Leitsatz (amtlich)
Wird vor der Anordnung einer vorläufigen Unterbringungsmaßnahme von der Anhörung des Betroffenen und der Bestellung eines Verfahrenspflegers wegen Gefahr im Verzug abgesehen, ist darauf abzustellen, dass die Unterbringungsmaßnahme wegen drohender Nachteile für den Betroffenen oder (bei der öffentlich-rechtlichen Unterbringung) für Dritte so dringend ist, dass keine Zeit für eine vorherige Anhörung verbleibt. Im Falle einer vorläufigen behördlichen Unterbringung kann sich dies aus dem drohenden Ablauf der Frist nach § 26 Abs. 1 PsychKG ergeben. Bei den unverzüglich nachzuholenden Verfahrenshandlungen gemäß §§ 70h, 69f Abs. 1 S. 4 FGG kann es keine Rolle spielen, wann der nächste routinemäßige Anhörungstag des Richters in der Unterbringungseinrichtung stattfindet. Von der Einholung eines Gutachtens gemäß § 70 e FGG hat das Gericht den Betroffenen bereits vor der Untersuchung oder Befragung durch den Sachverständigen zu unterrichten. Soll der behandelnde Arzt als Sachverständiger das Gutachten erstatten, so muss der Betroffene bei der Befunderhebung wissen, dass dieser ihm als Sachverständiger gegenübertritt (Fortführung von Senat, Beschluss vom 28. November 2006 - 1 W 279/06 -, OLG-Report 2007, 332 = R&U 2007, 84 = FamRZ 2007, 1043 = BtPrax 2007, 137). Das zur Gewährung des rechtlichen Gehörs erforderliche Schlussgespräch, §§ 70c S. 5, 68 Abs. 5 FGG, setzt voraus, dass der Betroffene Gelegenheit hat, sich mit dem Gutachten des Sachverständigen auseinander zu setzen. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn der Betroffene im ersten Anhörungstermin durch die Erstattung des mündlichen Gutachtens ohne vorherige Ankündigung überfordert ist.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 13.02.2007; Aktenzeichen 83 T XIV 45/06 L) |
LG Berlin (Entscheidung vom 13.02.2007; Aktenzeichen 83 T XIV 43/06 L) |
AG Berlin-Tempelhof (Entscheidung vom 23.05.2006; Aktenzeichen 52 XIV 40/06 L) |
AG Berlin-Tempelhof (Entscheidung vom 19.05.2006) |
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Anordnung der Unterbringung des Betroffenen durch die Beschlüsse des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg vom 19. Mai 2006 und vom 23. Mai 2006 - 52 XIV 40/2006 L - rechtswidrig war.
Gründe
I.
Die mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 19. und 23. Mai 2006 angeordneten Unterbringung eingelegte sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen ist zulässig, §§ 13 PsychKGBerlin, 70 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 70g Abs. 3, 70m Abs. 1, 22, 27, 29 FGG. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Das Rechtsschutzinteresse des Betroffenen ist nicht durch seine zwischenzeitliche Entlassung entfallen. Die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Unterbringungsmaßnahme ist möglich. Art. 19 Abs. 4 GG gebietet die Annahme eines Rechtsschutzinteresses in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe, in denen sich eine direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Eine Unterbringungsmaßnahme ist ein tief greifender Grundrechtseingriff (BVerfG, NJW 1998, 2432 ff; BVerfGE 104, 220 ff). Aufgrund der zunächst bis zum 6. Juni 2006 vorläufig und der dann bis zum 13. Juni 2006 im Hauptsacheverfahren angeordneten Unterbringung konnte der Betroffene auch keine Entscheidung in den von der Verfahrensordnung vorgegebenen Instanzen erreichen (vgl. Senat, Beschluss vom 23. Mai 2000 - 1 W 2749/00, FGPrax 2000, 213f.), zumal der Beschluss vom 23. Mai 2006 bereits am 1. Juni 2006 wieder aufgehoben wurde.
II.
Die sofortige weitere Beschwerde ist sowohl hinsichtlich der im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgten Unterbringung (dazu nachfolgend unter 1.) als auch hinsichtlich der im Hauptsacheverfahren getroffenen Anordnung (dazu nachfolgend unter 2.) begründet.
1.
Die durch den Beschluss des Vormundschaftsgerichts vom 19. Mai 2006 angeordnete vorläufige Unterbringung des Betroffenen war rechtswidrig.
a)
Nach §§ 70h Abs. 1, 69f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 FGG kann durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme getroffen werden, wenn dringende Gründe im Sinne einer erheblichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayObLGZ 2000, 220 ff; Marschner, in: Jürgens, Betreuungsrecht, 3. Aufl., § 70h FGG, Rdn. 3) für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für eine endgültige Unterbringung gegeben sind und mit dem Aufschub Gefahr verbunden wäre sowie die weiteren in § 69f Abs. 1 S. 1 Nr. 2 bis 4 FGG genannten Voraussetzungen vorliegen. Die freiheitsentziehende Unterbringung nach dem in Berlin geltenden Gesetz für psychisch Kranke (PsychKG) ist eine Unterbringungsmaßnahme im Sinne des § 70h Abs. 1 FGG, vgl. § 70 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 FGG. Sieht das Vormundschaftsgericht, wie hier, vor Erlass der einstweiligen Anordnung von der Bestellung eines Verfahrenspflegers und der persönlichen Anhörung des Betroffenen ab, so ist dies nur bei Gefahr im Verzu...