Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Kapitalverkehr. Kapitalverkehr mit Drittstaaten im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen. Auf einem schweizerischen Bankkonto gehaltene finanzielle Vermögenswerte. Nachforderungsbescheid. Nachforderungsfrist. Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats
Normenkette
AEUV Art. 64
Beteiligte
Staatssecretaris van Financiën |
Tenor
1. Art. 64 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er auf eine nationale Regelung Anwendung findet, die eine Beschränkung des von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehrs vorschreibt, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist, selbst wenn diese Beschränkung auch in Fällen angewandt werden kann, die nichts mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben.
2. Die Eröffnung eines Wertpapierkontos durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person bei einem Bankinstitut außerhalb der Union wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende fällt unter den Begriff des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 64 Abs. 1 AEUV.
3. Die den Mitgliedstaaten durch Art. 64 Abs. 1 AEUV zuerkannte Möglichkeit, Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen anzuwenden, gilt auch für Beschränkungen, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 10. April 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2015, in dem Verfahren
X
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters C. Vajda (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der niederländischen Regierung, vertreten durch L. Noort, K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und T. Henze als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. M. de Socio, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und C. Soulay als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 64 Abs. 1 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, einer natürlichen Person, und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) wegen Bescheiden über die Nachforderung von Einkommensteuer und Steuer auf Sozialversicherungsprämien für die Steuerjahre 1998 bis 2006.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrags [dieser Artikel wurde durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben] (ABl. 1988, L 178, S. 5) lautet:
„Unbeschadet der nachstehenden Bestimmungen beseitigen die Mitgliedstaaten die Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Gebietsansässigen in den Mitgliedstaaten. Zur Erleichterung der Durchführung dieser Richtlinie wird der Kapitalverkehr entsprechend der Nomenklatur in Anhang I gegliedert.”
Rz. 4
Zu dem in Anhang I der Richtlinie 88/361 aufgeführten Kapitalverkehr gehören die in Rubrik VI genannten „Kontokorrent- und Termingeschäfte mit Finanzinstitutionen”, die u. a. „Geschäfte von Gebietsansässigen mit ausländischen Finanzinstitutionen” umfassen.
Niederländisches Recht
Rz. 5
In Art. 16 der Algemene Wet inzake Rijksbelastingen (Allgemeines Gesetz über die staatlichen Steuern, im Folgenden: AWR) heißt es:
„(1) Gibt ein Umstand Anlass zu der Annahme, dass zu Unrecht keine Steuer oder ein zu geringer Steuerbetrag festgesetzt worden ist, … kann der Inspektor die nicht erhobenen Steuern nachfordern. …
…
(3) Die Befugnis zum Erlass eines Nachforderungsbescheids erlischt fünf Jahre nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld. …
(4) Ist ein Bestandteil des Steuergegenstands, der sich im Ausland befindet oder dort aufgetreten ist, zu gering besteuert worden, erlischt die Befugnis zum Erlass eines Nachforderungsbescheids abweichend von Abs. 3 Satz 1 zwölf Jahre nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld.”
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 6
Im Mai 2002 wurde ein Verstoß gegen die Wet toezicht effectenverkeer (Ges...