des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis bzw. aufgrund vorangegangenen Asylverfahrens grundsätzlich rechtmäßigen und durch seine Dauer verfestigten Aufenthalt aus sozialen und humanitären Gründen in einen rechtlich gesicherten Daueraufenthalt überzuleiten. Dabei ist die vom Asylbewerber in der Regel nicht zu vertretende Dauer des Asylverfahrens zu berücksichtigen, da in diesem Fall die für die Schaffung der Vorschrift maßgeblichen sozialen und humanitären Gründe nicht dem Einflussbereich des Asylbewerbers unterliegen. Den Gesetzesmaterialien zum Zuwanderungsgesetz kann nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber mit der Übernahme der Anrechnungsregelung in das Aufenthaltsgesetz an dieser sich aus der Rechtsprechung des Senats ergebenden Auslegung etwas ändern wollte.
Rz. 15
Die gegenteilige Auslegung des § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG durch das Berufungsgericht würde die Anrechnung der Aufenthaltszeit eines vorangegangenen Asylverfahrens zudem in weiten Teilen leerlaufen lassen. Der Gesetzgeber hat die humanitären Bleiberechte mit dem Zuwanderungsgesetz zwar grundsätzlich neu geregelt. Nach dem Aufenthaltsgesetz steht aber nur Asylberechtigten und Flüchtlingen sowie Ausländern, bei denen das Bundesamt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festgestellt hat, nach § 25 Abs. 1 bis 3 AufenthG ein Ist- bzw. Soll-Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu. In allen anderen Fällen findet ein nahtloser Übergang nach Abschluss des Asylverfahrens in einen humanitären Aufenthaltstitel hingegen in aller Regel schon deswegen nicht statt, weil dessen Erteilung im Ermessen der Ausländerbehörde liegt und die Klärung der tatbestandlichen Voraussetzungen häufig einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt. Der Senat hält daher auch hinsichtlich der Neuregelung in § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG an seiner Auffassung fest, dass für die Anrechnung der Aufenthaltszeit des vorangegangenen Asylverfahrens kein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erforderlich ist.
Rz. 16
Dem steht nicht entgegen, dass der Senat bezüglich der Anrechnung von Aufenthaltszeiten nach § 102 Abs. 2 AufenthG zu dem Ergebnis gekommen ist, dass hier die anrechenbaren Zeiten nahtlos in den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen übergehen müssen und Unterbrechungen nur über § 85 AufenthG geheilt werden können (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 16 f.). Diese Übergangsregelung unterscheidet sich nach Sinn und Zweck von der Anrechnung nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG. Der Gesetzgeber wollte mit § 102 Abs. 2 AufenthG – wie dargelegt – Duldungs- und Aufenthaltsbefugniszeiten nach dem Ausländergesetz den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht gleichstellen. Demgegenüber wird nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Dauer des vorangegangenen Asylverfahrens bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auf die geforderte Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet, weil sie bei typisierender Betrachtung vom Ausländer nicht zu vertreten, sondern allein der Einflusssphäre des Staates zuzuordnen ist.
Rz. 17
Eine unverhältnismäßige Privilegierung von Ausländern, die ohne Erfolg ein Asylverfahren durchgeführt haben, ist mit dieser Auslegung der Anrechnungsregelung in § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG nicht verbunden. Sie führt insbesondere nicht dazu, dass dieser Personenkreis eine Niederlassungserlaubnis nach kürzerer Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis erhalten kann als Ausländer, deren Asylverfahren Erfolg hatte. Asylberechtigte und Flüchtlinge haben unter den Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 AufenthG nach drei Jahren des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Auf diese Frist wird die Dauer des vorangegangenen Asylverfahrens nicht angerechnet. Dessen ungeachtet kann Asylberechtigten und Flüchtlingen bei entsprechender Integration aber auch vor Ablauf von drei Jahren nach § 26 Abs. 4 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis unter Anrechnung der Aufenthaltszeit ihres Asylverfahrens erteilt werden (vgl. Nr. 26.4.2. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 ≪GMBl S. 878≫ – VV AufenthG –).
Rz. 18
Da die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde liegt, hat der Ausländer bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Bei der Ausübung des Ermessens ist es der Ausländerbehörde – ungeachtet der gesetzlich angeordneten Anrechnung des Asylverfahrens auf die Sieben-Jahres-Frist – nicht verwehrt, mit Blick auf die Gesamtumstände des Falles eine gewisse Mindestzeit des rechtmäßigen Aufenthalts auf der Grundlage eines Aufenthaltstitels zu verlangen (vgl. etwa die Drei-Jahres-Regelung in Nr. 26.4.1.5 der Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin vom 15. April 2011). Denn der während eines Asylverfahrens lediglich gestattete (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und in Sonderfällen (etwa bei Stellung eines Folgeantrags) nur geduldete Aufenthalt stellt nicht in jedem Fall eine vollwertige Grundlage für eine Integration in die hiesigen Verhältnisse dar. Ist es nach Abschluss des Asylverfahrens zu einer Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts gekommen, etwa weil der weitere Aufenthalt des Ausländers infolge Passlosigkeit zunächst nur geduldet wurde, kann die Ausländerbehörde auch die Gründe dieser Unterbrechung berücksichtigen, soweit sich hieraus Rückschlüsse auf die Integration des Ausländers ergeben.
Rz. 19
2. Erfüllt der Kläger über die Anrechnung der Aufenthaltszeit seines vorangegangenen Asylverfahrens nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, hängt der Ausgang des Verfahrens – was vom Verwaltungsgericht bei seiner Verpflichtung zur Neubescheidung verkannt wurde – davon ab, ob der Kläger auch die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 26 Abs. 4 AufenthG erfüllt. Mangels entsprechender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts kann der Senat hierüber nicht selbst abschließend entscheiden.
Rz. 20
a) Allerdings wird das Berufungsgericht dabei nicht auf die erleichterten Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG abstellen können. Nach § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG kann für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres eingereist sind, § 35 AufenthG entsprechend angewandt werden. Damit sollte Kindern mit einem humanitären Aufenthaltsrecht die Aufenthaltsverfestigung unter den gleichen Voraussetzungen ermöglicht werden, wie sie bei Kindern gelten, die einen zum Zweck der Familienzusammenführung erteilten Aufenthaltstitel besitzen (BTDrucks 15/420 S. 80). Dies bedeutet, dass Kinder mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis die entsprechenden Voraussetzungen für eine Aufenthaltsverfestigung erfüllen müssen, wie sie für Kinder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen in § 35 AufenthG gefordert werden (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 24). Das ist bei dem Kläger indes nicht der Fall.
Rz. 21
Die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllt der im Alter von 16 Jahren eingereiste Kläger nicht, weil er nicht – wie erforderlich – im Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen war.
Rz. 22
Die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG liegen bei ihm ebenfalls nicht vor. Diese Bestimmung verlangt u.a., dass der Ausländer volljährig und seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist (Nr. 1). Sie sieht damit die privilegierte Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch an volljährig gewordene Kinder vor, erfasst aber, wie sich aus einer Zusammenschau mit Satz 1 und der Gesamtregelung des Kindernachzugs in diesem Abschnitt ergibt, nach ihrem Sinn und Zweck nur die Fälle, in denen eine schon während der Minderjährigkeit erteilte Aufenthaltserlaubnis wegen Ablaufs des Fünf-Jahres-Zeitraums erst nach Eintritt der Volljährigkeit zu einem Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis führt. Die Aufenthaltserlaubnis, die die Grundlage für die spätere Verfestigung des Aufenthalts bildet, muss also dem minderjährigen Kind erteilt worden sein; allenfalls der Ablauf des Fünf-Jahres-Zeitraums kann nach Eintritt der Volljährigkeit liegen. Verlangt aber § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, dass die Aufenthaltserlaubnis zum Kindernachzug dem Minderjährigen erteilt worden ist, so muss dies – übertragen auf die humanitäre Aufenthaltserlaubnis – auch bei entsprechender Anwendung der Vorschrift nach § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG gelten (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 24).
Rz. 23
Der Kläger war bei Eintritt der Volljährigkeit weder im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis noch hatte er einen Rechtsanspruch auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels. Dass er als Minderjähriger eingereist war und sich bei Eintritt der Volljährigkeit in einem laufenden Asylverfahren befand, genügt vorliegend nicht für eine entsprechende Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Über die Regelung in § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG sollen Kinder, die im Besitz eines humanitären Aufenthaltstitels sind, unter den gleichen Bedingungen wie Kinder, die im Besitz eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen sind, eine Niederlassungserlaubnis erhalten können. Soweit § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch für inzwischen volljährig gewordene Kinder Erleichterungen bei der Aufenthaltsverfestigung vorsieht, ist allerdings erforderlich, dass die rechtliche Grundlage für die Aufenthaltsverfestigung vor Vollendung der Volljährigkeit geschaffen wurde und seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen fortbesteht. Selbst wenn man im Rahmen einer entsprechenden Anwendung des § 35 AufenthG zugunsten des Klägers die Aufenthaltszeit des vorangegangenen Asylverfahrens dem Besitz eines humanitären Aufenthaltstitels gleichstellen würde, lägen diese Voraussetzungen hier nicht vor, da der Aufenthalt des Klägers nach Abschluss des Asylverfahrens über einen längeren Zeitraum lediglich geduldet und damit nicht rechtmäßig war. Jedenfalls bei einer derartigen Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kommt eine entsprechende Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht.
Rz. 24
b) Das Berufungsgericht wird deshalb prüfen müssen, ob die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis im Ermessenswege nach § 26 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG vorliegen.
Rz. 25
Dabei kann der Kläger sich hinsichtlich der Integrationsvoraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 7 und 8 AufenthG nicht auf § 104 Abs. 2 AufenthG berufen. Danach ist bei Ausländern, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis hinsichtlich der sprachlichen Kenntnisse nur erforderlich, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können, und es findet § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 AufenthG keine Anwendung. Mit dieser Übergangsregelung wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass Ausländern, die bei Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes bereits im Besitz eines Aufenthaltstitels waren, bei der weiteren Aufenthaltsverfestigung keine Rechtsnachteile erwachsen (BTDrucks 15/420 S. 100). Der Kläger war bei Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes am 1. Januar 2005 aber nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels. Allein der Umstand, dass zu diesem Zeitpunkt sein Asylverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen und sein Aufenthalt damit gestattet und nicht rechtswidrig war, steht dem geforderten förmlichen Besitz eines Aufenthaltstitels nicht gleich.
Rz. 26
Bei der Prüfung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens nach § 26 Abs. 4 AufenthG hat das Berufungsgericht auch der Frage nachzugehen, ob der Lebensunterhalt des Klägers gesichert ist (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Dies ist nach der gesetzlichen Definition in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Diese Prognose erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Dabei richtet sich die Ermittlung des Unterhaltsbedarfs und des zur Verfügung stehenden Einkommens bei erwerbstätigen Ausländern im Grundsatz nach den entsprechenden Bestimmungen des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II). Folglich sind bei der Berechnung des Hilfebedarfs auch die Bestimmungen über das zu berücksichtigende Einkommen nach § 11 SGB II in der jetzt geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (BGBl I S. 850) zu beachten (vgl. zur bis zum 1. April 2011 geltenden Fassung Urteil vom 16. November 2010 – BVerwG 1 C 21.09 – zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE bestimmt, Rn. 20, InfAuslR 2011, 182).
Rz. 27
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Richter, Beck, Prof. Dr. Kraft, Fricke
Fundstellen
Haufe-Index 2801153 |
BVerwGE 2012, 332 |
DÖV 2012, 163 |
InfAuslR 2012, 55 |
VR 2012, 107 |
ZAR 2012, 253 |
DVBl. 2011, 1565 |
DVBl. 2011, 3 |
SächsVBl. 2012, 2 |