Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittel. Staatliche Beihilfen. Ungarische Steuer auf Umsätze aus der Verbreitung von Werbung. Anhaltspunkte für die Bestimmung des Referenzsystems. Progression der Steuersätze. Übergangsregelung zur teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste. Vorliegen eines selektiven Vorteils. Beweislast
Normenkette
AEUV Art. 107 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten einschließlich der Kosten, die der Republik Polen entstanden sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 6. August 2019,
Europäische Kommission, vertreten durch V. Bottka, P.-J. Loewenthal und K. Herrmann als Bevollmächtigte,
Klägerin,
andere Parteien des Verfahrens:
Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
Kläger im ersten Rechtszug,
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
Streithelferin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev, E. Regan, A. Kumin und N. Wahl, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, P. G. Xuereb und N. Jääskinen,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. September 2020,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. Oktober 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Europäische Kommission die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 27. Juni 2019, Ungarn/Kommission (T-20/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2019:448), mit dem das Gericht den Beschluss (EU) 2017/329 der Kommission vom 4. November 2016 über die Maßnahme SA.39235 (2015/C) (ex 2015/NN) Ungarns bezüglich der Besteuerung von Werbeumsätzen (ABl. 2017, L 49, S. 36) (im Folgenden: streitiger Beschluss) für nichtig erklärt hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Rz. 2
Das Gericht hat die Vorgeschichte des Rechtsstreits in den Rn. 1 bis 32 des angefochtenen Urteils dargestellt. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Rz. 3
Am 11. Juni 2014 erließ Ungarn das Gesetz Nr. XXII von 2014 über die Werbesteuer (im Folgenden: Werbesteuergesetz). Mit dem Gesetz, das am 15. August 2014 in Kraft trat, wurde eine neue Sondersteuer mit progressiv gestaffelten Steuersätzen auf Einkünfte eingeführt, die in Ungarn mit der Verbreitung von Werbung erzielt werden (im Folgenden: fragliche steuerliche Maßnahme). Während der von der Kommission durchgeführten beihilferechtlichen Prüfung des Werbesteuergesetzes erklärten die ungarischen Behörden, Ziel dieser Steuer sei es, den Grundsatz der Verteilung öffentlicher Lasten zu fördern.
Rz. 4
Nach diesem Gesetz unterliegt der fraglichen steuerlichen Maßnahme, wer Werbung verbreitet. Steuerpflichtig sind somit Wirtschaftsteilnehmer, die Werbung verbreiten, wie etwa die Herausgeber von Printmedien und audiovisuellen Medien oder die Anzeigendienste, jedoch weder die Inserenten (also diejenigen, die die Werbeanzeigen in Auftrag geben) noch die Werbeagenturen, die als Vermittler zwischen den Inserenten und den Werbungsverbreitern fungieren. Bemessungsgrundlage der fraglichen steuerlichen Maßnahme ist der mit der Verbreitung von Werbung in einem Geschäftsjahr erzielte Nettoumsatz. Sie wird neben bestehenden Unternehmensteuern, insbesondere der Körperschaftsteuer, erhoben. Ihr räumlicher Geltungsbereich ist Ungarn.
Rz. 5
Der Steuertarif der fraglichen steuerlichen Maßnahme wurde wie folgt festgelegt:
- 0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 0,5 Mrd. ungarische Forint (HUF) (rund 1 400 000 Euro);
- 1 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 0,5 und 5 Mrd. HUF (rund 14 Mio. Euro);
- 10 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 5 und 10 Mrd. HUF (rund 28 Mio. Euro);
- 20 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 10 und 15 Mrd. HUF (rund 42 Mio. Euro);
- 30 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 15 und 20 Mrd. HUF (rund 56 Mio. Euro);
- 40 % für den über dem letztgenannten Betrag liegenden Teil der Bemessungsgrundlage; dieser Steuersatz wurde ab dem 1. Januar 2015 auf 50 % angehoben.
Rz. 6
Das Werbesteuergesetz sah ferner vor, dass Steuerpflichtige, deren Gewinn im Geschäftsjahr 2013 vor Steuern gleich null oder negativ war, vorgetragene Verluste früherer Geschäftsjahre in Höhe von 50 % von ihrer Bemessungsgrundlage für 2014 abziehen konnten (im Folgenden: Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste).
Rz. 7
Mit Beschluss vom 12. März 2015 leitete die Kommission das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV ein, wobei sie den progressiven Charakter der fraglichen steuerlichen Maßnahme und den Mechanismu...