Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Erhebung personenbezogener Daten durch Mitglieder einer Religionsgemeinschaft im Rahmen ihrer von Tür zu Tür durchgeführten Verkündigungstätigkeit. Begriff ‚Datei mit personenbezogenen Daten’. Begriff ‚für die Verarbeitung Verantwortlicher’
Normenkette
Richtlinie 95/46/EG Art. 3, 2 Buchst. c, d; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 10 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr ist im Licht von Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass die Erhebung personenbezogener Daten, die durch Mitglieder einer Religionsgemeinschaft im Rahmen einer Verkündigungstätigkeit von Tür zu Tür erfolgt, und die anschließenden Verarbeitungen dieser Daten weder Verarbeitungen personenbezogener Daten darstellen, die für die Ausübung von Tätigkeiten im Sinne von Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich dieser Richtlinie erfolgen, noch Verarbeitungen personenbezogener Daten, die von natürlichen Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten vorgenommen werden, wie in Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie vorgesehen.
2. Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 95/46 ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung genannte Begriff „Datei” eine Sammlung personenbezogener Daten, die im Rahmen einer Verkündigungstätigkeit von Tür zu Tür erhoben wurden und zu denen Namen und Adressen sowie weitere Informationen über die aufgesuchten Personen gehören, umfasst, sofern diese Daten nach bestimmten Kriterien so strukturiert sind, dass sie in der Praxis zur späteren Verwendung leicht wiederauffindbar sind. Um unter diesen Begriff zu fallen, muss eine solche Sammlung nicht aus spezifischen Kartotheken oder Verzeichnissen oder anderen der Recherche dienenden Ordnungssystemen bestehen.
3. Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 ist im Licht von Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass eine Religionsgemeinschaft gemeinsam mit ihren als Verkündiger tätigen Mitgliedern als Verantwortliche für die Verarbeitungen personenbezogener Datenangesehen werden kann, die durch diese Mitglieder im Rahmen einer Verkündigungstätigkeit von Tür zu Tür erfolgen, die von dieser Gemeinschaft organisiert und koordiniert wird und zu der sie ermuntert, ohne dass es hierfür erforderlich wäre, dass die Gemeinschaft Zugriff auf diese Daten hat oder ihren Mitgliedern nachweislich schriftliche Anleitungen oder Anweisungen zu diesen Datenverarbeitungen gegeben hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 22. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 2017, in dem Verfahren auf Betreiben des
Tietosuojavaltuutettu,
Beteiligte:
Jehovan todistajat – uskonnollinen yhdyskunta,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský, E. Levits und C. Vajda, der Richter A. Borg Barthet, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Tietosuojavaltuutettu, vertreten durch R. Aarnio als Bevollmächtigten,
- der Jehovan todistajat – uskonnollinen yhdyskunta, vertreten durch S. H. Brady, asianajaja, und P. Muzny,
- der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Aalto, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Februar 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. c und d sowie Art. 3 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) im Licht von Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines vom Tiet...