Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Grenzen, Asyl und Einwanderung. Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus. Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus. Gründe. Verurteilung wegen einer schweren Straftat. Bestimmung der Schwere anhand des nach dem nationalen Recht vorgesehenen Strafmaßes. Zulässigkeit. Notwendigkeit einer Einzelfallbeurteilung
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 17
Beteiligte
Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal |
Tenor
Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ist dahin auszulegen, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ausschließlich anhand des Strafmaßes, das für eine bestimmte Straftat nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist, davon ausgegangen wird, dass die Person, die einen Antrag auf subsidiären Schutz gestellt hat, „eine schwere Straftat” im Sinne dieser Bestimmung begangen hat, derentwegen sie von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen werden kann. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörde bzw. des zuständigen nationalen Gerichts, die oder das über den Antrag auf subsidiären Schutz entscheidet, die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen, wobei eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 29. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 2017, in dem Verfahren
Shajin Ahmed
gegen
Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas (Berichterstatter), der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Shajin Ahmed, vertreten durch G. Győző, ügyvéd,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Brabcová als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Armoët, E. de Moustier und D. Colas als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. H. S. Gijzen und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Shajin Ahmed, einem afghanischen Staatsangehörigen, und dem Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Amt für Einwanderung und Asyl, Ungarn), vormals: Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal (Amt für Einwanderung und Staatsangehörigkeit, Ungarn) (im Folgenden: Amt), wegen der Zurückweisung des von Herrn Ahmed gestellten Antrags auf internationalen Schutz durch das Amt.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft und wurde ergänzt und geändert durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat.
Rz. 4
Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert in Abschnitt A zunächst u. a. den Begriff „Flüchtling” und sieht sodann in Abschnitt F vor:
„Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,
- dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen haben, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezü...