Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen. Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art. Anwendung der nationalen Doppelleistungsbestimmungen. Berechnung der Hinterbliebenenrente. Teilung der Beträge der Leistung oder Leistungen oder der sonstigen Einkünfte, die berücksichtigt worden sind, durch die Zahl der Leistungen. Begriff der Beträge, die berücksichtigt worden sind
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 55 Abs. 1 Buchst. a
Beteiligte
Service fédéral des Pensions |
Service fédéral des Pensions |
Tenor
Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
ist dahin auszulegen, dass
er, wenn der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder sonstiger Einkünfte die Anwendung nationaler Doppelleistungsbestimmungen in Bezug auf autonome Leistungen erfordert, den betreffenden Mitgliedstaaten erlaubt, in ihren Rechtsordnungen vorzusehen, dass für die Berechnung des Betrags der auszuzahlenden Leistung entweder der Gesamtbetrag der von diesen nationalen Vorschriften berücksichtigten Einkünfte durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist, oder dass der Teil der Einkünfte, der die in den genannten nationalen Vorschriften festgelegte Kumulierungsobergrenze überschreitet, durch die Zahl der betreffenden Leistungen zu teilen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-45/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 4. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Januar 2022, in dem Verfahren
HK
gegen
Service fédéral des Pensions
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter), des Richters J. Passer und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von HK, der sich selbst vertritt,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
- – der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.–R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen HK und dem Service fédéral des Pensions (Föderaler Pensionsdienst, Belgien, im Folgenden: SFP) über die Berechnung des Betrags der Hinterbliebenenrente, auf die HK nach dem Tod seiner Ehefrau Anspruch hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1408/71
Rz. 3
Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) wurde am 1. Mai 2010, dem Tag, seit dem die Verordnung Nr. 883/2004 gilt, aufgehoben.
Rz. 4
Art. 46c („Besondere Vorschriften für das Zusammentreffen einer oder mehrerer Leistungen nach Artikel 46a Absatz 1 mit einer oder mehreren Leistungen unterschiedlicher Art oder mit sonstigen Einkünften, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmte:
„Führt der Bezug von Leistungen unterschiedlicher Art oder von sonstigen Einkünften gleichzeitig zur Kürzung, zum Ruhen oder zur Entziehung von zwei oder mehr Leistungen nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer i), so werden Beträge, die bei strenger Anwendung der in den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten vorgesehenen Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen nicht ausgezahlt werden, durch die Zahl der zu kürzenden, zum Ruhen zu bringenden oder zu entziehenden Leistungen geteilt.“
Rz. 5
Art. 46c war durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. 1992, L 136, S. 7) in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügt worden. In den Erwägungsgründen 16 und 22 der Verordnung Nr. 1248/92 hieß es:
„Zum Schutz der wandernden Erwerbspersonen und ihrer Hinterbliebenen gegen eine allzu strikte Anwendung der einzelstaatlichen Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsvorschriften ist es erforderlich, in die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eine Bestimmung aufzunehmen, in der die Anwendung dieser ...