Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Niederlassungsfreiheit. Selbständige Erwerbstätigkeit. Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die ihre selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgegeben hat. Aufrechterhaltung der Eigenschaft als Selbständige
Normenkette
AEUV Art. 49
Beteiligte
Tenor
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes diese Tätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere selbständige Tätigkeit oder Beschäftigung findet.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Administrative Appeals Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Berufungskammer für Verwaltungssachen], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 7. August 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 20. August 2018, in dem Verfahren
Her Majesty's Revenue and Customs
gegen
Henrika Dakneviciute
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter D. Šváby, S. Rodin und N. Piçarra,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juni 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Dakneviciute, vertreten durch T. Holdcroft, Advocate, sowie durch D. Rutledge und A. Berry, Barristers,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und Z. Lavery im Beistand von G. Ward, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, L. Armati und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Her Majesty's Revenue and Customs (Steuer- und Zollbehörde, Vereinigtes Königreich) und Frau Henrika Dakneviciute wegen der Weigerung dieser Behörde, ihr eine wöchentliche Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/38/EG
Rz. 3
Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) lautet:
„Diese Richtlinie regelt
a) die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen”.
Rz. 4
Art. 7 „Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate”) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 3 vor:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist …
…
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
- Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;
- er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;
- er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;
…”
Rz. 5
Art. 16 Abs. 1 und 3 der genannten Richtlinie bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. …
…
(3) Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Stu...