Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Auslieferung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union an einen Drittstaat, wo für ihn das Risiko der Todesstrafe besteht. Unionsbürgerschaft. Schutz vor Auslieferung
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; AEUV Art. 18, 21; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 19 Abs. 2
Beteiligte
Peter Schotthöfer & Florian Steiner |
Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR |
Tenor
Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Bürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bezirksgericht Linz (Österreich) mit Entscheidung vom 24. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2015, in dem Verfahren
Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR
gegen
Eugen Adelsmayr
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR, vertreten durch die Rechtsanwälte A. Hawel, E. Eypeltauer, A. Gigleitner und N. Fischer,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,
- von Irland, vertreten durch E. Creedon, L. Williams, D. Kelly und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV sowie von Art. 6, Art. 19 Abs. 2, Art. 47 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR und Herrn Eugen Adelsmayr betreffend eine Entschädigung, die gezahlt werden soll, weil ein Vertrag wegen der Befürchtung, ausgeliefert zu werden, aufgelöst worden ist.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 3
Peter Schotthöfer & Florian Steiner, eine in München (Deutschland) niedergelassene Anwaltskanzlei, lud Herrn Adelsmayr, einen in Österreich wohnhaften österreichischen Arzt, ein, im Januar 2015 vor ihren Mandanten einen Vortrag über die Arbeitsbedingungen und die Rechtsverfolgung in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu halten, wo er ab dem Jahr 2004 mehrere Jahre lang als Anästhesist und Intensivmediziner gearbeitet hatte.
Rz. 4
Im Februar 2009 verstarb ein von Herrn Adelsmayr in den Vereinigten Arabischen Emiraten behandelter, schwer kranker Patient, der mehrere Herzstillstände erlitten hatte, nach einer Operation an einem weiteren Herzstillstand. Herrn Adelsmayr wurde dieser Todesfall vorgeworfen.
Rz. 5
Nach einer Beschwerde eines Arztes des Krankenhauses, in dem Herr Adelsmayr tätig war, wurde von ebendiesem Arzt eine Untersuchung geleitet. Im Endbericht war von Mord und Totschlag die Rede.
Rz. 6
2011 begann ein Prozess in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate), in dem die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe für Herrn Adelsmayr forderte. Im Jahr 2012 reiste dieser jedoch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten aus. In seiner Abwesenheit wurde er in einem Provisorialverfahren zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das ursprüngliche Verfahren kann jederzeit wieder aufgenommen werden und zu einer Verurteilung des Betroffenen zur Todesstrafe führen.
Rz. 7
In Österreich wurde ebenfalls ein Strafverfahren gegen Herrn Adelsmayr eingeleitet, das die Anklage gegen ihn in den Vereinigten Arabischen Emiraten betraf. Dieses Verfahren wurde aber am 5. Mai 2014 von der österreichischen Staatsanwaltschaft eingestellt, und es wurde ausgeführt, dass „der Beklagte glaubhaft den Eindruck vermitteln konnte, dass es sich bei dem in Dubai angestrengten Verfahren mutmaßlich um eine Hetzkampagne gegen ihn gehandelt habe”.
Rz. 8
Herr Adelsmayr erhielt von den österreichischen Behörden die Empfehlung, einzelne Staaten anzuschreiben, um zu überprüfen, ob er in ihr Hoheitsgebiet einreisen könne, ohne Gefahr zu laufen, an die Behörden der Vereinigten Arabischen Emirate übergeb...