Entscheidungsstichwort (Thema)
Wehrpflicht. allgemeine Wehrpflicht. Wehrgerechtigkeit
Leitsatz (amtlich)
Vermindert sich der Bedarf der Bundeswehr an Wehrpflichtigen, kann dies dazu führen, dass sich zwischen der Zahl der für die Bundeswehr verfügbaren und der Zahl der tatsächlich einberufenen Wehrpflichtigen eine Lücke auftut, die mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit nicht mehr vereinbar ist. Unter solchen Voraussetzungen muss der Gesetzgeber reagieren, um durch eine Neuregelung der Verfügbarkeitskriterien oder auf andere Weise für verfassungsgemäße Zustände zu sorgen.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12a; WPflG §§ 5, 8a, 9, 21
Verfahrensgang
VG Köln (Urteil vom 21.04.2004; Aktenzeichen 8 K 154/04) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21. April 2004 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Köln zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der am … 1982 geborene Kläger wurde mit Bescheid vom 10. Mai 2002 als wehrdienstfähig, und zwar “verwendungsfähig mit Einschränkung für bestimmte Tätigkeiten” (T2) gemustert. Aufgrund einer ärztlichen Nachuntersuchung vom 4. September 2003 erhielt er mit Bescheid vom 19. September 2003 erneut den Tauglichkeitsgrad wehrdienstfähig (T2). Zugleich wurde der Antrag vom 13. August 2003 auf Zurückstellung vom Wehrdienst im Hinblick auf ein zwischenzeitlich begonnenes Studium mit der Begründung abgelehnt, das Studium könne noch nicht als weitgehend gefördert gelten. Gegen die Ablehnung des Zurückstellungsantrages legte der Kläger mit Schreiben vom 23. September 2003 Widerspruch ein.
Mit Bescheid vom 7. November 2003 berief die Beklagte den Kläger zum neunmonatigen Grundwehrdienst ab dem 1. Januar 2004 nach G.… ein. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 18. November 2003 Widerspruch ein, weil der Grundwehrdienst für ihn eine besondere Härte bedeuten würde.
Die Wehrbereichsverwaltung West wies mit Bescheid vom 1. Dezember 2003 den Widerspruch vom 23. September 2003 gegen den Bescheid vom 19. September 2003 sowie den Widerspruch vom 18. November 2003 gegen den Einberufungsbescheid vom 7. November 2003 zurück. Der Ausbildungsabschnitt könne erst als weitgehend gefördert gelten, wenn der Wehrpflichtige zum festgesetzten Einberufungszeitpunkt mindestens ein Drittel der für den Ausbildungsabschnitt vorgeschriebenen Ausbildungszeit absolviert habe. Dies sei am 1. Januar 2004 bei dem auf neun Semester veranschlagten Studium des Klägers noch nicht der Fall.
Daraufhin hat der Kläger am 13. Dezember 2003 Klage erhoben (VG 8 K 9442/03). Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 5. Januar 2004 den Streit um die Einberufung abgetrennt (VG 8 K 154/04). Über den Rechtsstreit um die Zurückstellung (VG 8 K 9442/03) ist noch nicht entschieden worden.
Im vorliegenden Klageverfahren um die Einberufung hat der Kläger an seinem Vorbringen festgehalten, sein Studium sei bereits weitgehend gefördert. Außerdem sei er auf einen Reservelistenplatz für die Kreistagswahl vom Kreisparteitag der FDP gewählt worden.
Der Kläger hat beantragt,
den Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Köln vom 7. November 2003 und den Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung West vom 1. Dezember 2003 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgebracht, sie übe das ihr zustehende Einberufungsermessen allein im öffentlichen Interesse im Sinne einer optimalen Personalbedarfsdeckung aus. Daran änderten die ab 1. Juli 2003 geltenden Einberufungsrichtlinien nichts, denn auch diese seien gerade an dem Kriterium der Bedarfsdeckung orientiert. Die Einberufungspraxis werde in Zukunft nicht mehr von der Geburtenstärke eines Jahrganges abhängig sein, sondern allein von der Bedarfslage. Den hierfür sich ergebenden höheren Anforderungen werde durch den Wegfall des Verwendungsgrades T 3 Rechnung getragen. Die Neuorientierung der Streitkräfte und die erforderliche Reaktion auf veränderte Aufgabenstellungen habe daher zu den neuen Heranziehungsrichtlinien geführt, um schnell und effizient auf die Bedarfsdeckungslage reagieren zu können. Diese Richtlinien würden in das Wehrpflichtgesetz übernommen werden. Im Jahre 2003 sei von einer sog. Veranschlagungsstärke (VAS) von 94 390 Stellen ausgegangen worden, auf deren Grundlage wegen der unterjährigen Dauer des Grundwehrdienstes 102 600 Wehrpflichtige ihren Dienst angetreten hätten. Für das Jahr 2004 ergäben sich bei einer VAS von 73 500 etwa 80 000 Einberufungen. Die Zielstruktur der Bundeswehr gehe künftig von 50 000 Stellen für Wehrpflichtige aus, so dass von diesem Zeitpunkt an mit 58 000 Einberufungen jährlich zu rechnen sei.
Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil vom 21. April 2004 antragsgemäß den Einberufungsbescheid aufgehoben. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, die Einberufung des Klägers sei willkürlich. Zwar habe ein Wehrpflichtiger, der sich nicht auf eine gesetzliche Wehrdienstausnahme berufen könne, kein Recht darauf, vom Wehrdienst verschont zu werden. Der Kläger könne sich aber gegen seine Einberufung mit der Behauptung wehren, willkürlich diskriminiert zu werden. Von einer derartigen willkürlichen, weil von sachgerechten Erwägungen der Wehrgerechtigkeit nicht mehr getragenen Einberufungsentscheidung sei nach der neuen Einberufungspraxis aufgrund der seit dem 1. Juli 2003 geltenden Einberufungsrichtlinien auszugehen. Diese Praxis verstoße gegen den vom Bundesverfassungsgericht betonten Grundsatz der Wehrgerechtigkeit. Mit den neuen Einberufungsrichtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung werde ein derart großer Personenkreis von der Ableistung des Wehrdienstes ausgenommen, dass gerade nicht mehr davon ausgegangen werden könne, dass die Wehrgerechtigkeit noch gewahrt sei. Denn danach werde nur noch jeder Dritte – und damit nicht mehr der ”überwiegende Teil der Wehrpflichtigen” – einberufen.
Ausgehend von den Angaben des Statistischen Bundesamtes für die männlichen Lebendgeborenen ergäben sich für den Jahrgang des Klägers 442 759 männliche Lebendgeborene, denen 434 301 erfasste Wehrpflichtige gegenüberstünden. Auch für die Jahrgänge vor dem Kläger sei insoweit eine Differenz von rund 10 000 männlichen Personen festzustellen. Die Tabellen 1d, 2c, 2d, 3a und 3b in der Bundestags-Drucksache 14/5857 zeigten schließlich auf, dass von den restlichen jungen Männern durchschnittlich 15 % aller Wehrpflichtigen pro Jahrgang nicht hätten herangezogen werden können, weil sie nicht wehrdienstfähig gewesen seien oder ihnen Wehrdienstausnahmen, wie z.B. Befreiung oder Zurückstellung zur Seite gestanden oder sie einen anderen Dienst, z.B. bei der Polizei oder dem Katastrophenschutz geleistet hätten oder weil sie – aus welchen Gründen auch immer – nach Vollendung des 25. Lebensjahres nicht mehr hätten einberufen werden können. Von den hiernach zur Verfügung stehenden jungen Männern seien von 2000 bis 2004 in jedem Jahr etwa 140 000 als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden. Hiernach lasse sich feststellen, dass insgesamt zwischen 200 000 und 220 000 wehrpflichtige Männer zur Ableistung des Wehrdienstes herangezogen werden könnten. Diese Zahl könne sich sogar noch erhöhen, wenn der gegenwärtig festzustellende Trend zurückgehender Anträge auf Kriegsdienstverweigerung anhalte. Sie werde sich zudem allein dadurch noch erheblich erhöhen, dass bis 1990 sehr geburtenstarke Jahrgänge zur Verfügung stehen würden (1990: 465 379 Lebendgeborene).
Dieser Zahl der wehrdienstfähigen Männer stehe für das laufende Jahr – 2004 – ein Bedarf von 73 500 VAS gegenüber, was ca. 80 000 Einberufungsmöglichkeiten im Jahr ergebe. Konkret bedeute dies, dass von 220 000 einberufbaren jungen Männern tatsächlich nur gut ein Drittel, nämlich 80 000, tatsächlich Wehrdienst leisten müssten. Dieses Verhältnis verschiebe sich künftig aufgrund der Neustrukturierung der Bundeswehr zum Nachteil der Wehrgerechtigkeit, wenn bei steigenden Jahrgangsstärken nur noch 58 000 junge Männer pro Jahr (50 000 VAS) einberufen würden. Selbst die Beklagte gehe davon aus, dass unter Berücksichtigung der künftigen Struktur für die dann erforderlichen 58 000 Wehrpflichtigen ab 2004 pro Jahrgang 120 000 Wehrpflichtige im Durchschnitt zur Verfügung stünden. Auch dies sei weniger als die Hälfte und damit nicht mehr der von Verfassungs wegen zu fordernde ”überwiegende Teil der Wehrpflichtigen”.
Die Beklagte hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt und u.a. wie folgt begründet: Die im Urteil enthaltenen statistischen Erwägungen zur Wehrgerechtigkeit seien in vielfacher Hinsicht unzutreffend. Bei der Bestimmung der Zahl von Wehrpflichtigen des Geburtsjahrgangs 1982 des Klägers dürfe nicht von 442 759 männlichen Lebendgeborenen in diesem Jahr ausgegangen werden, sondern vom männlichen Anteil der Jahrgangsstärke zum Ende der für den Grundwehrdienst festgesetzten Regelheranziehungsgrenze abzüglich derjenigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit; das Verwaltungsgericht habe die Zahl deutlich zu hoch angesetzt.
Die vom Verwaltungsgericht angenommene Zahl von lediglich 15 % eines Jahrganges zum Wehrdienst herangezogener Wehrpflichtiger sei viel zu niedrig bemessen. Es dürfe nur auf ausgeschöpfte Jahrgänge abgestellt werden; auf diese bezogen lägen die Zahlen bei 22 % und 24 %. Das Verwaltungsgericht habe die Anzahl von aufgrund von Wehrdienstausnahmen nicht heranziehbaren Wehrpflichtigen zu gering angesetzt. Schließlich seien in den Urteilsgründen geburtsjahrgangsbezogene und kalenderjahrgangsbezogene Zahlen vermischt worden. Auch die Zahl der anerkannten Kriegsdienstverweigerer sei zu niedrig angesetzt worden.
Für die Wehrgerechtigkeit maßgeblich sei der Prozentsatz der herangezogenen einberufbaren Wehrpflichtigen eines ausgeschöpften Jahrgangs. Bei den ausgeschöpften Jahrgängen 1970 bis 1975 habe der Anteil von Grundwehrdienstleistenden an den für den Grundwehrdienst verfügbaren Wehrpflichtigen am 31. Dezember 2000 bei deutlich über 90 % gelegen; bei den noch nicht ausgeschöpften Jahrgängen 1976 bis 1981 liege der Anteil zwischen 89 % und 50 %. Lediglich der damals jüngste Jahrgang 1982 habe erst eine Quote von 39 % ausgewiesen. Im Durchschnitt aller Jahrgänge betrage der Anteil der Grundwehrdienstleistenden an den für den Grundwehrdienst verfügbaren Wehrpflichtigen 82,49 %; nehme man die Soldaten auf Zeit hinzu, wachse der Anteil sogar auf über 84 %. Für den Geburtsjahrgang 1982 des Klägers habe im März 2004 der Anteil der Grundwehrdienstleistenden an den für den Grundwehrdienst Verfügbaren 65 % betragen, unter Berücksichtigung der Soldaten auf Zeit 67 %; eine endgültige Aussage über den Ausschöpfungsgrad werde sich für diesen Jahrgang erst mit Erreichung der Regelheranziehungsgrenze Ende 2005 treffen lassen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21. April 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Rechtswidrigkeit des Einberufungsbescheids vom 7. November 2003 festgestellt wird.
Der Kläger verteidigt das von ihm für richtig gehaltene Urteil des Verwaltungsgerichts.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dies führt zu seiner Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Die gegen den Einberufungsbescheid vom 7. November 2003 gerichtete Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) des Klägers hat sich durch Zeitablauf erledigt, weil der darin bestimmte Zeitraum von neun Monaten ab dem 1. Januar 2004 zur Ableistung des Grundwehrdienstes inzwischen verstrichen ist (vgl. auch § 29 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 WPflG). Der Kläger hat aber ein im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) weiterhin verfolgbares Interesse an einem gerichtlichen Ausspruch über die Rechtswidrigkeit des Bescheides, weil er mit seiner erneuten Einberufung rechnen muss.
2. Der Einberufungsbescheid vom 7. November 2003 ist nicht aus den vom Verwaltungsgericht angenommenen Gründen rechtswidrig (a). Ob er aus anderen Gründen rechtlich zu beanstanden ist, vermag der Senat anhand der bisher vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht zu beurteilen (b).
a) Der angegriffene Einberufungsbescheid ist im maßgeblichen Zeitpunkt (aa) weder unter dem Gesichtspunkt der Willkür (bb) noch unter demjenigen der Wehrgerechtigkeit (cc) rechtswidrig gewesen.
aa) Bei Anfechtungsklagen gegen einen Einberufungsbescheid ist die Sach- und Rechtslage im darin festgesetzten Gestellungszeitpunkt maßgebend (Urteil vom 22. Juni 1984 – BVerwG 8 C 83.82 – Buchholz 448.0 § 21 WPflG Nr. 33). Das war hier Anfang Januar 2004.
bb) Rechtsgrundlage für die Einberufung des Klägers war § 21 Abs. 1 Satz 1 WPflG in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Februar 2002 (BGBl I S. 954) und des Änderungsgesetzes vom 9. August 2003 (BGBl I S. 1593). Danach werden ungediente Wehrpflichtige von den Kreiswehrersatzämtern aufgrund der Einberufungsanordnungen des Bundesministeriums der Verteidigung in Ausführung des Musterungsbescheides zum Wehrdienst einberufen. Die Einberufungspraxis der Beklagten war im entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Hinblick auf sog. administrative Wehrdienstausnahmen rechtswidrig (1), sie war allerdings nicht willkürlich, so dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der Einberufungspraxis nicht als Rechtsfehler seinem Einberufungsbescheid entgegenhalten konnte (2).
(1) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Einberufungspraxis, die über die gesetzlich geregelten Wehrdienstausnahmen hinaus einzelne Wehrpflichtige oder Gruppen von Wehrpflichtigen grundsätzlich nicht zur Dienstleistung heranzieht und damit faktisch zurückstellt, wegen Verstoßes gegen den Gesetzesvorbehalt rechtswidrig. Die vorübergehende oder dauernde Nichtheranziehung von Wehrpflichtigen zum Wehrdienst wegen eines das öffentliche Interesse an der alsbaldigen Einberufung überwiegenden privaten Interesses lässt das Wehrpflichtgesetz nur unter den tatbestandlichen Voraussetzungen einer Wehrdienstausnahme (§§ 9 ff. WPflG) zu. Die Wehrdienstausnahmen – namentlich die Befreiung und Zurückstellung vom Wehrdienst – sind im Wehrpflichtgesetz abschließend geregelt. Änderungen und Erweiterungen obliegen ausschließlich dem Gesetzgeber. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften nicht erfüllt, darf ein Wehrpflichtiger von Rechts wegen auch dann nicht vom Wehrdienst zurückgestellt oder gar befreit werden, wenn der Personalbedarf der Bundeswehr anderweitig gedeckt werden könnte (vgl. Urteile vom 19. Juni 1974 – BVerwG 8 C 89.73 – BVerwGE 45, 197 ≪200 f.≫ und vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 20.92 – BVerwGE 92, 153, 154 f.).
Die Wehrgerechtigkeit gebietet eine normative Ausgestaltung der Wehrdienstausnahmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. November 1974 – 2 BvL 6/71 – BVerfGE 38, 154 ≪167 f.≫). Die Einberufungsanordnungen des Bundesministers der Verteidigung (§ 21 WPflG) müssen sich – wie das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 13. April 1978 – 2 BvF 1/77 u.a. – BVerfGE 48, 127 ≪162 f.≫) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hervorgehoben hat – strikt im Rahmen des Wehrpflichtgesetzes halten. Sie dürfen über die gesetzlich vorgezeichneten Wehrdienstausnahmen hinaus weder einzelne Wehrpflichtige noch Gruppen von Wehrpflichtigen von der Wehrdienstleistung grundsätzlich ausnehmen. Daran vermag auch die jeweils aktuelle Personalbedarfslage nichts zu ändern (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. April 1978, a.a.O. S. 163).
Diese Rechtslage lässt für sog. administrative Wehrdienstausnahmen, wonach Gruppen von Wehrpflichtigen aufgrund von Erlassen der Wehrverwaltung von der Heranziehung zum Wehrdienst ausgenommen werden, keinen Raum. Bis zum Inkrafttreten des Art. 2 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstgesetzes und anderer Vorschriften (Zweites Zivildienständerungsgesetz – 2. ZDGÄndG) vom 27. September 2004, BGBl I Bl. I S. 2358, zum 1. Oktober 2004 wurde eine Reihe solcher gesetzlich nicht begründeter Wehrdienstausnahmen praktiziert. Im Zeitraum zwischen dem 1. Juli 2003 und 30. September 2004 galten – teilweise im erklärten Vorgriff auf eine von der Beklagten erwartete Änderung von Wehrpflicht- und Zivildienstgesetz – folgende administrativen Wehrdienstausnahmen in Gestalt von Verwaltungsanordnungen des Bundesministeriums der Verteidigung:
– Verzicht auf Einberufung bei Wehrpflichtigen mit abgeschlossenem Ausbildungsvertrag (Az.: 24-05-05 vom 31. März 2003);
– die Erteilung unbefristeter Nichtheranziehungszusagen für verheiratete Wehrpflichtige (ohne Kinder) und Wehrpflichtige, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben (Az.: 24-09-01 vom 11. April 2003);
– der Verzicht auf die Einberufung von Wehrpflichtigen, die älter als 23 Jahre sind (mit Ausnahmeregelungen) (Az.: 24-09-01 vom 11. April 2003);
– die Erteilung von Nichtheranziehungszusagen für Wehrpflichtige, die in der Musterung den Verwendungsgrad T 3 (verwendungsfähig mit Einschränkung in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten) gem. § 8a Abs. 2 Satz 1 WPflG erhalten haben (mit Ausnahmeregelungen) (Az.: 24-09-01 vom 11. und 17. April 2003).
Die vorbezeichneten administrativen Wehrdienstausnahmen verstießen aus den dargelegten Gründen gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Wehrgerechtigkeit. Davon war auch die Nichtheranziehung der mit “T 3” Gemusterten nicht ausgenommen. Indem nämlich der Gesetzgeber in § 8a Abs. 2 Satz 1 WPflG in der bis zum 30. September 2004 geltenden Fassung diejenigen Gemusterten, die nach Maßgabe des ärztlichen Urteils verwendungsfähig mit Einschränkung in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten waren, ausdrücklich der Gruppe der wehrdienstfähigen Wehrpflichtigen zugeordnet hat, hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass auch dieser Personenkreis grundsätzlich für den Wehrdienst zur Verfügung stand (§ 8a Abs. 2 Satz 2 WPflG). Zu dieser Entscheidung des Gesetzgebers standen die zitierten Ministerialerlasse vom 11. und 17. April 2003 in Widerspruch, soweit dort der weitgehende Verzicht auf die Heranziehung der mit “T 3” Gemusterten vorgesehen war.
(2) Bei der Auswahl der einzuberufenden Wehrpflichtigen handeln die Kreiswehrersatzämter nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Maßstab der Entscheidung ist die Eignung im Hinblick auf den Personalbedarf der Streitkräfte. Einberufungen ergehen ausschließlich im öffentlichen Interesse an einer optimalen Personalbedarfsdeckung der Bundeswehr und nicht zugleich auch im privaten Interesse der Wehrpflichtigen. Diese können grundsätzlich nicht verlangen, von einer Einberufung verschont zu bleiben, weil andere Wehrpflichtige zu Unrecht nicht herangezogen werden (“keine Gleichheit im Unrecht”; vgl. Urteil vom 19. Juni 1974, a.a.O. S. 199; Urteil vom 26. Februar 1993, a.a.O. S. 157).
Der Wehrpflichtige braucht aber nicht jede Auswahlentscheidung der Behörde ohne die Möglichkeit der Gegenwehr hinzunehmen. Namentlich kann er verlangen, dass die Behörde über seine Heranziehung oder Nichtheranziehung zum Wehrdienst frei von Willkür, d.h. ohne die Absicht entscheidet, ihn in sachwidriger Weise zu benachteiligen. In einem derartigen Fall liegt nicht nur ein Missbrauch des der Behörde eingeräumten Ermessens und damit eine Verletzung von objektivem Recht, sondern darüber hinaus auch ein Übergriff in die verfassungsrechtlich geschützte Individualrechtssphäre des Wehrpflichtigen vor, die dieser abzuwehren berechtigt ist. Denn kein Bürger braucht im Rechtsstaat eine ihn gezielt benachteiligende Willkürentscheidung der Behörde zu dulden; vielmehr kann er unter Berufung auf das jeweils berührte Grundrecht die Aufhebung dieser Entscheidung oder ihrer benachteiligenden Wirkungen erreichen (vgl. Urteil vom 22. Januar 2003 – BVerwG 6 C 18.02 – Buchholz 448.0 § 48 WPflG Nr. 3 S. 5; Urteil vom 17. September 2003 – BVerwG 6 C 4.03 – Buchholz 448.0 § 48 WPflG Nr. 4 S. 8 m.w.N.). Die wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung rechtswidrige Praxis sog. administrativer Wehrdienstausnahmen führt allerdings nicht dazu, dass die Einberufung des Klägers als willkürlich anzusehen war.
Die Einberufung nur eines Teils der als tauglich Gemusterten eines Jahrgangs durch die Wehrverwaltung stellt dann keine willkürliche Diskriminierung dar, wenn sich die Wehrersatzbehörde bei der Auswahl der Einzuberufenden von sachlichen Erwägungen leiten lässt. Davon ist hier auszugehen. Wie aus dem Schriftsatz der Beklagten an das Verwaltungsgericht vom 17. März 2004 hervorgeht, ist die Heranziehungspraxis der Wehrverwaltung ab dem 1. Juli 2003 maßgeblich davon beeinflusst worden, dass die Mannschaftsstärke der Bundeswehr verringert wurde und der Bedarf an heranzuziehenden Wehrpflichtigen dadurch abgenommen hat; ferner hat die Beklagte die geänderte Heranziehungspraxis als “Reaktion auf sozial- und arbeitsmarktpolitische Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland” bezeichnet. Eine sachwidrige Motivationslage bei der Beklagten ist hiernach nicht zu erkennen. Die geänderte Heranziehungspraxis kann auch weder vom Verfahren noch vom Inhalt her als willkürlich angesehen werden. Sie wurde infolge ihrer Steuerung durch Verwaltungsanordnungen in einem gleichmäßigen Verfahren geübt und führte daher nicht zu diskriminierenden Einzelfallentscheidungen. Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gründe für die Nichtheranziehung nach den vorgenannten Erlassen waren ebenso wenig wie die dort zugleich erfassten militärischen Gesichtspunkte einer Optimierung der Personalauswahl von vornherein sachwidrig. Eine Übernahme des Inhalts der Erlasse durch den die Verfügbarkeit der Wehrpflichtigen definierenden Gesetzgeber war nicht ausgeschlossen. Angesichts dessen kann die Einberufung des Klägers nicht mit der Erwägung als willkürlich betrachtet werden, er und andere Einberufene seien im Verhältnis zu den durch die administrativen Wehrdienstausnahmen Begünstigten systematisch und sachwidrig benachteiligt worden. Für eine speziell auf den Kläger bezogene Diskriminierung besteht ohnehin kein Anhalt.
cc) Die Klage führt auch nicht deswegen zum Erfolg, weil die Einberufung des Klägers mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wehrgerechtigkeit unvereinbar gewesen wäre.
(1) Das Grundgesetz regelt in Art. 12a Abs. 1 GG der Tradition folgend die Wehrpflicht als eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht, die grundsätzlich alle männlichen Bürger ab dem vollendeten 18. Lebensjahr trifft. Diese Pflicht findet ihre Rechtfertigung darin, dass der Staat seiner in der Verfassung übernommenen Verpflichtung, die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere die Grundrechte seiner Bürger zu schützen (Art. 1 Abs. 1 GG) nur mit Hilfe eben dieser Bürger und ihres Eintretens für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland nachkommen kann. Dem Schutzanspruch des Einzelnen korrespondiert deshalb die Verpflichtung, sich auch seinerseits für die Belange der im Staat organisierten Gemeinschaft einzusetzen und seinen Beitrag für die Verteidigung dieser Ordnung zu leisten (BVerfGE 48, 127 ≪161≫; 69, 1 ≪22≫). Dementsprechend ist die allgemeine Wehrpflicht Ausdruck des Gleichheitsgedankens und steht unter der Herrschaft des Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfGE 48, 127 ≪162≫; 69, 1 ≪22≫). Diese Vorschrift erfordert in Verbindung mit Art. 12a GG staatsbürgerliche Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit (BVerfGE 48, 127 ≪166≫; 69 1 ≪24≫). Dieses Postulat zielt, da ihm der Grundsatz der gleichen Lasten für alle pflichtigen Bürger (BVerfGE 12, 45 ≪51≫) zugrunde liegt, auch und gerade auf Gleichheit im Belastungserfolg. Hieran anknüpfend hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 1993 (BVerwGE 92, 153 ≪155 f.≫) von einem Gebot der Verfassung zur umfassenden und gleichmäßigen Heranziehung der Wehrpflichtigen zu einer Dienstleistung gesprochen.
Dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit sind keine strikten quantitativen Vorgaben zu entnehmen. Er verlangt für die Einführung und Beibehaltung der Wehrpflicht nicht, dass stets mindestens ein bestimmter Prozentsatz der Männer eines Altersjahrgangs tatsächlich zur Ableistung von Wehrdienst herangezogen wird. Eine derartige Annahme verbietet sich schon deswegen, weil die Zahl derjenigen, die das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) in Anspruch nehmen, sowie derjenigen, die aus gesundheitlichen Gründen für einen Militärdienst ausscheiden (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), weder vorhergesagt noch überhaupt begrenzt werden kann. Überdies ist der Gesetzgeber weder durch Art. 12a Abs. 1 GG noch durch Art. 3 Abs. 1 GG gehindert, die Wehrpflicht in der Weise näher auszugestalten, dass er die Wehrpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen aus Gründen überwiegender privater Interessen zeitweilig oder auf Dauer von der Wehrpflicht verschont. Auch durch solche Wehrdienstausnahmen oder durch die Einräumung und Wahrnehmung der Möglichkeit, der Wehrpflicht außerhalb der Bundeswehr zu genügen, wird die Zahl derjenigen, die tatsächlich für die Ableistung des Wehrdienstes zur Verfügung stehen, mehr oder weniger stark vermindert. Dasselbe gilt, wenn die Anforderungen an die gesundheitliche Eignung der Wehrpflichtigen für den Wehrdienst verschärft werden. Diese Anforderungen sind ebenfalls nicht verfassungsrechtlich ein für alle Mal vorgegeben, sondern können vom Gesetzgeber in Abhängigkeit von wechselnden Aufgaben der Bundeswehr unterschiedlich streng geregelt werden.
Der Gesetzgeber genießt bei der Festlegung der Wehrdienstausnahmen und Einberufungshindernisse eine weitgehende, wenngleich nicht unbeschränkte Gestaltungsfreiheit. Insoweit bedarf es einer Abwägung zwischen der Notwendigkeit einer wirksamen Landesverteidigung und der Erfüllung der Bündnisverpflichtungen einerseits und den Anforderungen der Wehrgerechtigkeit andererseits (vgl. BVerfGE 38, 154 ≪167 f.≫; 48, 127 ≪162≫). Die Ausgestaltung der Ausnahmen von der Wehrpflicht erfordert demnach – nicht wesentlich anders als die Entscheidung für oder gegen die Wehrpflicht überhaupt (vgl. dazu BVerfGE 105, 61 ≪72 f. m.w.N.≫) – komplexe Erwägungen sowohl militärfachlicher als auch politischer Art und ist gerade aus diesem Grunde ausschließlich dem Gesetzgeber anvertraut. Dieser wird in Zeiten eines hohen Bedarfs der Bundeswehr nach Wehrpflichtigen zu einer eher restriktiven Normierung der Wehrdienstausnahmen neigen; umgekehrt kann ein abnehmender Bedarf zu einer großzügigeren Regelung Anlass geben. Der Grundsatz der Wehrgerechtigkeit legt den Gesetzgeber mithin nicht auf eine restriktive Regelung der Wehrdienstausnahmen fest; insbesondere ist er nicht etwa auf die Regelung von Härtefällen beschränkt, deren Anerkennung wegen zugrunde liegender verfassungsrechtlicher Positionen namentlich familiärer und beruflicher Art (Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) unumgänglich ist. Wehrdienstausnahmen müssen allerdings stets sachgerecht sein (BVerfGE 48, 127 ≪162≫); ferner darf der Gesetzgeber bei ihrer Regelung nicht den Umstand aus dem Auge verlieren, dass es sich bei der Wehrpflicht um eine allgemeine, nämlich im Grundsatz alle Männer ab Vollendung des 18. Lebensjahres treffende staatsbürgerliche Pflicht handelt. Entsprechendes gilt für die Regelung der Anforderungen, die an die Eignung der Wehrpflichtigen für den Militärdienst gestellt werden.
Da der Grundsatz der Wehrgerechtigkeit – wie erwähnt – gerade auch auf Gleichheit im Belastungserfolg abzielt, ist er nicht nur vom Gesetzgeber bei der Regelung der Wehrdienstausnahmen und der Eignungsanforderungen an die Wehrpflichtigen zu beachten, sondern gebietet darüber hinaus auch der Exekutive, möglichst alle verfügbaren Wehrpflichtigen auch zum Wehrdienst heranzuziehen. Wehrgerechtigkeit ist also nur gewährleistet, wenn die Zahl derjenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, der Zahl derjenigen, die nach Maßgabe der Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes für den Wehrdienst zur Verfügung stehen, zumindest nahe kommt. Die verfügbaren Wehrpflichtigen eines Altersjahrgangs müssen daher, von einem administrativ unvermeidbaren “Ausschöpfungsrest” abgesehen, bis zum Erreichen der Altersgrenze (§ 5 Abs. 1 WPflG) ihren Grundwehrdienst absolviert haben.
Hiernach droht immer dann eine Verletzung der Wehrgerechtigkeit, wenn die Zahl der Angehörigen eines Altersjahrgangs, die tatsächlich Wehrdienst leisten, deutlich hinter der Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen dieses Jahrgangs zurückbleibt. Dazu kann es – wie die Entwicklung in den vergangenen Jahren verdeutlicht – namentlich dann kommen, wenn der Bedarf der Bundeswehr an Wehrpflichtigen erheblich und andauernd abnimmt, so dass die Wehrersatzbehörden nur eine von Jahr zu Jahr geringere Zahl von Stellen mit Wehrpflichtigen besetzen können. Hat sich aus diesem Grunde zwischen der Zahl der für die Bundeswehr verfügbaren und der Zahl der tatsächlich einberufenen Wehrpflichtigen eine Lücke aufgetan, die sich mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit offensichtlich nicht mehr vereinbaren lässt, ist der Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet. Dieser muss, wenn er nicht in Anbetracht des verringerten Bedarfs der Bundeswehr an Wehrpflichtigen und der Anforderungen der Wehrgerechtigkeit überhaupt auf die Wehrpflicht verzichten will, die entstandene Lücke durch eine sachgerechte Neuregelung der Verfügbarkeitskriterien, insbesondere durch die Erweiterung der Wehrdienstausnahmen, schließen und damit für die Wiederherstellung verfassungsgemäßer Zustände sorgen (vgl. BVerwGE 92, 153 ≪155 f.≫).
Bleibt der Gesetzgeber unter den genannten Voraussetzungen auf Dauer untätig, führt dies zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Bestimmungen über die Wehrpflicht insgesamt (in diesem Sinne bereits Beschluss des Senats vom 27. Dezember 2000 – BVerwG 6 B 63.00 – Buchholz 11 Art. 12a GG Nr. 2 S. 3). Der erkennende Senat folgt insoweit nicht der Rechtsprechung des ehemals für das Wehrpflichtrecht zuständigen 8. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, der in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom 26. Februar 1993 (BVerwGE 92, 153 ≪155 ff.≫) der in Rede stehenden Verletzung der Wehrgerechtigkeit mit der Begründung keine Rechtsfolgen zugunsten des Wehrpflichtigen beigemessen hat, Art. 3 Abs. 1 GG gewähre keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht. Zwar trifft es zu, dass grundsätzlich kein Wehrpflichtiger seiner Heranziehung zum Wehrdienst den Einwand entgegensetzen kann, andere Wehrpflichtige würden zu Unrecht nicht zum Wehrdienst herangezogen. Doch ist, wenn die Verletzung der Wehrgerechtigkeit auf andauernder Untätigkeit des Gesetzgebers beruht, die Wehrpflicht bereits in ihrer gesetzlichen Konzeption berührt, so dass diese Konzeption verfassungsrechtlich keinen Bestand mehr haben kann. Eine vergleichbare Konsequenz hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt im Bereich des Steuerrechts gezogen. Danach kann es die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen, wenn die gebotene Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Steuererhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt wird (vgl. Urteil vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – BVerfGE 84, 239 ≪268 ff.≫; Urteil vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – NJW 2004, 1022 ≪1023≫). Ungeachtet aller rechtserheblichen Unterschiede zwischen Steuererhebung und Einberufung von Wehrpflichtigen ist beiden Lebenssachverhalten doch das Erfordernis des Gleichheitssatzes gemein, dass die Pflichtigen durch das Gesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Dem Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug vergleichbar verlangt die Wehrgerechtigkeit, dass diejenigen, die nach den gesetzlichen Bestimmungen für den Wehrdienst zur Verfügung stehen, tatsächlich hierzu herangezogen werden. Klafft zwischen der Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen und dem Personalbedarf der Bundeswehr eine wesentliche Lücke, so wird die Einberufung schlimmstenfalls von behördlicher Willkür abhängig, jedenfalls aber nicht mehr von den die Wehrgerechtigkeit berücksichtigenden gesetzlichen Vorgaben, insbesondere dem im Wehrpflichtgesetz festgelegten Konzept der Wehrdienstausnahmen, gesteuert. Das Gebot der Wehrgerechtigkeit wird damit grundlegend, d.h. bereits im Bereich der rechtlichen Grundlagen der Wehrpflicht und nicht erst beim Vollzug des Wehrpflichtgesetzes, verfehlt.
Der Bundesgesetzgeber hat es in der Hand, die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen und den Personalbedarf der Bundeswehr zur Deckung zu bringen. Er hat die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte im Haushaltsplan auszuweisen (Art. 87a Abs. 1 Satz 2, Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG) und pflegt dieser Verpflichtung auch durch Angabe der Zahl der Stellen für Wehrpflichtige Rechnung zu tragen (vgl. z.B. Haushaltsplan 2004, Einzelplan 14, S. 22 f.). Zeigt sich, dass die sich daraus ergebende Zahl der Einberufungen dauerhaft erheblich unter der Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen bleibt, so muss der Gesetzgeber – wie dargelegt – im Falle der Beibehaltung der Wehrpflicht das strukturelle Defizit durch eine Neuregelung der Verfügbarkeitskriterien ausgleichen. Der Mangel ist dem Gesetzgeber freilich verfassungsrechtlich nicht zuzurechnen, wenn er ihn binnen angemessener Frist behoben hat, nachdem sich ihm der Handlungsbedarf aufdrängen musste (vgl. BVerfG, Urteil vom 27. Juni 1991, a.a.O. S. 272). So liegt es hier.
(2) Nach dem von der Beklagten im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Zahlenmaterial, dessen Richtigkeit weder vom Verwaltungsgericht noch vom Kläger in Zweifel gezogen worden ist, war die Wehrgerechtigkeit bei der Einberufung der verfügbaren Wehrpflichtigen in der Zeit vor den erheblichen Kürzungen des Personals der Bundeswehr nach 2000 eindeutig gewahrt. Wie aus der Statistik “Ausschöpfung nach Geburtsjahrgängen insgesamt – Stand Dezember 2000 –” hervorgeht, betrug der Anteil der tatsächlich Einberufenen an den für den Grundwehrdienst Verfügbaren bei den Geburtsjahrgängen von 1970 bis 1975, die zu dem genannten Zeitpunkt für die Heranziehung zum Wehrdienst bis zur Regelaltersgrenze bereits ausgeschöpft waren, jeweils mehr als 90 %. Weitergehende Anforderungen stellt das Gebot der Wehrgerechtigkeit nicht. In den nachfolgenden Jahren bis 2003 nahm nach den Angaben der Beklagten im Schriftsatz vom 8. April 2004 die Zahl der Plätze, die für Grundwehrdienstleistende einschließlich der einen freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst Leistenden zur Verfügung standen, von 128 400 auf 94 390, mithin um mehr als ein Viertel, ab. Da der Grundwehrdienst weniger als ein Jahr dauert, lag die Zahl der tatsächlich Einberufenen über der Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze; jene Zahl verringerte sich in den Jahren von 2000 bis 2005 in noch stärkerem Umfang, nämlich von 144 647 auf 102 600. Diese Entwicklung warf bei im Wesentlichen gleich bleibend starken Geburtsjahrgängen von Wehrpflichtigen zwangsläufig die Frage auf, ob die Wehrgerechtigkeit auch künftig noch durch eine weitgehende Ausschöpfung der Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen gesichert werden konnte. Das Bundesministerium der Verteidigung nahm im Frühjahr 2003 die erheblich verringerte Personalstärke der Bundeswehr zum Anlass, dem System der gesetzlichen Wehrdienstausnahmen mit Wirkung vom 1. Juli 2003 im Verwaltungswege weitere Ausnahmen hinzuzufügen und ließ sich dabei nach dem Inhalt seiner im erstinstanzlichen Verfahren abgegebenen Stellungnahme, die dem Verwaltungsgericht mit Schriftsatz vom 17. März 2004 übermittelt worden ist, hauptsächlich von der Absicht leiten, die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen schnell und effizient der geänderten Bedarfslage anzupassen. Da die Festlegung von Wehrdienstausnahmen und Einberufungshindernissen nicht Sache des Bundesministeriums der Verteidigung, sondern dem Gesetzgeber vorbehalten ist, entstand parallel mit der vom Bundesministerium festgestellten Notwendigkeit einer Neuregelung ein Handlungsbedarf für den Gesetzgeber. Dieser hatte zu prüfen, ob er die vom Bundesministerium – gewissermaßen im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung – verfügten zusätzlichen Ausnahmen von der Wehrpflicht in das Wehrpflichtgesetz übernehmen oder der eingetretenen Beeinträchtigung der Wehrgerechtigkeit auf andere Weise, vielleicht sogar durch Abschaffung der Wehrpflicht, abhelfen wollte. Mit der Verabschiedung des Änderungsgesetzes vom 27. September 2004 hat sich der Gesetzgeber für die weitgehend unveränderte Übernahme der Ausnahmen in das Wehrpflichtgesetz entschieden. Damit ist er seiner Anpassungspflicht schon mit Rücksicht auf die übliche Dauer eines Gesetzgebungsverfahrens, aber auch in Anbetracht der Komplexität des Themas, noch rechtzeitig nachgekommen. Die Einberufung des Klägers zum Grundwehrdienst ab dem 1. Januar 2004 ist daher trotz der die Wehrgerechtigkeit beeinträchtigenden Entwicklung der Jahre nach 2000 auf der Grundlage eines weiterhin verfassungsgemäßen Wehrpflichtgesetzes erfolgt.
(3) Da der Anpassungszeitraum für den Gesetzgeber im Januar 2004 noch nicht abgelaufen war und das geänderte Wehrpflichtrecht zu diesem Zeitpunkt noch nicht galt, kommt es auf die Verfassungskonformität der Neuregelung nicht an. Der Senat bemerkt jedoch, dass er die gesetzlichen Neuregelungen durchweg für sachgerecht und unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtigkeit nicht bedenklich hält:
Die Nichtheranziehung der mit “T 3” Gemusterten gemäß Neufassung des § 8a Abs. 2 Satz 1 WPflG trägt dem Umstand Rechnung, dass die Streitkräfte aufgrund des geänderten Anforderungsprofils nur noch Wehrpflichtige benötigen, die unter gesundheitlichen Aspekten ohne Einschränkungen geeignet sind. – Ebenso wenig bedenklich ist die Zurückstellung von Wehrpflichtigen mit Ausbildungsvertrag oder rechtsverbindlicher Einstellungszusage für eine Ausbildung (§ 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 WPflG n.F.). Hiermit wird ein Härtefallaspekt fortgeschrieben und generalisiert, der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur bisherigen Rechtslage bereits angelegt war (vgl. Urteil vom 24. Oktober 1997 – BVerwG 8 C 21.97 – BVerwGE 105, 276; ferner BTDrucks 15/3279 S. 11 zu Nr. 4 Buchst. b). Abgesehen davon wird durch eine Zurückstellung die Verpflichtung zur Wehrdienstleistung nur aufgeschoben, ggf. unter Anhebung der Regelaltersgrenze (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a WPflG n.F.). – Die Absenkung der für die Ableistung des Grundwehrdienstes maßgeblichen Altersgrenze (§ 5 Abs. 1 WPflG n.F.) hat sich infolge ihrer Vorwegnahme durch die Ministerialerlasse vom 11. und 17. April 2003 nur punktuell insoweit ausgewirkt, als nach dem 1. Juli 2003 zahlreiche bis dahin verfügbare Wehrpflichtige wegen nunmehrigen Überschreitens der Altersgrenze von der Ableistung des Wehrdienstes befreit worden sind. Strukturell wirkt sie nicht wie eine Wehrdienstausnahme, sondern führt lediglich dazu, dass sich der Zeitraum, innerhalb dessen der Grundwehrdienst abzuleisten ist, von sieben auf fünf Jahre reduziert. Unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtigkeit wirft dies keine Bedenken auf, zumal dadurch dem berechtigten Anliegen nach früherer Planungssicherheit in beruflicher Hinsicht Rechnung getragen wird (vgl. BTDrucks 15/3279 S. 9 f.). Selbst wenn sich eine einzelne neue Wehrdienstausnahme als verfassungswidrig erweisen sollte, würde dies nicht ohne weiteres zur Verfassungswidrigkeit des Wehrpflichtgesetzes als Rechtsgrundlage für Einberufungen insgesamt führen; vielmehr könnten Einberufungen weiterhin auf dieses Gesetz gestützt werden, wenn es auch ohne die verfassungswidrige Ausnahme hinreichend geeignet wäre, die Wehrgerechtigkeit zu wahren. Insoweit bliebe es bei dem Satz, dass der Wehrpflichtige der Rechtmäßigkeit seiner Einberufung nicht entgegenhalten kann, dass andere zu Unrecht nicht herangezogen werden.
2. Das Urteil ist aus den genannten Gründen aufzuheben. Die Sache ist jedoch an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, weil die Verfügbarkeitsentscheidung vom 19. September 2003 noch beim Verwaltungsgericht anhängig ist und der Kläger bis zu deren Unanfechtbarkeit alle diesbezüglichen Einwände auch dem Einberufungsbescheid entgegensetzen kann (Beschluss vom 15. Mai 1998 – BVerwG 6 B 35.98 – Buchholz 448.0 § 5 WPflG Nr. 28 S. 39 m.w.N.). Mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil ist der Senat nicht in der Lage, in der Sache auch insoweit abschließend zu entscheiden.
Unterschriften
Bardenhewer, Hahn, Büge, Graulich, Vormeier
Fundstellen
Haufe-Index 1336261 |
BVerwGE 2005, 331 |
ZAP 2005, 602 |
DÖV 2005, 700 |
DVBl. 2005, 784 |
GV/RP 2005, 195 |
KomVerw 2005, 242 |
NZWehrr 2005, 126 |
FuBW 2005, 513 |
FuHe 2005, 489 |
FuNds 2005, 698 |
NWVBl. 2005, 300 |