Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Marken. Verwirkung durch Duldung. Begriff der Duldung. Unterbrechung der Verwirkungsfrist. Abmahnung. Zeitpunkt der Unterbrechung der Verwirkungsfrist bei Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs. Wirkungen der Verwirkung. Ansprüche auf Schadensersatz, Auskunft und Vernichtung von Waren
Normenkette
Richtlinie 2008/95/EG Art. 9; Verordnung (EG) Nr. 207/2009 Art. 54, 110-111
Beteiligte
Nachgehend
Tenor
1. Art. 9 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken sowie die Art. 54, 110 und 111 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke sind dahin auszulegen, dass eine Handlung – wie z. B. eine Abmahnung –, mit der sich der Inhaber einer älteren Marke oder eines sonstigen älteren Rechts der Benutzung einer jüngeren Marke widersetzt, ohne jedoch die für die Herbeiführung einer rechtsverbindlichen Lösung notwendigen Schritte zu unternehmen, die Duldung nicht beendet und dementsprechend nicht die Verwirkungsfrist im Sinne dieser Bestimmungen unterbricht.
2. Art. 9 der Richtlinie 2008/95 sowie die Art. 54, 110 und 111 der Verordnung Nr. 207/2009 sind dahin auszulegen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs, mit dem der Inhaber einer älteren Marke oder eines sonstigen älteren Rechts die Nichtigerklärung einer jüngeren Marke begehrt oder sich deren Benutzung widersetzt, die Verwirkung durch Duldung im Sinne dieser Bestimmungen verhindert, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück zwar vor Ablauf der Verwirkungsfrist eingereicht wurde, aber aufgrund mangelnder Sorgfalt des Rechtsbehelfsführers nicht die Anforderungen des nationalen Rechts erfüllte, die für die Zwecke der Zustellung gelten, und die Mängel aus Gründen, die dem Rechtsbehelfsführer zuzurechnen sind, erst nach Ablauf der Verwirkungsfrist behoben wurden.
3. Art. 9 der Richtlinie 2008/95 sowie die Art. 54, 110 und 111 der Verordnung Nr. 207/2009 sind dahin auszulegen, dass der Inhaber einer älteren Marke oder eines sonstigen älteren Rechts im Sinne dieser Bestimmungen bei Verwirkung seines Anspruchs auf Nichtigerklärung einer jüngeren Marke und auf Unterlassung ihrer Benutzung durch die Verwirkung auch daran gehindert ist, Neben- oder Folgeansprüche wie Ansprüche auf Schadensersatz, auf Auskunft oder auf Vernichtung von Waren zu erheben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 25. September 2020, in dem Verfahren
HEITEC AG
gegen
HEITECH Promotion GmbH,
RW
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richter S. Rodin und J.-C. Bonichot sowie der Richterinnen L. S. Rossi und O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der HEITEC AG, vertreten durch Rechtsanwältin B. Ackermann,
- der HEITECH Promotion GmbH und von RW, vertreten durch Rechtsanwälte C. Rohnke, T. Winter und C. Augenstein,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch T. Scharf, É. Gippini Fournier und J. Samnadda, dann durch T. Scharf und J. Samnadda als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Januar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2008, L 299, S. 25) sowie der Art. 54 und 111 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 2009, L 78, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der HEITEC AG (im Folgenden: Heitec) einerseits und der HEITECH Promotion GmbH (im Folgenden: Heitech) sowie RW andererseits wegen der Verwendung des Unternehmenskennzeichens HEITECH Promotion GmbH und der Benutzung von Marken mit dem Wortbestandteil „heitech” durch die Letztgenannten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2008/95
Rz. 3
Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/95 lautete:
„Aus Gründen der Rechtssicherheit und ohne in die Interessen der Inhaber älterer Marken in unangemessener Weise einzugreifen, muss vorgesehen werden, dass diese nicht mehr die Ungültigerklärung einer jüngeren Marke beantragen oder sich deren Benutzung widersetzen können, wenn sie deren Benutzung während einer längeren Zeit geduldet haben, es sei denn, dass die Anmeldung der jüngeren Marke bösgläubig vorgenommen worden ist.”
Rz. 4
Art. 4 dieser Richtlinie („Weitere Eintr...