Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersgrenze für Nachdienenspflicht. Verhältnis von Tauglichkeitsüberprüfungsbescheid und Musterungsbescheid
Leitsatz (amtlich)
Die Nachdienenspflicht (§ 24 Abs. 4 ZDG) gilt auch nach der Entlassung aus dem Zivildienst generell bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres. Dies folgt unmittelbar aus § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ZDG.
Der Bestand eines angefochtenen Einberufungsbescheides hängt materiellrechtlich davon ab, daß sich die Verfügbarkeitsentscheidung (Musterungsbescheid, Tauglichkeitsüberprüfungsbescheid) in der verwaltungsgerichtlichen Prüfung als richtig erweist.
Normenkette
ZDG § 24 Abs. 1-2, 4; WPflG § 5 Abs. 1, 3, §§ 12, 29 Abs. 1; MustVO § 13 Abs. 1; VwVfG § 43 Abs. 2; VwGO § 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
VG Darmstadt (Entscheidung vom 18.03.1999; Aktenzeichen 1 E 146/99) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 18. März 1999 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Darmstadt zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der am 4. Juni 1971 geborene Kläger wurde 1989 als „vorübergehend nicht wehrdienstfähig” gemustert und bis zum 31. Oktober 1990 zurückgestellt. Nach einer erneuten Musterung wurde er 1992 als „wehrdienstfähig” eingestuft. Am 7. Juli 1992 wurde er als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen anerkannt. Im Hinblick auf sein Ingenieurstudium wurde er bis zum 31. August 1996 erneut zurückgestellt.
Am 25. März 1996 teilte der Kläger dem Bundesamt für den Zivildienst (nachfolgend: Bundesamt) mit, er habe sein Studium seit drei Wochen abgeschlossen und stehe seit Ende 1995 in einem festen Arbeitsverhältnis als Bauführer. Daraufhin widerrief das Bundesamt am 17. April 1996 den Zurückstellungsbescheid vom 11. August 1995 und lehnte zugleich eine weitere Zurückstellung ab. Außerdem zog das Bundesamt den Kläger mit Bescheid vom 17. April 1996 zur Ableistung des Zivildienstes vom 3. Juni 1996 an heran.
Der Kläger legte gegen die Ablehnung seines Zurückstellungsbegehrens sowie die Einberufung in den Bescheiden vom 17. April 1996 Widerspruch ein und beantragte am 17. Mai 1996 beim Verwaltungsgericht Darmstadt (VG 1 G 952/96 ≪2≫) einstweiligen Rechtsschutz. Das Verwaltungsgericht ordnete daraufhin mit Beschluß vom 30. Mai 1996 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Einberufungsbescheid an. Später hat der Kläger Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht Darmstadt (VG 1 E 2345/96 ≪2≫) wegen des Einberufungsbescheids vom 17. April 1996 erhoben. Erst am 20. Januar 1997 hat das Bundesamt die Widersprüche des Klägers gegen die Ablehnung des Zurückstellungsantrages sowie gegen den Einberufungsbescheid vom 17. April 1996 zurückgewiesen.
Das Bundesamt hat am 22. April 1997 einen Tauglichkeitsüberprüfungsbescheid über die Zivildienstfähigkeit des Klägers erlassen und darin seine Tauglichkeit festgestellt mit Einschränkungen für die Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten. Dagegen hat der Kläger Widerspruch eingelegt. Diesen wies das Bundesamt am 6. Mai 1998 zurück. Daraufhin hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Darmstadt Klage erhoben (VG 1 E 999/98 ≪2≫), über die bislang noch nicht entschieden worden ist.
Mit Bescheid vom 6. August 1997 hat das Bundesamt festgestellt, der Kläger sei gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 1 ZDG aus dem Zivildienst wegen Ablaufs der im Einberufungsbescheid vom 17. April 1996 festgesetzten Dienstzeit zum 30. Juni 1997 entlassen. Daraufhin haben die Beteiligten in der Untätigkeitsklage VG 1 E 2345/96 beim Verwaltungsgericht Darmstadt die Hauptsache für erledigt erklärt.
Der Kläger hat am 30. März 1998 beim Bundesamt die Feststellung beantragt, daß er wegen Vollendung seines 25. Lebensjahres nicht mehr zur Ableistung des Zivildienstes einberufen werden könne. Den Feststellungsantrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 30. April 1998 ab. Den daraufhin eingelegten Widerspruch hat das Bundesamt mit Bescheid vom 17. September 1998 zurückgewiesen. Daraufhin hat der Kläger am 15. Oktober 1998 beim Verwaltungsgericht Darmstadt die bis heute nicht entschiedene Klage VG 1 E 2177/98 (2) erhoben.
Am 2. Juni 1998 hat der Kläger einen erneuten Antrag auf Überprüfung seiner Tauglichkeit gestellt, weil er an einer seit einigen Monaten anhaltenden Bronchialerkrankung leide. Diesen Antrag hat das Bundesamt am 23. September 1998 abgelehnt. Dagegen hat er am 12. Oktober 1998 Widerspruch eingelegt.
Am 29. September 1998 hat das Bundesamt den im vorliegenden Rechtsstreit angefochtenen Einberufungsbescheid erlassen, aufgrund dessen der Kläger am 1. Februar 1999 den Zivildienst antreten sollte. Dagegen hat er Widerspruch eingelegt und insbesondere gesundheitliche Einwände gegen seine Tauglichkeit vorgebracht. Außerdem hat er einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht Darmstadt (VG 1 G 2176/98 ≪2≫) wegen des Einberufungsbescheids gestellt, dem das Verwaltungsgericht mit Beschluß vom 26. Januar 1999 entsprochen hat. Den Widerspruch gegen den Einberufungsbescheid hat das Bundesamt mit Bescheid vom 29. Januar 1999 zurückgewiesen und dabei insbesondere Gründe verneint, welche die Tauglichkeit des Klägers für den Zivildienst ausschlössen.
Daraufhin hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung hat er angeführt, der angefochtene Einberufungsbescheid sei schon deshalb rechtswidrig, weil er nach Vollendung seines 25. Lebensjahres nicht mehr zur Ableistung des Zivildienstes einberufen werden könne.
Der Kläger hat beantragt,
den Einberufungsbescheid des Bundesamtes für den Zivildienst vom 29. September 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1999 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat mit seinem Urteil vom 18. März 1999 der Anfechtungsklage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger dürfe wegen Überschreitung der Regelaltersgrenze des § 24 Abs. 1 Satz 1 ZDG nach Vollendung des 25. Lebensjahres nicht mehr zum Zivildienst herangezogen werden. Die Voraussetzungen für eine erweiterte Heranziehung nach § 24 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 ZDG lägen nicht vor. Eine analoge Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ZDG komme – in ausdrücklicher Abgrenzung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 5 Abs. 3 WPflG – nicht in Betracht. Eine unbegrenzte Nachdienenspflicht in diesen Fällen werde abgelehnt. Die Revision hat das Verwaltungsgericht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 135 VwGO i.V.m. § 75 ZDG zugelassen, weil von einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 102, 184) abgewichen werde.
Die Beklagte hat daraufhin Revision eingelegt. Zu deren Begründung hat sie ausgeführt, die in § 24 Abs. 4 Nr. 3 ZDG angeordnete Nachdienenspflicht ende erst mit der Vollendung des 28. Lebensjahres, wenn der Dienstpflichtige wegen der Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides durch einen Nachdienensbescheid nicht mehr vor der Regelaltersgrenze einberufen werden könne. Die Gründe für die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 5 Abs. 3 WPflG habe das Verwaltungsgericht nicht erschüttert.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 9. April 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er trägt vor, das Verwaltungsgericht habe zu Recht die Rechtsprechung des 8. Senats des Bundesverwaltungsgerichts verlassen. Die dort vertretene Prämisse einer angeblichen zeitlich unbegrenzten Nachdienenspflicht sei abzulehnen. Die Regelaltersgrenze des § 5 Abs. 1 WPflG und § 24 Abs. 1 ZDG werde durch die Regelungen über die Nachdienenspflicht nicht berührt. Damit entfalle dem in BVerwGE 102, 184 gezogenen Analogieschluß die Grundlage. Selbst wenn man anderer Auffassung sei, müsse man mit der kritisierten Entscheidung des 8. Senats aber immer noch die Rechtmäßigkeit des früher erlassenen Einberufungsbescheides prüfen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Revision ist zulässig.
Die dem Rechtsstreit zugrundeliegende Anfechtungsklage gegen den Einberufungsbescheid des Bundesamtes für den Zivildienst vom 29. September 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1999 hat sich nicht in der Hauptsache erledigt. Der Kläger hat zwar am 4. Juni 1999 das 28. Lebensjahr vollendet. Er ist jedoch durch den streitgegenständlichen Einberufungsbescheid zum 1. Februar 1999 und somit zu einem Zeitpunkt vor der Vollendung des 28. Lebensjahres bereits einberufen worden (§ 24 Abs. 1 Satz 2 ZDG). Der Einberufungsbescheid hat sich auch nicht durch Ablauf der 13 Monate (§ 24 Abs. 2 Satz 1 ZDG, § 5 Abs. 1 Satz 4 WPflG) dauernden Zivildienstzeit erledigt (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 WPflG, § 43 Abs. 2 VwVfG).
2. Die Revision ist begründet, denn das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Aufhebung des Einberufungsbescheides vom 29. September 1998 in dem Urteil verstößt gegen § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 4 Nr. 3 ZDG. Nach diesen Vorschriften konnte der Kläger nämlich über die in § 24 Abs. 1 Satz 1 ZDG festgesetzte Dienstaltersgrenze hinaus bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres zur Ableistung des Zivildienstes einberufen werden.
a) Zutreffend verneint das Verwaltungsgericht eine Ausnahme von der Altersgrenze für die Heranziehung des Klägers gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZDG. Abweichend von der Altersgrenze von 25 Jahren in § 24 Abs. 1 Satz 1 ZDG leisten den Zivildienst nach § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZDG solche Dienstpflichtigen, die zu dem festgesetzten Dienstbeginn das 28. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wenn sie wegen einer Zurückstellung nach § 11 ZDG nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres zum Zivildienst herangezogen werden konnten und der Zurückstellungsgrund entfallen ist. Der Kläger war zwar mit Bescheid vom 11. August 1995 mit Rücksicht auf sein Ingenieurstudium bis zum 31. August 1996 zurückgestellt worden. Jedoch hat das Bundesamt für den Zivildienst die Zurückstellung mit Bescheid vom 17. April 1996 widerrufen, nachdem der Kläger am 25. März 1996 mitgeteilt hatte, sein Studium drei Wochen zuvor abgeschlossen zu haben. Somit war der Kläger im Zeitpunkt der Vollendung des 25. Lebensjahres nicht zurückgestellt und der ursprüngliche Zurückstellungsgrund auch entfallen.
b) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts folgt die Ausnahme von der Regelaltersgrenze im vorliegenden Fall aber aus § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 4 Nr. 3 ZDG. Danach sind Tage, an denen ein Dienstpflichtiger während des Zivildienstverhältnisses infolge Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides keinen Dienst geleistet hat, nachzudienen. Dies ist vorliegend der Fall, denn das Verwaltungsgericht hat durch Beschluß vom 30. Mai 1996 (VG 1 G 952/96 ≪2≫) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Einberufungsbescheid vom 17. April 1996 angeordnet. Dies hat dazu geführt, daß der Kläger den Dienst weder zum 3. Juni 1996, wie der Einberufungsbescheid dies vorsah, noch zu einem späteren Zeitpunkt angetreten hat.
Von dieser rechtlichen Beurteilung ist der angefochtene Einberufungsbescheid vom 29. September 1998 zutreffend ausgegangen. In ihm ist zugleich die Nachdienenspflicht des Klägers dem Grunde nach zu Recht konkretisiert worden. An der Rechtsprechung des 8. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, gegen welche sich das verwaltungsgerichtliche Urteil wendet, ist im Ergebnis festzuhalten, und zwar auch für das Zivildienstgesetz.
aa) Die genannte Rechtsprechung ist zu Fragen der Heranziehung zum Wehrdienst zu § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 WPflG ergangen (Urteil vom 25. Oktober 1996 – BVerwG 8 C 17.96 – BVerwGE 102, 184). Ihre Anwendbarkeit für die Heranziehung zum Zivildienst rechtfertigt sich aus der weitgehenden wörtlichen und inhaltlichen Übereinstimmung mit der entsprechenden Regelung in § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 4 Nr. 3 ZDG. Nach § 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 WPflG sind Tage, an denen ein Wehrpflichtiger während des Grundwehrdienstes infolge Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides keinen Dienst geleistet hat, nachzudienen. Die Vorschrift stellt klar, daß auch derjenige, dem vorläufiger Rechtsschutz gegen seine Heranziehung zum Grundwehrdienst gewährt worden ist, im Falle seines Unterliegens im Hauptverfahren die versäumte Dienstzeit nachholen muß (vgl. Begründung Novelle 1983, BTDrucks 9/1897, S. 13). Dadurch verlängert sich zwar nicht ohne weiteres die im Einberufungsbescheid ursprünglich festgesetzte Dienstzeit des zum Nachdienen Verpflichteten. Für die Zeit nach Ablauf der in dem erledigten Einberufungsbescheid festgesetzten Dauer des Grundwehrdienstes muß vielmehr durch eine konkretisierende Anordnung der Befehl zum Nachdienen ausgesprochen und für die Dauer der festgesetzten Nachdienenszeit ein neues Wehrdienstverhältnis begründet werden (stRspr; vgl. Urteile vom 8. November 1991 – BVerwG 8 C 53.90 – BVerwGE 89, 183 ≪184 f.≫ = Buchholz 448.11 § 44 ZDG Nr. 3 S. 1 ≪2 f.≫ und vom 13. Dezember 1991 – BVerwG 8 C 65.90 – Buchholz 448.0 § 21 WPflG Nr. 45 S. 6 ≪9≫ und – BVerwG 8 C 54.89 – Buchholz 448.11 § 19 ZDG Nr. 17 S. 4 ≪7≫; Beschluß vom 10. August 1994 – BVerwG 8 B 85.94 – Buchholz 448.11 § 19 ZDG Nr. 20 S. 1). Diese Art der Nachdienensanordnung stellt materiellrechtlich einen neuen Einberufungsbescheid dar, dessen Anfechtbarkeit und Rechtmäßigkeit nach den allgemeinen Regeln zu beurteilen ist (vgl. etwa Beschluß vom 10. August 1994, a.a.O. S. 1). Der damit neu festzusetzende Gestellungszeitpunkt kann auch nach der Vollendung des 25. Lebensjahres des Wehrpflichtigen liegen. Denn zum Nachdienen des Grundwehrdienstes wird ein Wehrpflichtiger bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres herangezogen (BVerwGE 102, 184 ≪186 ff.≫).
Die Einwände des Verwaltungsgerichts gegen diese Rechtsprechung greifen nicht durch. Dies zeigt die Auslegung der zeitgleich mit demselben Normierungsziel eingefügten § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 WPflG sowie § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 4 Nr. 3 ZDG nach ihrem Wortlaut (1), der Entstehungsgeschichte (2) sowie Sinn und Zweck (3).
(1) Nach dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) WPflG leisten abweichend von der 25-Jahres-Grenze in § 5 Abs. 1 Satz 1 WPflG „Grundwehrdienst Wehrpflichtige, die zu dem für den Dienstbeginn festgelegten Zeitpunkt das 28. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wenn sie nach § 29 Abs. 6 Satz 1 als aus dem Grundwehrdienst entlassen gelten und Tage schuldhafter Abwesenheit (§ 5 Abs. 3) nachzudienen haben”. Dem ist nicht zu entnehmen, daß damit eine Ausnahme allein für die Fälle des § 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WPflG geschaffen worden sei. In § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) WPflG wird eben nicht speziell der Satz 1 Nr. 1, sondern unspezifisch der gesamte Absatz 3 genannt. Auch wird in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) WPflG der Wortlaut des Tatbestandes des § 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WPflG nicht vollständig wiederholt. Es heißt nicht etwa „schuldhafte Abwesenheit von der Truppe oder Dienststelle”, sondern in Kurzform ist nur von „schuldhafter Abwesenheit (§ 5 Abs. 3)” die Rede. Die Kurzform könnte auch als verallgemeinernde Überschrift für alle Fälle des § 5 Abs. 3 Satz 1 WPflG gewählt sein. Diese Auslegung läßt der Wortlaut zumindest als möglich erscheinen. „Verschulden” kann hier auch im Sinne einer eigenverantwortlichen Herbeiführung der Rechtsfolgen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) WPflG zu verstehen sein.
Nichts wesentlich anderes gilt für die wörtliche Auslegung der entsprechenden Regelungsteile von § 24 ZDG. Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ZDG leisten abweichend von der 25-Jahres-Grenze in § 24 Abs. 1 Satz 1 ZDG „Zivildienst Dienstpflichtige, die zu dem für den Dienstbeginn festgelegten Zeitpunkt das 28. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wenn sie nach § 44 Abs. 2 ZDG als aus dem Zivildienst entlassen gelten und Tage schuldhafter Abwesenheit vom Zivildienst (Abs. 4) nachzudienen haben”. Dem ist nicht zu entnehmen, daß damit eine Ausnahme nur für die Fälle des § 24 Abs. 4 Nr. 1 ZDG geschaffen worden sei. In § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ZDG wird eben nicht nur der Nr. 1, sondern der gesamte Absatz 4 genannt.
(2) Für dieses nach dem Wortlaut mögliche Ergebnis der Auslegung spricht die Entstehungsgeschichte der geltenden Fassung von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 WPflG sowie § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 4 Nr. 3 ZDG.
In dem später Gesetz gewordenen Regierungsentwurf zu den vorgenannten Rechtsvorschriften heißt es u.a. (BTDrucks 10/4591 S. 12 zu Nr. 2 (§ 5), zu Buchstabe a) im Anschluß an die Erläuterungen zu den Nummern 1 und 2 des neuen Satzes 2; später wurden daraus die Buchstaben a) und b) der Nr. 1 des neuen Satzes 2:
„Die folgenden Nummern regeln Fälle, in denen Wehrpflichtige durch pflichtwidriges Verhalten oder durch eine in ihr Belieben gestellte Erklärung die Einberufung vor der Regelaltersgrenze (Vollendung des 28. Lebensjahres) vereiteln oder gefährden:
(…). Nummer 4 ergänzt diese Regelung für den Fall, daß ein Soldat wegen schuldhafter Abwesenheit von seiner Truppe oder Dienststelle nach § 29 Abs. 6 Satz 1 als entlassen gilt, obwohl er die Grundwehrpflicht nicht oder nur teilweise erfüllt hat. (…)”.
Der Gesetzgeber wollte also mit den Nummern 3 bis 5 (später wurden das die Buchstaben b) – d) zu Satz 2 Nr. 1) nicht nur die Fälle regeln, in denen Wehrpflichtige durch pflichtwidriges oder schuldhaftes Verhalten die Einberufung vor der Regelaltersgrenze vereiteln, es ging ihm auch um in das Belieben der Wehrpflichtigen gestellte Erklärungen, die eine Einberufung vereiteln konnten. Darüber hinaus wollte er auch schon Gefährdungen der Einberufung durch das in den genannten Fallgruppen angesprochene Verhalten verhindern. Schließlich wollte er mit der heute in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) WPflG enthaltenen Regelung auch Wehrpflichtige erfassen, die ihre Grundwehrpflicht überhaupt noch nicht, also nicht einmal teilweise, erfüllt haben. Das angestrebte Normprogramm konnte der Gesetzgeber nur mit einer Regelung erfüllen, die sämtliche Fälle des § 5 Abs. 3 Satz 1 WPflG in den § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c) WPflG mit einbezog. Entsprechendes trifft auch auf § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ZDG zu. Dazu heißt es im Regierungsentwurf schlicht (BTDrucks 10/4591 S. 17): „Die Neufassung der Sätze 1 und 2 lehnt sich redaktionell an die entsprechende Änderung von § 5 Abs. 1 Satz 1 WPflG an…”.
(3) Für eine vom Gesetzgeber unternommene Gleichstellung der in § 5 Abs. 3 Satz 1 WPflG bezeichneten nachdienenspflichtigen Wehrpflichtigen hinsichtlich des Einberufungszeitraumes (Höchstalters) bieten der Zusammenhang von Sinn und Zweck der Vorschriften des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 1 WPflG einen hinreichenden Anhalt. § 5 Abs. 1 Satz 2 WPflG setzt die Einberufungsaltersgrenze auf 28 Jahre in allen Fällen fest, in denen Wehrpflichtige durch ein ihnen zurechenbares Verhalten, sei es pflichtwidrig, wie der ungenehmigte Auslandsaufenthalt (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b WPflG) oder die schuldhafte Dienstabwesenheit (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. c WPflG) – oder sei es durch eine in ihr Belieben gestellte Erklärung – wie den Antrag auf Zurückstellung über das 25. Lebensjahr hinaus (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a WPflG) oder den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. d WPflG) – ihre Einberufung vor der Regelaltersgrenze unmöglich gemacht haben (vgl. auch Begründung Novelle 1986, BTDrucks 10/4591, S. 12). Die in § 5 Abs. 3 Satz 1 WPflG getroffene Nachdienensregelung stellt wiederum der schuldhaften Abwesenheit von der Truppe oder Dienststelle (Nr. 1), der schuldhaften Dienstverweigerung (Nr. 2), der Verbüßung von Freiheitsstrafe etc. (Nr. 4) und von Untersuchungshaft, der eine rechtskräftige Verurteilung gefolgt ist (Nr. 5), die Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides (Nr. 3) gleich. Diese Gleichsetzung ist nur verständlich, wenn man annimmt, daß der Gesetzgeber auch die Aussetzung der Vollziehung letztlich als durch ein zurechenbares Verhalten des Wehrpflichtigen veranlaßt angesehen hat. Daran war er durch höherrangiges Recht nicht gehindert.
In allen diesen Fällen müssen die Fehlzeiten von Rechts wegen gleichermaßen nachgedient werden. Einen Ermessensspielraum billigt das Gesetz den Wehrersatzbehörden nicht zu. Die Höchstaltersgrenze von 28 Jahren des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b und c WPflG muß danach einerseits auch denen zugute kommen, die Abwesenheitszeiten aufgrund der Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides nachzudienen haben. Denn eine rechtliche Besserstellung der ungenehmigt im Ausland gewesenen sowie der schuldhaft der Truppe ferngebliebenen Wehrpflichtigen gegenüber den aufgrund der Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides erlaubtermaßen Dienstabwesenden läßt sich sachlich nicht rechtfertigen. Ebensowenig erkennbar ist andererseits auch ein Rechtfertigungsgrund, um Wehrpflichtige, die Abwesenheitszeiten infolge Aussetzung der Vollziehung eines sich nachträglich als rechtmäßig erweisenden Einberufungsbescheides nachzudienen haben, gegenüber solchen Wehrpflichtigen zu bevorzugen, die wegen einer rechtmäßig erfolgten Zurückstellung nach § 12 WPflG nicht mehr vor Vollendung des 25. Lebensjahres zum Grundwehrdienst herangezogen werden konnten und deswegen noch bis zum 28. Lebensjahr einberufen werden dürfen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a WPflG; so auch BVerwGE 102, 184, 189 ff.).
Insgesamt läßt sich somit sagen, daß Wortlaut, Entstehungsgeschichte wie auch Sinn und Zweck der Regelung die genannte Auslegung nahelegen, die insbesondere, gemessen am Normprogramm auch die einzige ist, die Wertungswidersprüche vermeidet. Da die klassischen Auslegungsmethoden ausreichen, bedarf es der Begründung und anschließenden Ausfüllung einer Regelungslücke nicht.
bb) Auf die Frage der Rechtmäßigkeit des ausgesetzten Einberufungsbescheides kommt es regelmäßig – wie auch hier – nicht an.
§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 WPflG und § 24 Abs. 4 Nr. 3 ZDG bieten nach ihrem Wortlaut für eine derartige Einschränkung keinen Anhalt. Auch der Schutz des Dienstpflichtigen gebietet eine derartige Auslegung nicht. Da die Nachdienenspflicht voraussetzt, daß ein Dienstverhältnis überhaupt rechtmäßigerweise begründet werden kann, ist der Dienstpflichtige nicht gehindert, auch nach Hinausschieben der Altersgrenze seiner Heranziehung alle Gründe entgegenzusetzen, die seiner Einberufung rechtlich entgegenstehen. Würde man dagegen für die Hinausschiebung der Altersgrenze stets verlangen, daß sich der ausgesetzte Einberufungsbescheid als rechtmäßig erweist, so wäre der Dienstpflichtige in allen jenen Fällen ungerechtfertigt bevorzugt, in denen der Einberufung im Zeitpunkt der Aussetzung nur vorübergehende, bis zur Altersgrenze noch behebbare verfahrens- oder materiellrechtliche Hindernisse entgegenstanden.
3. Die Aufhebung des Urteils kann vorliegend nur zu einer Zurückverweisung zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht führen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das erstinstanzliche Urteil enthält nämlich keine tragfähigen Feststellungen dazu, ob die Einberufung des Klägers möglicherweise wegen Verkennung von gesundheitlichen Umständen rechtswidrig war, welche die Tauglichkeit des Klägers in Frage stellen könnten. Der Kläger hat nämlich am 2. Juni 1998 eine erneute Überprüfungsuntersuchung beantragt. Den Antrag hat die Beklagte mit Bescheid vom 23. September 1998 abgelehnt. Dagegen hat der Kläger am 12. Oktober 1998 Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden worden ist. Gleichzeitig hat er auch mit dem Widerspruch gegen den im vorliegenden Verfahren angefochtenen Einberufungsbescheid Einwände gegen die Tauglichkeit erhoben.
Zur Zulässigkeit der Einberufung reicht zwar ein vollziehbarer Musterungsbescheid aus (§ 13 Abs. 1 MustV). Auch beim Tauglichkeitsüberprüfungsbescheid handelt es sich materiell um einen Musterungsbescheid. Seine Vollziehbarkeit muß zum festgesetzten Gestellungszeitpunkt gegeben sein (Urteile vom 21. Juni 1972 – BVerwG 8 C 87.70 – BVerwGE 40, 165, 170; 27. Januar 1984 – BVerwG 8 C 12.83 – Buchholz 448.0 § 35 WPflG Nr. 24; 30. Januar 1987 – BVerwG 8 C 72.84 – Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 21; 19. April 1996 – BVerwG 8 C 3.96 – Buchholz 448.0 § 5 WPflG Nr. 21 S. 11). Jedoch hängt der Bestand eines angefochtenen Einberufungsbescheides materiellrechtlich davon ab, daß die etwa auch angefochtene Verfügbarkeitsentscheidung der verwaltungsgerichtlichen Prüfung standhält (Urteil vom 21. Juni 1972, a.a.O. S. 170; Urteil vom 27. Januar 1984, a.a.O. S. 9). Erweist sich der Tauglichkeitsüberprüfungsbescheid als rechtswidrig, so muß auch der zugleich angefochtene Einberufungsbescheid aufgehoben werden. Tauglichkeitseinwände kann der Wehrpflichtige daher, solange die Musterungsentscheidung noch nicht unanfechtbar geworden ist, auch dem angefochtenen Einberufungsbescheid entgegensetzen (BVerwG, Beschluß vom 15. Mai 1998 – BVerwG 6 B 35.98 – Buchholz 448.0 § 5 WPflG Nr. 28). Ihnen hat nunmehr das Verwaltungsgericht nachzugehen.
Unterschriften
Albers, Eckertz-Höfer, Bayer, Büge, Graulich
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 26.01.2000 durch Klebba Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BVerwGE, 277 |
NVwZ-RR 2000, 439 |
DÖV 2000, 691 |