Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzungsklage. Art. 56 AEUV. Deutsche Regelung der Pflegeversicherung. Im Fall des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschlossene Pflegesachleistungen bei häuslicher Pflege. Geringere Höhe der exportierbaren Geldleistungen. Keine Erstattung der Kosten der Miete von Pflegehilfsmitteln in anderen Mitgliedstaaten
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 30. November 2010,
Europäische Kommission, vertreten durch F. Bulst und I. Rogalski als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. April 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
In ihrer Klageschrift hat die Europäische Kommission die Feststellung beantragt, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 AEUV verstoßen hat, dass sie
- einen Anspruch auf Pflegegeld nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuchs – Elftes Buch in seiner im vorliegenden Fall geltenden Fassung (im Folgenden: SGB XI) bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nur für maximal sechs Wochen gewährt;
- für Pflegedienstleistungen, die bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommen und die von einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleister erbracht wurden, eine Kostenerstattung in der Höhe der innerhalb Deutschlands gewährten Pflegesachleistungen nicht vorsieht bzw. durch § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ausschließt;
- die Kosten der Miete von Pflegehilfsmitteln bei einem temporären Aufenthalt des Pflegebedürftigen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht ersetzt bzw. eine Kostenerstattung durch § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ausschließt, auch wenn diese in Deutschland erstattet oder Pflegehilfsmittel bereitgestellt würden und die Erstattung keine Verdoppelung oder sonstige Erhöhung der in Deutschland gewährten Leistungen zur Folge hätte.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 2
Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), sieht vor:
„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:
…
i)‚Aufenthalt’: der vorübergehende Aufenthalt;
…
o)‚Zuständiger Träger’:
i) der Träger, bei dem die in Betracht kommende Person im Zeitpunkt des Antrags auf Leistungen versichert ist, oder
…
p) ‚Träger des Wohnorts’ und ‚Träger des Aufenthaltsorts’: der Träger, der nach den Rechtsvorschriften, die für diesen Träger gelten, für die Gewährung der Leistungen an dem Ort zuständig ist, in dem der Betreffende wohnt oder sich aufhält, oder, wenn ein solcher Träger nicht vorhanden ist, der von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichnete Träger;
q) „Zuständiger Staat”: der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der zuständige Träger seinen Sitz hat;
…”
Rz. 3
Ausweislich seiner Überschrift betrifft Titel III der Verordnung Nr. 1408/71 besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten.
Rz. 4
In Titel III Kapitel I („Krankheit und Mutterschaft”) sind die Art. 18 bis 36 der Verordnung Nr. 1408/71 enthalten.
Rz. 5
Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft – wie seiner Überschrift zu entnehmen ist – u. a. den Aufenthalt von Versicherten außerhalb des zuständigen Staates im Sinne dieser Verordnung. Abs. 1 dieser Vorschrift bestimmt:
„Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen … erfüllt und
…
c) der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten,
hat Anspruch auf:
i) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den für diesen Träger gel...