Entscheidungsstichwort (Thema)
Umwelt. Richtlinie 96/82/EG. Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen. Verhütung. Angemessener Abstand zwischen öffentlich genutzten Gebieten und Betrieben, in denen große Mengen gefährlicher Stoffe vorhanden sind
Beteiligte
Tenor
1. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen in der durch die Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass langfristig dem Erfordernis Rechnung getragen wird, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und öffentlich genutzten Gebäuden andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt, auch von einer Behörde wie der für die Erteilung von Baugenehmigungen zuständigen Stadt Darmstadt (Deutschland) zu beachten ist, und zwar auch dann, wenn sie in Ausübung dieser Zuständigkeit eine gebundene Entscheidung zu erlassen hat.
2. Die in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82 in der durch die Richtlinie 2003/105 geänderten Fassung vorgesehene Verpflichtung, langfristig dem Erfordernis Rechnung zu tragen, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und öffentlich genutzten Gebäuden andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt, schreibt den zuständigen nationalen Behörden nicht vor, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Ansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes zu verbieten. Dagegen steht diese Verpflichtung nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen eine Genehmigung für die Ansiedlung eines solchen Gebäudes zwingend zu erteilen ist, ohne dass die Risiken der Ansiedlung innerhalb der genannten Abstandsgrenzen im Stadium der Planung oder der individuellen Entscheidung gebührend gewürdigt worden wären.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 3. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Februar 2010, in dem Verfahren
Land Hessen
gegen
Franz Mücksch OHG,
Beteiligte:
Merck KGaA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) sowie der Richter J.-J. Kasel, M. Ilešič, E. Levits und M. Safjan,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Franz Mücksch OHG, vertreten durch Rechtsanwalt S. Kobes,
- der Merck KGaA, vertreten durch Rechtsanwalt C. Weidemann,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und A. Sipos als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 14. April 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (ABl. 1997, L 10, S. 13) in der durch die Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 (ABl. L 345, S. 97) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 96/82).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Land Hessen und der Franz Mücksch OHG (im Folgenden: Mücksch) über die Errichtung eines Gartencenters durch Letztere in der Nähe einer Chemiefabrik der Merck KGaA (im Folgenden: Merck) in einem unter die Richtlinie 96/82 fallenden Gebiet.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 96/82 wird ausgeführt:
„Nach den in Artikel [174] Absätze 1 und 2 [EG] verankerten und in den Aktionsprogrammen der Europäischen Gemeinschaft für den Umweltschutz … erläuterten Zielen und Grundsätzen der Umweltpolitik der Gemeinschaft geht es insbesondere darum, durch vorbeugende Maßnahmen die Qualität der Umwelt zu erhalten und die Gesundheit des Menschen zu schützen.”
Rz. 4
Der 22. Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet:
„Damit Wohngebiete, öffentlich genutzte Gebiete und unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes besonders wertvolle bzw. besonders empfindliche Gebiete besser vor den Gefahren schwerer Unfälle geschützt werden können, müssen die Mitgliedstaaten in ihren Politiken hinsichtlich der Zuweisung oder Nutzung von Flächen und/oder anderen einschlägigen Politiken berücksichtigen, dass langfristig zwischen diesen Gebieten und gefährlichen Industrieansiedlungen ein angemessener Abstand gewahrt bleiben muss und dass bei bestehenden Betrieben ergänzende technische Maßnahmen vorgesehen werden, damit es zu keiner stärkeren Gefährdung der Bevölkerung kommt.”
Rz. 5
Art. 1 der Richtlinie 96/82 bestimmt unter der Übe...