Entscheidungsstichwort (Thema)
Beherrschende Stellung. Öffentliche Unternehmen. Tätigkeit der Vermittlung von Arbeitskräften. Gesetzliches Monopol
Normenkette
EGVtr Art. 86 (jetzt Art. 82 EG), Art. 90 (jetzt Art. 86 EG)
Beteiligte
Verfahrensgang
Pretura di Firenze (Italien) |
Tenor
Artikel 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG) hat auch im Rahmen des Artikels 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 EG) unmittelbare Wirkung und begründet für den einzelnen Rechte, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.
Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen unterliegen dem Verbot des Artikels 86 des Vertrages, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen ausgeübt wird, verstößt gegen Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstoßen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
- • Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;
- • die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;
- • die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.
Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet läßt, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte.
Gründe
1.
Die Pretura Florenz hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 20. Juni 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 86 und 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG und 86 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Carra, Frau Colombo und Frau Gianassi (im folgenden: die Angeklagten) wegen der Vermittlung von Stellengesuchen und -angeboten auf dem Arbeitsmarkt.
3.
In Italien galt bis zum 8. Januar 1998 für den Arbeitsmarkt das System der obligatorischen Vermittlung, das von Arbeitsämtern verwaltet wird. Dieses System ist im Gesetz Nr. 264 vom 29. April 1949 (Suppl. GURI Nr. 125 vom 1. Juni 1949) in seiner geänderten Fassung (im folgenden: Gesetz Nr. 264/49) geregelt. Artikel 11 Absatz 1 dieses Gesetzes verbietet jede Vermittlung von Stellenangeboten und -gesuchen, selbst wenn sie unentgeltlich erfolgt. Jede gegen diese Vorschrift verstoßende Arbeitsvermittlung und die Einstellung von Arbeitnehmern ohne Einschaltung des Arbeitsamtes werden gemäß dem Gesetz Nr. 264/49 mit strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen geahndet. Außerdem können Arbeitsverträge, die unter Verstoß gegen diese Vorschriften geschlossen worden sind, auf Beschwerde des Arbeitsamtes, die innerhalb eines Jahres nach Einstellung des Arbeitnehmers eingereicht werden muß, und auf Antrag der Staatsanwaltschaft gerichtlich für ungültig erklärt werden.
4.
Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1369 vom 23. Oktober 1960 (GURI Nr. 289 vom 25. November 1960; im folgenden: Gesetz Nr. 1369/60) verbietet die Vermittlung und die Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften wird mit den in Artikel 2 dieses Gesetzes vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen geahndet. Gemäß Artikel 1 letzter Absatz des Gesetzes Nr. 1369/60 gelten Arbeitnehmer, die unter Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 beschäftigt werden, in jeder Hinsicht als von dem Unternehmer angestellt, der ihre Leistungen tatsächlich genutzt hat.
5.
Nach Artikel 2 des Gesetzes Nr. 196 vom 24. Juni 1997 mit Vorschriften über die Beschäftigungsförderung (Suppl. GURI Nr. 154 vom 4. Juli 1997; im folgenden: Gesetz Nr. 196/97) dürfen nur Unternehmen, die in das vom Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit geführte Register eingetragen sind und eine von diesem Ministerium erteilte Erlaubnis besitzen, die Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern ausüben. Gemäß Artikel 10 des Gesetzes Nr. 196/97 unterliegen Personen, die diese Tätigkeit ausüben, ohne in das Register eingetragen zu sein, den im Gesetz Nr. 1369/60 vorgesehenen Sanktionen.
6.
Das Decreto legislativo Nr. 469 vom 23. Dezember 1997 betreffend die Übertragung von Funktionen und Aufgaben auf dem Ge...