Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Rechtshängigkeit. Verfahren der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes in einem ersten Mitgliedstaat und Scheidungsverfahren in einem zweiten Mitgliedstaat. Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts. Begriff der ‚geklärten’ Zuständigkeit. Erledigung des ersten Verfahrens und Einleitung eines erneuten Scheidungsverfahrens im ersten Mitgliedstaat. Folgen. Zeitverschiebung zwischen den Mitgliedstaaten. Auswirkungen auf das Verfahren zur Anrufung der Gerichte
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 16, 19 Abs. 1, 3
Beteiligte
Tenor
In Bezug auf Verfahren der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und der Ehescheidung, die zwischen denselben Parteien bei Gerichten zweier Mitgliedstaaten angestrengt wurden, ist Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der sich das Verfahren vor dem zuerst im ersten Mitgliedstaat angerufenen Gericht nach Anrufung des zweiten Gerichts im zweiten Mitgliedstaat erledigt hat, die Kriterien für die Rechtshängigkeit nicht mehr erfüllt sind und folglich die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts als nicht geklärt bzw. nicht feststehend anzusehen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 31. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 4. November 2014, in dem Verfahren
A
gegen
B
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau A, vertreten durch T. Amos, QC, und H. Clayton, Barrister,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt als Bevollmächtigten im Beistand von M. Gray, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau A und Herrn B betreffend ihre Scheidung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 2201/2003
Rz. 3
Art. 3 („Allgemeine Zuständigkeit”) der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält in Abs. 1 die Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit, die je nach dem Aufenthaltsort eines oder beider Ehegatten, ihrer Staatsangehörigkeit oder, im Fall des Vereinigten Königreichs, ihrem gemeinsamen „domicile” Anwendung finden.
Rz. 4
Art. 16 („Anrufung eines Gerichts”) der Verordnung bestimmt:
„Ein Gericht gilt als angerufen
zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken,
oder
- falls die Zustellung an den Antragsgegner vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen.”
Rz. 5
Art. 19 („Rechtshängigkeit und abhängige Verfahren”) der Verordnung lautet:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zwischen denselben Parteien gestellt, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.
(2) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene...