Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Leiharbeit. Gleichbehandlung. Erforderliche Maßnahmen, um einen missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit zu verhindern. Verpflichtung der Mitgliedstaaten, aufeinanderfolgende Überlassungen zu verhindern. Keine Beschränkungen in der nationalen Regelung. Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung
Normenkette
Richtlinie 2008/104/EG Art. 5 Abs. 5
Beteiligte
Tenor
Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die die Zahl aufeinanderfolgender Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen nicht beschränkt und die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Arbeitnehmerüberlassung nicht von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe für den Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung abhängig macht. Dagegen ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren, und einer nationalen Regelung entgegensteht, die keine Maßnahmen vorsieht, um aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen mit dem Ziel, die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 insgesamt zu umgehen, zu verhindern.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale ordinario di Brescia (Gericht von Brescia, Italien) mit Entscheidung vom 16. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2018, in dem Verfahren
JH
gegen
KG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter A. Kumin (Berichterstatter), T. von Danwitz und P. G. Xuereb,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von JH, vertreten durch A. Carbonelli, avvocato,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Rocchitta, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch M. van Beek und C. Zadra, dann durch M. van Hoof als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 23. April 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JH und KG wegen der Klage von JH, einem Leiharbeitnehmer, der KG überlassen wurde, auf Feststellung, dass er aufgrund insbesondere der Überschreitung der nach nationalem Recht zugelassenen Höchstzahl von Verlängerungen von Leiharbeitsverträgen bei KG unbefristet beschäftigt ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 10 bis 12 und 15 der Richtlinie 2008/104 lauten:
„(10) In Bezug auf die Inanspruchnahme der Leiharbeit sowie die rechtliche Stellung, den Status und die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer lassen sich innerhalb der Union große Unterschiede feststellen.
(11) Die Leiharbeit entspricht nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren. Sie trägt somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt bei.
(12) Die vorliegende Richtlinie legt einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer fest und wahrt gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen.
…
(15) Unbefristete Arbeitsverträge sind die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses. Im Falle von Arbeitnehmern, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen geschlossen haben, sollte angesichts des hierdurch gegebenen besonderen Schutzes die Möglichkeit vorgesehen werden, von den im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln abzuweichen.”
Rz. 4
Art. 1 („Anwendungsbereich”) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten.”
Rz. 5
Art. 2 („Ziel”) dieser Richtlinie sieht vor:
„Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und di...