Entscheidungsstichwort (Thema)
Handwerksrecht. Ausnahmefall. Bäckerhandwerk. großer Befähigungsnachweis. Handwerkskammer. Meisterprüfung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelungen der Handwerksordnung über den Nachweis der Befähigung sind auch im Hinblick darauf weiterhin verfassungsgemäß, dass großzügig darüber zu befinden ist, ob ein Ausnahmefall im Sinne des § 8 Abs. 1 HwO vorliegt.
2. Die Ablegung der Meisterprüfung ist für den Antragsteller unzumutbar, wenn die mit ihr verbundene Belastung nach den Umständen des Einzelfalls deutlich höher als in der Vielzahl der Fälle ist. Die Kosten für die Prüfungsvorbereitung und für die Ablegung der Meisterprüfung sind dafür regelmäßig ohne Bedeutung. Es kommt auch nicht darauf an, aus welchen Gründen der Antragsteller die Meisterprüfung in der Vergangenheit nicht abgelegt hat.
Normenkette
HwO § 8 Abs. 1, 4, §§ 6, 7 Abs. 1, 3, §§ 9, § 46 ff.; EWG/EWR HwV § 1; BVerfGG § 31 Abs. 1; VwGO § 113 Abs. 5 S. 2, § 142
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 29.10.1999; Aktenzeichen 4 A 334/97) |
VG Köln (Entscheidung vom 07.11.1996; Aktenzeichen 1 K 822/94) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Oktober 1999 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der im Jahre 1964 geborene Kläger erstrebt die Erteilung einer Ausnahmebewilligung zur Eintragung in die Handwerksordnung. Er absolvierte vom 1. September 1979 an eine Lehre als Bäcker, die er nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen am 1. November 1980 aufgab. 1982 nahm er in einer Bäckerei eine Beschäftigung als Bäcker auf. Er ist verheiratet und hat sechs minderjährige Kinder.
Der Kläger beabsichtigt, sich selbständig zu machen. Er beantragte im Juli 1992 die Erteilung einer Ausnahmebewilligung zur Eintragung in die Handwerksrolle für das Bäckerhandwerk. Zur Begründung führte er aus, er habe sich zum Leiter eines Bäckereibetriebes hochgearbeitet und verfüge über entsprechende fachliche Qualifikationen.
Die Beklagte lehnte den Antrag nach Anhörung der Beigeladenen, die eine Stellungnahme der Bäckerinnung für die Stadt Köln und den Erftkreis eingeholt hatte, mit Bescheid vom 24. Mai 1993 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass es dem Kläger nach seinem Lebensalter durchaus noch zuzumuten sei, die erforderliche Berufsausbildung regulär zu durchlaufen, und unabhängig davon auch keine zwingenden Gründe vorlägen, aus denen er auf die sofortige selbständige Handwerksausübung angewiesen sei. Wirtschaftliche Nachteile aus der fehlenden Möglichkeit, einen Betrieb zu übernehmen, könnten einen Ausnahmefall nicht begründen. Bei dieser Sachlage erübrige sich die Prüfung, ob der Kläger über meisterliche Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe die Lehre aus gesundheitlichen Gründen nicht fortsetzen können. Aufgrund seiner familiären Situation sei er nicht in der Lage, diese nachzuholen. In fachlicher Hinsicht erfülle er die an einen Meister zu stellenden Anforderungen. Durch die Versagung der Ausnahmebewilligung werde er schlechter gestellt als ein Ausländer aus anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Die Beklagte wies den Widerspruch nach erneuter negativer Stellungnahme der Beigeladenen mit Bescheid vom 5. Januar 1994 zurück.
Mit seiner zunächst auf Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung der Ausnahmebewilligung gerichteten Klage hat der Kläger geltend gemacht, er sei auf die Erteilung einer Ausnahmebewilligung angewiesen, weil es aufgrund der Marktsituation fraglich sei, wie lange ihn sein derzeitiger Arbeitgeber noch als Betriebsleiter beschäftigen könne. Ohne Eintragung in die Handwerksrolle stehe ihm eine vergleichbare anderweitige Position nicht offen. Wegen der hohen finanziellen Belastung für seine Familie und sein Eigenheim sei er auf die Beibehaltung seiner derzeitigen Einnahmen angewiesen. Die Teilnahme an einem Meisterlehrgang stelle eine unzumutbare Belastung dar.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit dem zuletzt verfolgten Ziel, die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verpflichten, den Kläger gemäß der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, stattgegeben. Es hat ausgeführt, dem Kläger stehe ein Ausnahmegrund im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 HwO zur Seite, weil er gegenwärtig und auch noch auf längere Zeit für den Unterhalt einer weit überdurchschnittlich großen Familie aufzukommen habe und ihm deshalb sowohl in zeitlicher als auch in finanzieller Hinsicht der Besuch eines Meisterprüfungslehrganges nicht zugemutet werden könne.
Auf die Berufung der Beigeladenen hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 29. Oktober 1999 (GewArch 2000, 75) die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Ein Ausnahmefall im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 der Handwerks-ordnung liege nicht vor. In der Ablegung der Meisterprüfung, die nach der Systematik des Gesetzes im Regelfall Voraussetzung für die Eintragung in die Handwerksrolle und den selbständigen Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe sei und deren grundsätzliches Erfordernis mit Art. 12 Abs. 1 GG im Einklang stehe, liege für den Kläger keine unzumutbare Belastung. Ob ein Ausnahmefall vorliege, sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Abzustellen sei darauf, ob seit dem Zeitpunkt der Antragstellung Gründe eingetreten seien, die eine besondere, aus dem Rahmen fallende Belastung darstellten und dem Antragsteller die Ablegung der Meisterprüfung unzumutbar machten. Solche Gründe lägen nicht vor. Die familiären und finanziellen Verhältnisse könnten keinen Ausnahmefall begründen, weil sie sich noch im Rahmen dessen hielten, was allgemein einem Bewerber um den Meisterbrief zugemutet werden dürfe. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz wegen unterschiedlicher Behandlung deutscher und ausländischer Handwerker im Rahmen des Binnenmarktes liege nicht vor.
Der Kläger macht zur Begründung seiner Revision, mit der er wieder sein ursprüngliches Verpflichtungsbegehren verfolgt, geltend, es entspreche dem Schutzgedanken des Art. 12 Abs. 1 GG, einem Berufsbewerber eine Ausnahmebewilligung zu gewähren, wenn die Ablegung der Meisterprüfung zum Zeitpunkt der Antragstellung oder danach für ihn eine unzumutbare Belastung bedeuten würde. Die Ausnahmebewilligung sei zu erteilen, wenn es eine übermäßige, nicht zumutbare Belastung darstellte, den Bewerber auf den Nachweis seiner fachlichen Befähigung gerade in der Form der Ablegung der Meisterprüfung zu verweisen. Dabei sei namentlich die familiäre Situation zu beachten. Der Kläger müsse für den Unterhalt einer Vielzahl von Angehörigen aufkommen und sei deswegen nicht imstande, den Zeit- und Geldaufwand für den Besuch von Meisterkursen zu tragen.
Die Beklagte und die Beigeladene treten der Revision entgegen.
Der Oberbundesanwalt unterstützt die Rechtsauffassung des Klägers.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil verstößt gegen revisibles Recht. Die Prüfung der Voraussetzungen der beantragten Ausnahmebewilligung erfordert weitere tatsächliche Feststellungen, die dem Revisionsgericht verwehrt sind (§ 137 Abs. 2 VwGO). Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Dass der Kläger sein Begehren im Revisionsverfahren in einen Verpflichtungsantrag gefasst hat, begegnet keinen Bedenken. § 142 VwGO steht schon deshalb nicht entgegen, weil das Verpflichtungsbegehren von Anfang an gestellt worden war (vgl. Urteil vom 21. Oktober 1983 – BVerwG 8 C 162.81 – BVerwGE 68, 121 ≪123≫). Die Rückkehr zum Verpflichtungsantrag ist sachgerecht. Nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO spricht das Gericht bei fehlender Spruchreife die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Grundsätzlich ist die Spruchreife vom Gericht herzustellen, so dass § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO regelmäßig nur bei Ermessensentscheidungen und unter bestimmten Umständen bei Beurteilungsspielräumen anzuwenden ist (Urteil vom 20. Februar 1992 – BVerwG 3 C 51.88 – BVerwGE 90, 18 ≪24≫). Die Entscheidung über die Ausnahmebewilligung nach § 8 HwO steht nicht im Ermessen der Behörde, der auch hinsichtlich der zu fordernden Kenntnisse und Fertigkeiten kein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (Urteil vom 5. Mai 1959 – BVerwG 7 C 66.59 – BVerwGE 8, 287 ≪290≫; Beschluss vom 23. Februar 1970 – BVerwG 1 B 12.70 – GewArch 1971, 164 ≪165≫). Daher liegt kein Fall des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO vor.
2. Rechtsgrundlage für die beantragte Ausnahmebewilligung ist § 8 Abs. 1 des Gesetzes zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung) in der schon im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 24. September 1998 (BGBl I S. 3074) – HwO –. Danach ist in Ausnahmefällen eine Bewilligung zur Eintragung in die Handwerksrolle (Ausnahmebewilligung) zu erteilen, wenn die zur selbständigen Ausübung des von dem Antragsteller zu betreibenden Handwerks notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten nachgewiesen sind; dabei sind auch seine bisherigen beruflichen Erfahrungen und Tätigkeiten zu berücksichtigen (Satz 1). Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn die Ablegung der Meisterprüfung zum Zeitpunkt der Antragstellung oder danach für ihn eine unzumutbare Belastung darstellen würde (Satz 2). Die Erteilung der beantragten Ausnahmebewilligung scheitert nicht an dem Fehlen eines Ausnahmefalles im Sinne dieser Regelung. Die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht.
a) Nach § 1 Abs. 1 HwO ist der selbständige Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe nur den in die Handwerksrolle eingetragenen natürlichen und juristischen Personen und Personengesellschaften gestattet. In die nach § 6 HwO von der Handwerkskammer zu führende Handwerksrolle wird nach § 7 Abs. 1 HwO eingetragen, wer in dem von ihm zu betreibenden Handwerk oder in einem diesem verwandten Handwerk die Meisterprüfung bestanden hat. § 7 Abs. 3 HwO bestimmt, dass in die Handwerksrolle eingetragen wird, wer eine Ausnahmebewilligung nach § 8 oder § 9 für das zu betreibende Handwerk oder für ein diesem verwandtes Handwerk besitzt.
Aus dem dargestellten System folgt, dass die Meisterprüfung (großer Befähigungsnachweis) die regelmäßige Voraussetzung für die Eintragung in die Handwerksrolle und damit den selbständigen Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe ist.
Wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, ist das Erfordernis des großen Befähigungsnachweises mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar. Der besondere Ausbildungsgang und die Prüfung beschweren die Berufsbewerber im typischen Fall nicht übermäßig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Handwerksordnung Instrumente vorhält, die geeignet sind, das Gewicht der in der Forderung des großen Befähigungsnachweises liegenden Berufszugangsbeschränkung weiter zu mildern. Dazu gehört namentlich, dass der Berufsbewerber den Nachweis der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten in Ausnahmefällen auf andere Weise als durch eine Meisterprüfung erbringen kann. Ausnahmefälle sind mindestens dann anzunehmen, wenn es eine übermäßige, nicht zumutbare Belastung darstellen würde, einen Berufsbewerber auf den Nachweis seiner fachlichen Befähigung gerade durch Ablegung der Meisterprüfung zu verweisen. Wann das der Fall ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles beurteilen. Als ein besonders erschwerendes Moment kann es beispielsweise angesehen werden, dass ein Berufsbewerber für den Unterhalt von Angehörigen aufkommen muss und deswegen nicht imstande ist, den Zeit- und Geldaufwand für den Besuch von Meisterkursen zu tragen (BVerfGE, Beschluss vom 17. Juli 1961 – 1 BvL 44/55 – BVerfGE 13, 97).
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG Bindungswirkung. Zwar sind die Vorschriften der Handwerksordnung über die Voraussetzungen für die Eintragung in die Handwerksrolle nachfolgend geändert worden. Die vom Bundesverfassungsgericht geprüfte Vorschrift des § 7 Abs. 2 HwO a.F. entspricht jedoch in Bezug auf die Ausnahmebewilligung nach § 8 HwO dem jetzigen § 7 Abs. 3 HwO; die Änderung des § 8 Abs. 1 Satz 2 HwO erweitert mit der Festlegung der Erheblichkeit der Unzumutbarkeit der Ablegung der Meisterprüfung auf die Zeit der Antragstellung oder danach die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmebewilligung. An dem grundlegenden Verhältnis von Befähigungsnachweis und Ausnahmebewilligung hat sich damit nichts geändert. Namentlich ist das Verständnis der Ausnahmebewilligung durch die Gesetzesänderungen nicht berührt worden. In seinen Beschlüssen vom 31. März 2000 – 1 BvR 608/99 – (GewArch 2000, 240 ≪241≫) und vom 27. September 2000 – 1 BvR 2176/98 – (GewArch 2000, 480) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, es habe „die maßgeblichen Fragen zum Befähigungsnachweis für das Handwerk bereits entschieden”.
Unbeschadet der Bindung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG vertritt auch der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass der große Befähigungsnachweis verfassungskonform ist und setzt wegen der darin liegenden empfindlichen Eingriffe in die Freiheit selbständiger Berufsausübung eine grundrechtsfreundliche, großzügige Auslegung und Anwendung der Ausnahmetatbestände voraus (Urteil vom 26. Januar 1962 – BVerwG 7 C 68.59 – BVerwGE 13, 317 ≪324≫; Beschlüsse vom 3. Februar 1994 – BVerwG 1 B 210.93 – Buchholz 451.45 § 8 HwO Nr. 17 und vom 27. Mai 1998 – BVerwG 1 B 51.98 – Buchholz 451.45 § 8 HwO Nr. 19).
b) § 8 Abs. 1 Satz 2 HwO ist in seiner Ursprungsfassung mit der Novellierung der Handwerksordnung durch Gesetz vom 9. September 1965 (BGBl I S. 1254) eingefügt worden. Während der Initiativentwurf der drei damals im Bundestag vertretenen Parteien (BTDrucks IV/2335) eine entsprechende Vorschrift noch nicht enthielt, beantragte der Ausschuss für Mittelstandsfragen ihre Aufnahme in das Gesetz (BTDrucks IV/3461). Damit sollte die von den Gerichten, vor allem dem Bundesverwaltungsgericht, vorgenommene Auslegung des geltenden Rechts beachtet werden. § 8 Abs. 1 Satz 2 HwO ist durch das Gesetz vom 20. Dezember 1993 (BGBl I S. 2256) dahin gehend geändert worden, dass die Umstände zum Zeitpunkt der Antragstellung oder danach maßgebend sind. Soweit mit Billigung des BVerfG (Kammerbeschluss vom 4. April 1990 – 1 BvR 185/89 – GewArch 1991, 137) Ausnahmefälle mit der Begründung verneint worden sind, der betreffende Bewerber habe aus nicht gerechtfertigten Gründen in früherer Zeit die Meisterprüfung versäumt (etwa Urteile vom 26. Juni 1990 – BVerwG 1 C 22.88 – Buchholz 451.45 § 9 HwO Nr. 2, vom 25. Februar 1992 – BVerwG 1 C 56.88 – Buchholz 451.45 § 8 HwO Nr. 13 und vom 8. Dezember 1992 – BVerwG 1 C 5.91 – Buchholz 451.45 § 8 HwO Nr. 15), kann dies nicht mehr ohne Weiteres Geltung beanspruchen. Aus der amtlichen Begründung zum Gesetzentwurf (BTDrucks 12/5918, S. 18) geht hervor, dass die Berücksichtigung des beruflichen Werdegangs und vor allem eines vom Bewerber zu vertretenden Grundes dafür, dass die Meisterprüfung bisher nicht abgelegt worden ist, als zu weitgehend empfunden worden ist. Es soll danach künftig darauf abgestellt werden, ob seit Antragstellung Gründe eingetreten sind, die eine besondere, aus dem Rahmen fallende Belastung darstellten und dem Antragsteller die Ablegung der Meisterprüfung unzumutbar machen. Diesem gesetzgeberischen Ziel, das in der Formulierung des Gesetzes seinen Ausdruck findet, muss die Auslegung und Anwendung der Vorschrift Rechnung tragen.
Die Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 2 HwO erfordert eine Gegenüberstellung der Voraussetzungen des Normalfalls der Meisterprüfung und des Sonderfalls einer durch eine solche Prüfung eintretenden unzumutbaren Belastung. Die Meisterprüfung setzt gemäß § 49 Abs. 1 HwO die Zulassung voraus, welche regelmäßig das Bestehen einer Gesellenprüfung und eine mehrjährige, in der Regel dreijährige, Tätigkeit in dem betreffenden Handwerk erfordert. Die Prüfung besteht gemäß § 46 HwO regelmäßig aus vier Teilen und wird nach § 47 HwO durch den Meisterprüfungsausschuss abgenommen. Zur Vorbereitung auf die Prüfung werden Kurse angeboten, etwa ein 19 Monate dauernder Abendkurs. Die durch die Abnahme der Meisterprüfung entstehenden Kosten werden nach § 50 HwO durch die Handwerkskammer getragen. Diese Regelung bedeutet aber nur, dass nicht der Staat die Kosten trägt, und schließt die Erhebung von Gebühren durch die Handwerkskammer nicht aus (vgl. Honig, HwO, 2. Aufl. 1999, § 50 Rn. 5; Musielak/Detterbeck, Das Recht des Handwerks, 3. Aufl. 1995, § 50 Rn. 1). Die dem Prüfling entstehenden Kosten können nach dem Gesetz zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung vom 23. April 1996 (BGBl I S. 623), geändert durch Gesetz vom 19. März 2001 (BGBl I S. 390), aufgefangen werden. Die Meisterprüfung ist sonach durch die Zulassungsvoraussetzungen mehrjähriger Ausbildungs- und Berufsausübungszeiten sowie durch eine gewisse Förmlichkeit des Prüfungsverfahrens gekennzeichnet. Wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, beschweren der besondere Ausbildungsgang und die Prüfung, die das Gesetz als Regelfall der Erzielung der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten vorgeschrieben hat, die Berufsbewerber im typischen Fall nicht übermäßig.
Ausnahmefälle sind danach dadurch gekennzeichnet, dass der als Regel vorgeschriebene Weg zur Erzielung und zum Nachweis der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten für einen Bewerber zu einer im Verhältnis zu der Vielzahl anderer Bewerber übermäßigen Belastung führt. Diese Belastung kann angesichts der Möglichkeit der Förderung der beruflichen Ausbildung durch öffentliche Mittel im Allgemeinen nicht in der Tragung der für den Erwerb des Meistertitels aufzubringenden Kosten liegen. Es kommen deshalb regelmäßig nur Fälle in Betracht, in denen die mehrjährige Ausbildung als solche und dabei namentlich die unmittelbare Vorbereitung auf die Meisterprüfung oder die Förmlichkeit der Prüfungssituation den Antragsteller mehr als die Vielzahl anderer Bewerber belastet. Dabei muss die Belastung von einigem Gewicht sein, damit nicht die Ausnahmebewilligung als gleichwertige Alternative zum Meisterbrief erscheint, was sie nicht ist (Urteil vom 26. Juni 1990 – BVerwG 1 C 22.88 – Buchholz 451.45 § 9 HwO Nr. 2 = GewArch 1991, 386). Alle Umstände des jeweiligen Falles sind zu berücksichtigen. Namentlich der persönlichen und familiären Situation des Bewerbers kann eine besondere Bedeutung zukommen (BVerfGE 13, 97 ≪121≫; BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. April 1990 – 1 BvR 185/89 – GewArch 1991, 137).
c) Das angefochtene Urteil wendet § 8 Abs. 1 Satz 2 HwO nicht in der gebotenen großzügigen Weise an. Es berücksichtigt nicht ausreichend, dass der Zeitaufwand zur Erlangung der Voraussetzungen für die Zulassung zur Meisterprüfung und zur Vorbereitung darauf für den Kläger zu deutlich höheren Belastungen als in der Vielzahl der Fälle führt.
Die Situation des Klägers unterscheidet sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts in mehreren Punkten deutlich von dem Normalfall. Der Kläger hat eine Familie mit sechs minderjährigen Kindern. Um seine Familie angemessen unterhalten zu können, ist er auf die Erbringung von Überstunden angewiesen. Außerdem hat der Kläger das Recht und die Pflicht, sich in angemessenem Umfang auch persönlich um die Betreuung seiner Familie mit sechs minderjährigen Kindern zu bemühen. Angesichts einer durchschnittlichen Familiengröße von drei bis vier Familienmitgliedern liegt hier eine deutliche Abweichung von dem Normalfall vor. Eine überdurchschnittliche Familiengröße führt allerdings nicht ohne weiteres zu einem Ausnahmefall. Sie kann aber im Zusammenhang mit anderen Gründen eine aus dem Rahmen fallende Belastung mit sich bringen. Dazu gehört die ungünstige Arbeitszeit im Bäckerhandwerk. Der erkennende Senat ist mit dem Oberbundesanwalt der Auffassung, dass aus dem Zusammenwirken aller Umstände eine Situation folgt, die es dem Kläger unzumutbar macht, den regelmäßigen Weg zur Eintragung in die Handwerksrolle zu beschreiten, der die Nachholung eines Teiles der Lehrzeit und der Gesellenprüfung sowie die Vorbereitung auf die Meisterprüfung einschließen müsste. Dies kann der Kläger unter Berücksichtigung seiner Unterhaltsverpflichtungen nicht leisten. Seine besondere Lage schließt es praktisch aus, auf regulärem Weg die Eintragung in die Handwerksrolle zu erreichen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es ohne Bedeutung, dass der Kläger nach seinem Vorbringen bereits über die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt. Die Ausnahmebewilligung erfordert das Vorliegen eines Ausnahmefalles und als weitere Voraussetzung die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Würden genügende Kenntnisse und Fertigkeiten der Annahme eines Ausnahmefalles entgegenstehen, käme eine Ausnahmebewilligung niemals in Betracht. Eine solche Vorstellung liegt dem Gesetz nicht zu Grunde. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass auch derjenige, der sich in der Praxis Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet hat, typischerweise eine Vorbereitung auf die Prüfung benötigt. Denn die in der praktischen Berufsausübung erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten werden in der Regel nicht das gesamte prüfungsrelevante Spektrum (vgl. Verordnung über gemeinsame Anforderungen in der Meisterprüfung im Handwerk vom 12. Dezember 1972 ≪BGBl I S. 2381≫ mit späteren Änderungen, Bäckermeisterverordnung vom 28. Februar 1997 ≪BGBl I S. 393≫) abdecken.
3. Es ist Sache des Berufungsgerichts festzustellen, ob der Kläger über die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, deren Vorliegen die weitere Voraussetzung für die Erteilung einer Ausnahmebewilligung ist. Die Verfahrensbeteiligten sind verpflichtet, zu dieser Ermittlung beizutragen. Das Gericht wird zu entscheiden haben, ob es sich der Hilfe eines Sachverständigen bedient.
4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Unterschriften
Hahn, Eckertz-Höfer, Bayer, Gerhardt, Büge
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 29.08.2001 durch Heider Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BVerwGE, 70 |
ZAP 2002, 12 |
DÖV 2002, 166 |
GewArch 2001, 479 |
DVBl. 2002, 201 |
JURAtelegramm 2002, 240 |
VA 2001, 197 |