Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Zulässigkeit. Kapitalverkehrsfreiheit. Vorliegen einer Beschränkung. Beweislast. Mit der Herkunft des Kapitals verknüpfte mittelbare Diskriminierung. Recht auf Vereinigungsfreiheit. Nationale Regelung, mit der Vereinigungen, die finanzielle Unterstützung aus anderen Mitgliedstaaten oder Drittstaaten erhalten, sanktionsbewehrte Registrierungs-, Melde- und Offenlegungspflichten auferlegt werden. Recht auf Achtung des Privatlebens. Recht auf Schutz personenbezogener Daten. Nationale Regelung, die vorschreibt, Informationen über Personen, die Vereinigungen finanziell unterstützen, und über die Höhe dieser Unterstützung zu verbreiten. Rechtfertigung. Zwingender Grund des Allgemeininteresses. Transparenz der Finanzierung von Vereinigungen. Öffentliche Ordnung. Öffentliche Sicherheit. Bekämpfung der Geldwäsche, der Terrorismusfinanzierung und der organisierten Kriminalität
Normenkette
AEUV Art. 63, 65; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7, 8 Abs. 1, Art. 52 Abs. 1, Art. 12
Beteiligte
Tenor
1. Ungarn hat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV sowie den Art. 7, 8 und 12 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen, indem es durch den Erlass von Bestimmungen des A külföldről támogatott szervezetek átláthatóságáról szóló 2017. évi LXXVI. törvény (Gesetz Nr. LXXVI von 2017 über die Transparenz von aus dem Ausland unterstützten Organisationen), mit denen einigen Kategorien von Organisationen der Zivilgesellschaft, und zwar solchen, die unmittelbar oder mittelbar ausländische Unterstützung in einer einen bestimmten Schwellenwert überschreitenden Höhe erhalten, Registrierungs-, Melde- und Offenlegungspflichten auferlegt werden und die vorsehen, dass gegen Organisationen, die diesen Pflichten nicht nachkommen, Sanktionen verhängt werden können, diskriminierende und ungerechtfertigte Beschränkungen für ausländische Spenden an Organisationen der Zivilgesellschaft eingeführt hat.
2. Ungarn trägt die Kosten.
3. Das Königreich Schweden trägt seine eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 6. Februar 2018,
Europäische Kommission, zunächst vertreten durch V. Di Bucci, L. Havas, L. Malferrari und K. Talabér-Ritz, dann durch V. Di Bucci, L. Havas und L. Malferrari als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
Königreich Schweden, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz und H. Shev als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan und S. Rodin, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský (Berichterstatter), D. Šváby und N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Oktober 2019,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage begehrt die Europäische Kommission die Feststellung, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV sowie den Art. 7, 8 und 12 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, indem es durch den Erlass von Bestimmungen des A külföldről támogatott szervezetek átláthatóságáról szóló 2017. évi LXXVI. törvény (Gesetz Nr. LXXVI von 2017 über die Transparenz von aus dem Ausland unterstützten Organisationen, im Folgenden: Transparenzgesetz), mit denen einigen Kategorien von Organisationen der Zivilgesellschaft, und zwar solchen, die unmittelbar oder mittelbar ausländische Unterstützung in einer einen bestimmten Schwellenwert überschreitenden Höhe erhalten, Registrierungs-, Melde- und Offenlegungspflichten auferlegt werden und die vorsehen, dass gegen Organisationen, die diesen Pflichten nicht nachkommen, Sanktionen verhängt werden können, diskriminierende, ungerechtfertigte und nicht erforderliche Beschränkungen für ausländische Spenden an Organisationen der Zivilgesellschaft eingeführt hat.
I. Ungarisches Recht
A. Transparenzgesetz
Rz. 2
In der Präambel des Transparenzgesetzes heißt es unter anderem, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft „zur demokratischen Kontrolle und öffentlichen Debatte über öffentliche Angelegenheiten bei[tragen]”, dass ihnen „eine entscheidende Rolle bei der öffentlichen Meinungsbildung” zukommt und dass ihre „Transparenz … von erheblichem öffentlichem Interesse” ist.
Rz. 3
In der Präambel heißt es weiter, dass die den Organisationen der Zivilgesellschaft „aus unbekannten ausländischen Quellen zufließende Unterstützung … dazu geeignet sein [kann], dass ausländische Interesse...