Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Richtlinie 96/34/EG. Rahmenvereinbarung über Elternurlaub. Auslegung von Paragraf 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung. Inhaber des Rechts auf Elternurlaub. Elternurlaub bei der Geburt von Zwillingen. Begriff ‚Geburt’. Berücksichtigung der Zahl der geborenen Kinder. Grundsatz der Gleichbehandlung
Beteiligte
Tenor
1. Paragraf 2 Nr. 1 der am 14. Dezember 1995 geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub im Anhang der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung in der durch die Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 geänderten Fassung kann nicht dahin ausgelegt werden, dass er einem Kind ein individuelles Recht auf Elternurlaub verleiht.
2. Paragraf 2 Nr. 1 dieser Rahmenvereinbarung ist nicht dahin auszulegen, dass die Geburt von Zwillingen ein Recht auf eine der Zahl der geborenen Kinder entsprechende Zahl von Elternurlauben eröffnet. Im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung verpflichtet dieser Paragraf den nationalen Gesetzgeber jedoch, ein System des Elternurlaubs zu schaffen, das entsprechend der im betreffenden Mitgliedstaat bestehenden Situation Eltern von Zwillingen eine Behandlung gewährleistet, die ihren besonderen Bedürfnissen gebührend Rechnung trägt. Es ist Sache des nationalen Richters, zu prüfen, ob die nationale Regelung diesem Erfordernis entspricht, und diese nationale Regelung gegebenenfalls so weit wie möglich im Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Dioikitiko Efeteio Thessalonikis (Griechenland) mit Entscheidung vom 15. März 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2010, in dem Verfahren
Zoi Chatzi
gegen
Ypourgos Oikonomikon
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter E. Levits, M. Ilešič und M. Safjan sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des Beschlusses des Präsidenten vom 12. Mai 2010, das Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Apessos, E.-M. Mamouna, G. Papagianni und G. Papadaki als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch C. Blaschke als Bevollmächtigten,
- der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
- der zyprischen Regierung, vertreten durch D. Kallí als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar und J. Faldyga als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch E. Jenkinson und R. Palmer als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Patakia und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Generalanwältin
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Paragraf 2 Nr. 1 der am 14. Dezember 1995 geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub (im Folgenden: Rahmenvereinbarung) im Anhang der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung (ABl. L 145, S. 4) in der durch die Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 (ABl. 1998, L 10, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 96/34).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Chatzi und ihrem Dienstherrn, dem Ypourgos Oikonomikon (Finanzministerium), über eine Entscheidung des Direktors des Finanzamts Nr. 1 Thessaloniki (Griechenland), ihr keinen zusätzlichen Elternurlaub wegen der Geburt von Zwillingen zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Richtlinie 96/34 wurde gemäß dem Verfahren nach Art. 4 Abs. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik im Anhang des Protokolls Nr. 14 über die Sozialpolitik, das dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (im Folgenden: Abkommen über die Sozialpolitik) mit dem Vertrag über die Europäische Union beigefügt worden war, erlassen.
Rz. 4
Der erste Absatz der Präambel der Rahmenvereinbarung, die mit der Richtlinie 96/34 durchgeführt wird, lautet:
„Die nachstehende Rahmenvereinbarung stellt ein Engagement von UNICE, CEEP und EGB im Hinblick auf Mindestvorschriften für den Elternurlaub und für das Fernbleiben von der Arbeit aus Gründen höherer Gewalt dar, weil sie dies als ein wichtiges Mittel ansehen, Berufs- und Familienleben zu vereinbaren und Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern.”
Rz. 5
Die Nrn. 4 bis 6 und 9 der Allgemeinen Erwägungen dieser Rah...