Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Öffentliche Lieferaufträge. Projekt, das durch den Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen finanziert wird. Kriterien für die Auswahl der Bieter. Erfordernis einer Registrierung oder einer von der nationalen Behörde für Lebensmittelsicherheit des Staates der Ausführung des Auftrags erteilten Zulassung
Normenkette
Richtlinie 2004/18/EG Art. 2, 46; Verordnung (EG) Nr. 852/2004 Art. 6
Beteiligte
Riigi Tugiteenuste Keskus |
Riigi Tugiteenuste Keskus |
Tenor
1. Die Art. 2 und 46 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der öffentliche Auftraggeber in einer Bekanntmachung als qualitatives Auswahlkriterium verlangen muss, dass die Bieter bereits bei Abgabe ihres Angebots den Nachweis erbringen, dass sie über eine Registrierung oder eine Zulassung verfügen, die nach den Vorschriften erforderlich ist, die für die Tätigkeit, die Gegenstand des betreffenden öffentlichen Auftrags ist, gelten, und die von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats der Ausführung des Auftrags erteilt wurde, auch wenn sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie niedergelassen sind, bereits über eine entsprechende Registrierung oder Zulassung verfügen.
2. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist dahin auszulegen, dass er nicht von einem öffentlichen Auftraggeber geltend gemacht werden kann, der im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zur Einhaltung der nationalen Vorschriften des Lebensmittelrechts von den Bietern verlangt hat, dass sie bereits bei Abgabe ihres Angebots über eine Registrierung oder eine Zulassung durch die zuständige Behörde des Mitgliedstaats der Auftragsausführung verfügen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tallinna Ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn, Estland) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Januar 2020, in dem Verfahren
Sotsiaalministeerium
gegen
Riigi Tugiteenuste Keskus, vormals Innove SA,
Beteiligte:
Rahandusministeerium,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra, D. Šváby (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
- der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Ondrůšek, W. Farrell, L. Haasbeek und E. Randvere als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Januar 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 46 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114, berichtigt in ABl. 2004, L 351, S. 44) sowie den Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Sotsiaalministeerium (Sozialministerium, Estland) und dem Riigi Tugiteenuste Keskus (Zentrum für Unterstützungsdienste des Staates), vormals Innove SA, wegen des Finanzkorrekturbeschlusses, mit dem Letztere bestimmte Zahlungsanträge, die das Ministerium im Rahmen eines Projekts über den Ankauf und die Verteilung von Lebensmittelhilfe für die am stärksten benachteiligten Personen eingereicht hatte, abgelehnt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/18
Rz. 3
In 42. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 heißt es:
„Soweit für die Teilnahme an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags oder an einem Wettbewerb der Nachweis einer bestimmten Qualifikation gefordert wird, sind die einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften über die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen anzuwenden.”
Rz. 4
Art. 2 („Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen”) dieser Richtlinie bestimmt:
„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.”
Rz. 5
Art. 26 („Bedingungen für die Auftragsausführung”) dieser Richtlinie sieht vor:
„Die öffentlichen Auftraggeber können zusätzliche Bedingungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen angegeben werden. Die Bedingungen für die Ausführung eines Auftrags können insbesondere soziale und umweltbezogene Aspekte betreffen.”
Rz. 6
Kapitel VII („Ablauf des Verfahrens”) des Titels II der ...