Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Europäische Ermittlungsanordnung. Begriff ‚Justizbehörde‘. Begriff ‚Anordnungsbehörde‘. Anordnung, die von einer Steuerbehörde erlassen und nicht von einem Richter oder einem Staatsanwalt validiert wird. Steuerbehörde, die die Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer steuerstrafrechtlichen Ermittlung wahrnimmt
Normenkette
RL 2014/41/EU Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Buchst. c
Beteiligte
Staatsanwaltschaft Graz (Service des affaires fiscales pénales de Düsseldorf) |
Tenor
Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen
sind dahin auszulegen, dass
- eine Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, die zwar zur Exekutive dieses Staats gehört, aber gemäß dem nationalen Recht anstelle der Staatsanwaltschaft steuerstrafrechtliche Ermittlungen selbständig durchführt und dabei die Rechte und Pflichten wahrnimmt, die der Staatsanwaltschaft zukommen, nicht als „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde“ im Sinne dieser beiden Bestimmungen angesehen werden kann;
- eine solche Behörde hingegen unter den Begriff „Anordnungsbehörde“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c Ziff. ii dieser Richtlinie fallen kann, sofern die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.
Tatbestand
In der Rechtssache C-16/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Graz (Österreich) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Januar 2022, in dem Verfahren über die Anerkennung und Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung betreffend
MS,
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft Graz,
Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung Düsseldorf,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von MS, vertreten durch Rechtsanwalt J. Herbst,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und M.-T. Rappersberger als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche, M. Hellmann und D. Klebs als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Ersuchens um Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Österreich, die vom Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung Düsseldorf (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt für Steuerstrafsachen Düsseldorf) in Bezug auf MS erlassen wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 5 bis 8 der Richtlinie 2014/41 heißt es:
„(5) [Es] ist deutlich geworden, dass der bestehende Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln zu fragmentiert und zu kompliziert ist. Daher ist ein neuer Ansatz erforderlich.
(6) In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiter verfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsinstrumente auf diesem Gebiet eine lückenhafte Regelung dar und bedurfte es eines neuen Ansatzes, der auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, aber auch der Flexibilität des traditionellen Systems der Rechtshilfe Rechnung trägt. Der Europäische Rat hat daher ein umfassendes System gefordert, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss 2008/978/JI [des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (ABl. 2008, L 350, S. 72)], und das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst, Vollstreckungsfristen enthält und das die Versagungsgründe so weit wie möglich beschränkt.
(7) Diesem neuen Ansatz liegt ein einheitliches Instrument zugrunde, das als Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden ‚EEA‘) bezeichnet wird. Die EEA sollte zur Durchführung einer oder mehrerer spezi...