Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Aktenzeichen 23 B 99.33033) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2000 in der Fassung vom 31. Mai 2000 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die 1954 im Nordirak in Arbil geborene Beigeladene zu 1 ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie kam mit ihren 1987 und 1990 geborenen Kindern, den Beigeladenen zu 2 und 3, im März 1997 nach Deutschland und beantragte Asyl. Zur Begründung trug sie im Wesentlichen vor, sie habe in Arbil u.a. für die Frauenorganisation der Yeketi-Partei gearbeitet. Wegen des Angriffs der irakischen Armee auf die Stadt im August 1996 und des Einmarsches der von den irakischen Truppen unterstützten kurdischen Gegenpartei sei ihr Leben in Gefahr gewesen. Sie sei deshalb mit ihrer Familie über Dohuk in die Türkei und von dort nach Deutschland weitergereist. Ihr Ehemann, der arabischer Volkszugehöriger sei, sei in der Türkei zurückgeblieben und von dort möglicherweise wieder in das kurdische Gebiet des Irak zurückgeschoben worden.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Anerkennung der Beigeladenen als Asylberechtigte ab, stellte aber fest, dass bei ihnen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen (Nr. 2 des Bescheides).
Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) abgewiesen. Auf die Berufung des Bundesbeauftragten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Nr. 2 des Bescheides des Bundesamts aufgehoben. Der Schutz nach § 51 Abs. 1 AuslG stehe den Beigeladenen schon deshalb nicht zu, weil im kurdisch beherrschten Nordirak gegenwärtig weder staatliche Gewalt des Irak noch staatsähnliche Gewalt der Kurden bestehe. Auch Gewalt durch Agenten des zentralirakischen Regimes könne in diesem Gebiet keine politische Verfolgung darstellen.
Auf die Revision der Beigeladenen hat das Bundesverwaltungsgericht den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben, weil er die hier anzuwendenden Grundsätze einer inländischen Fluchtalternative nicht berücksichtigt hat, und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat daraufhin die Berufung zurückgewiesen und damit die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugunsten der Beigeladenen bestätigt. Die Beigeladenen seien zwar unverfolgt ausgereist, weil sie nicht glaubhaft gemacht hätten, dass sie seinerzeit politische Verfolgung durch den irakischen Staat hätten befürchten müssen. Wegen ihrer ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland hätten sie jedoch bei einer Rückkehr im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen insbesondere in Form einer übermäßigen Bestrafung zu befürchten. Dies gelte für die Beigeladenen zu 2 und 3 auch unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft. Wenn sie ohne ihre Mutter in den Irak zurückkehrten, liefen sie nämlich Gefahr, vom irakischen Staat als Geiseln benutzt zu werden mit dem Ziel, die Rückkehr ihrer Mutter zu erzwingen. Grundsätzlich könnten die Beigeladenen allerdings auf den kurdisch beherrschten Nordirak verwiesen werden. Dort seien sie, da sie sich nicht politisch exponiert hätten, hinreichend sicher. Weil Herkunftsort und Ort der inländischen Fluchtalternative identisch seien, drohten den Beigeladenen dort auch keine anderen unzumutbaren Nachteile. Allerdings könne einem vernünftig denkenden, besonnenen Iraker aus dem Nordirak eine wohlbegründete Furcht vor einem jederzeit möglichen Wiedereinmarsch der Streitkräfte des irakischen Staates und vor einer Wieder-Inbesitznahme der drei kurdischen Provinzen nicht abgesprochen werden. Selbst bei einem solchen Wiedereinmarsch hätten die Beigeladenen indes keine asylrelevanten Maßnahmen zu befürchten, da nichts dafür spreche, dass den irakischen Machthabern dann ihre Ausreise und Asylantragstellung bekannt würden. Der den Beigeladenen danach grundsätzlich offen stehende Schutz vor politischer Verfolgung im Nordirak scheitere jedoch letztlich daran, dass sie diese sichere Fluchtalternative nicht freiwillig zumutbar erreichen könnten. Sie seien nicht im Besitz gültiger irakischer Reisepapiere. Ohne solche Reisedokumente sei eine Durchreise durch Syrien, die Türkei oder den Iran in den sicheren Nordirak nicht möglich. Den Beigeladenen könne auch nicht zugemutet werden, bei der irakischen Auslandsvertretung in der Bundesrepublik Deutschland Pässe oder Rückreisepapiere zu beantragen, da so ihre ungenehmigte Ausreise bekannt und zwangsläufig auch die Asylantragstellung im westlichen Ausland vermutet würde. Dafür, dass den Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die für die Türkei auch als Grundlage für ein Transit-Visum genügten, seien konkrete Anhaltspunkte weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Bundesbeauftragte macht mit der Revision geltend, das Berufungsgericht habe unter Verstoß gegen Bundesrecht die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG von der Unerreichbarkeit des Gebiets einer inländischen Fluchtalternative abhängig gemacht. Dem Berufungsgericht hätten sich außerdem weitere Aufklärungsmaßnahmen zu der Frage aufdrängen müssen, ob die Beigeladenen für eine Rückreise unmittelbar in den Nordirak die erforderlichen Reisepapiere erlangen könnten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Zurückweisung der Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
Revisionsrechtlich im Ergebnis nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass den Beigeladenen wegen ihrer ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung in Deutschland bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen drohen, dass ihnen im kurdisch beherrschten Nordirak jedoch grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Dabei kann offen bleiben, ob das Berufungsgericht bei seiner Gefahrenprognose für die minderjährigen Beigeladenen zu 2 und 3 zu Recht von einer isolierten Rückkehr der Kinder ohne ihre Mutter, die Beigeladene zu 1, ausgegangen ist. Aus dem vom Berufungsgericht herangezogenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. September 1999 – BVerwG 9 C 12.99 – (BVerwGE 109, 305, 308) ergibt sich dies jedenfalls nicht ohne weiteres, da dort nur entschieden worden ist, dass eine derartige Hypothese im Falle einer rechtskräftigen Feststellung von Asyl oder Abschiebungsschutz wegen politischer Verfolgung zugunsten der Eltern geboten ist. Eine solche Feststellung liegt aber zugunsten der Mutter der Beigeladenen zu 2 und 3 nicht vor, da ihr Asylverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Da das Berufungsgericht indes unabhängig davon festgestellt hat, dass den Beigeladenen zu 2 und 3 schon wegen ihrer ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung in Deutschland – und damit auch bei einer gemeinsamen Rückkehr mit der Mutter – asylerhebliche Verfolgung droht, und dieser Gesichtspunkt die Annahme eines eigenen Nachfluchtgrundes für die Kinder selbständig trägt, kommt es auf die Frage der richtigen Hypothese für die Gefahrenprognose hier im Ergebnis nicht an.
Die Beigeladenen dürfen allerdings – wie das Berufungsgericht im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat – nur dann auf das Gebiet der inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn sie es, sei es auch nur freiwillig, in zumutbarer Weise erreichen können. Asylrechtlich unbeachtlich ist für den im Ausland befindlichen Asylbewerber dabei die nur vorübergehende Nichterreichbarkeit der sicheren Gebiete, etwa infolge unterbrochener Verkehrsverbindungen oder typischerweise behebbarer Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa. Die Anerkennung des Asylbewerbers als politischer Flüchtling nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG in Verbindung mit Art. 1 A GFK ist in solchen Fällen mithin erst gerechtfertigt, wenn feststeht, dass ihm die Rückkehr in eine sichere Region des Heimatstaates, die auch sonst alle Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative erfüllt, dauerhaft nicht zumutbar möglich ist. Dies hat der Senat mit dem gleichzeitig in der Sache 9 C 16.00 ergangenen Urteil (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden. Hierauf wird verwiesen.
Es mag dahinstehen, ob die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den grundsätzlich in Frage kommenden Rückreisewegen in den Nordirak durch Syrien, den Iran oder die Türkei die rechtliche Schlussfolgerung des Berufungsgerichts tragen, die Beigeladenen könnten das sichere Gebiet nicht freiwillig zumutbar erreichen, und ob das Berufungsgericht damit die dauerhafte Nichterreichbarkeit gemeint hat. Das Berufungsurteil kann jedenfalls deshalb keinen Bestand haben, weil diese auch aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen Feststellungen vom Bundesbeauftragten erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen werden. Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), und das Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht einen Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Zur Klärung der Frage, ob die Beigeladenen ohne gültige irakische Reisepapiere vor allem über die Türkei in den Nordirak einreisen können, hätte sich das Berufungsgericht nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, konkrete Anhaltspunkte dafür, dass den Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die der Türkei als Grundlage für ein Transitvisum genügten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Gerade vor dem Hintergrund des auch vom Berufungsgericht gewürdigten Erlasses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 31. Oktober 1997 an die nachgeordneten Ausländerbehörden, wonach ausreisepflichtigen (passlosen) irakischen Staatsangehörigen bis zu einer gegenteiligen Erfahrung zur Ausreise in den Irak ein Reisedokument auszustellen und Gelegenheit zum Eintrag eines türkischen Visums zu geben sei, hätten sich dem Berufungsgericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag des Bundesbeauftragten weitere Erkundigungen beim Staatsministerium des Innern und beim Auswärtigen Amt dazu aufdrängen müssen, ob und inwieweit auf der angesprochenen Grundlage die freiwillige Rückkehr in den Nordirak möglich ist, insbesondere ob und in welchem Umfang solche Reisepapiere und Transitvisa bereits erteilt worden sind.
Das Berufungsgericht muss die unterlassene Aufklärung nunmehr nachholen. Entsprechende Auskünfte hat das Berufungsgericht im Übrigen ausweislich der vom Bundesbeauftragten im Revisionsverfahren vorgelegten Unterlagen, die hier als neue Tatsachen allerdings nicht berücksichtigt werden können, zwischenzeitlich eingeholt und gestützt darauf in jüngeren Entscheidungen die Erreichbarkeit des Nordirak über die Türkei angenommen.
Unterschriften
Dr. Paetow, Hund, Richter, Beck, Dr. Eichberger
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 16.01.2001 durch Battiege Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen