Entscheidungsstichwort (Thema)
Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Art. 45 AEUV. Verfahren der vollständigen oder teilweisen Entschuldung. Natürliche Person als Schuldner. Nationale Regelung, die die Bewilligung der Entschuldung an das Erfordernis eines Wohnsitzes knüpft
Beteiligte
Ulf Kazimierz Radziejewski |
Kronofogdemyndigheten i Stockholm |
Tenor
Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die die Bewilligung einer Entschuldung an das Erfordernis eines Wohnsitzes im betreffenden Mitgliedstaat knüpft.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Stockholms tingsrätt (Schweden) mit Entscheidung vom 23. August 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2011, in dem Verfahren
Ulf Kazimierz Radziejewski
gegen
Kronofogdemyndigheten i Stockholm
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter K. Lenaerts (Berichterstatter), E. Juhász, J. Malenovský und D. Šváby,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Radziejewski, vertreten durch E. Envall, socionom/utredare,
- der Kronofogdemyndighet i Stockholm, vertreten durch A.-C. Gustafsson und S. Höglund Westermark als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz und C. Stege als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. September 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Radziejewski und der Kronofogdemyndighet i Stockholm (Vollstreckungsbehörde Stockholm, im Folgenden: KFM) wegen eines Antrags auf Bewilligung der Entschuldung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000
Rz. 3
Im neunten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) heißt es:
„… Die Insolvenzverfahren, auf die diese Verordnung Anwendung findet, sind in den Anhängen aufgeführt. …”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 lautet:
„Diese Verordnung gilt für Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben.”
Rz. 5
Art. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1346/2000 definiert „Insolvenzverfahren” als „die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Gesamtverfahren”, die in Anhang A aufgeführt sind.
Rz. 6
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 bestimmt:
„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. …”
Rz. 7
Anhang A der Verordnung Nr. 1346/2000 sieht vor:
„Insolvenzverfahren gemäß Art. 2 Buchst. a)
…
SVERIGE
- Konkurs
- Företagsrekonstruktion
…”
Verordnung (EG) Nr. 44/2001
Rz. 8
Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) definiert den Anwendungsbereich der Verordnung wie folgt:
„(1) Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.
(2) Sie ist nicht anzuwenden auf:
…
b) Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren;
…”
Rz. 9
Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;
…”
Rz. 10
Art. 32 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:
„Unter ‚Entscheidung’ im Sinne dieser Verordnung ist jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung zu verstehen, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder Vollstreckungsbescheid, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten.”
Rz. 11
Art. 62 der Verordnung Nr. 44/2001 sieht vor:
„Bei den summarischen Verfahren betalningsföreläggande (Mahnverfahren) und handräckning (Beistandsverfahren) in Schweden umfasst der Begriff ‚Gericht’ auch die schwedische kronofogdemyndighet (Amt für Beitreibung).”
Schwedisches Recht
Rz. 12
§ 4 des Skuldsaneringslag (2006:548) (Entschuldungsgesetz 548 von 2006) (im Folgenden: ...