Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Wirkung der Übergabe. Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten. Grundsatz der Spezialität
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 27
Beteiligte
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof |
Tenor
Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten Europäischen Haftbefehls die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2020, in dem Strafverfahren gegen
XC,
Beteiligter:
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter S. Rodin (Berichterstatter) und D. Šváby, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 21. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2020, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Vierten Kammer vom 25. Mai 2020, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von XC, vertreten durch Rechtsanwälte M. Franzikowski und F. S. Fülscher,
- des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, vertreten durch P. Frank und S. Heine als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und F. Halabi als Bevollmächtigte,
- [berichtigt durch Beschluss vom 14. Oktober 2020] von Irland, vertreten durch J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, SC,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. August 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen XC, der in Deutschland wegen einer im Jahr 2005 in Portugal begangenen schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 5 und 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:
„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlus...